Donnerstag, 21. September 1989

Politik-Darsteller: Verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit den Mächtigen dieser Republik








Windmachen zu Lande und zu Luft, Sitzfleisch kultivieren zum Überdruss, Smoking-Auftritte in erlesenen Gesellschaften - nichts ist erfolgreicher als der Erfolg
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Keine normale Figur
in der Hütte
Athenäum Verlag
Frankfurt am Main
21. September 1989
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von Reimar Oltmanns
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"Parteifunktionäre und Berufspolitiker", urteilt der US-amerikanische Soziologe Gerhard Lenski in seinem 1966 erschienenen Buch "Macht und Privileg", "zeichnen sich durch eine einzigartige Qualität aus, als eine innerhalb von zwei Klassensystemen gleichzeitig." Der Klasse Politiker-Hauptstadt-Klasse und der Parteiklasse draußen in den Regionen. Reisen in deutsche Provinzen, wie an diesem Abend nach Landau n der Südpfalz versöhnen Bundesminister (1982-1985) und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (1977-1989) gelegentlich. Hier wird ihm unweigerlich bewusst, dass er sich doch auf Seiten der politischen, moralischen und historischen Wahrheit weiß. Eine unteilbare Wahrheit, die ihm einleuchtend erklärt, warum er geworden ist, der er ist.
BRAVO, BRAVO - HELAU, HELAU
Auf dem Vorplatz der Pfalzklinik Landeck driftet der Bundeswehr-Hubschrauber runter. Für die Insassen dieser psychiatrischen Heilanstalt ist die Landung eines solchen olivgrünen Vogels schon ein selten spannender Augenblick in ihrem durch Psychopharmaka dränierten Leben. Einige von ihnen säumen die notdürftig hergerichtete Absperrung. Sie rufen "Bravo, Bravo - "Helau, Helau" - "Hoch lebe der Minister" - "Gott schütze den Minister."
VERRÜCKTER EMPFANG
Der Minister krabbelt ein wenig benommen aus dem Helikopter, hält für einen Moment inne, schnuppert vor sich hin. "Ein verrückter Empfang, wer hat denn das hier organisiert", will er wissen. Hauptstadt Würde, Politiker-Würde sind gefragt.Winkend wendet er sich nun den Scheinwerfern der wartenden Autos zu. Die aufgeregten Neugierigen aus der Klinik stehen unbeholfen Spalier, hoffen in ihrem freundlichen Gejohle vielleicht auf ein "Grüß Gott" vom hohen Herren. Vergebens. Sie bleiben halt dort, wo sie hingehören, wo die Gesellschaft sie hingepackt hat - am Wegesrand. Aber möglicherweise waren es auch auch nur Begrüßungsreflexe an der Südlichen Weinstraße, die Heiner Geißler so unbeholfen dreinschauen ließen. Immerhin wedelt der Minister mit seinen dafür geübten Arm solange, bis er Kautzmann entdeckt, den örtlichen Parteifunktionär.
STABSFELDWEBEL ALS PARTEIFUNKTIONÄR
Kautzmann wirkt untersetzt-geschniegelt. Er könnte gut einen langgedienten Stabsfeldwebel der Bundeswehr abgeben, der sich nach seiner Entlassung "in die freie Wirtschaft" als Sektionschef der Eduscho-Kaffee-Filialen in Rheinland-Pfalz bewährt. Kautzmann entschied sich als "streitbarer Demokrat", freilich sorgsam planend, für die Partei-Demokratie, avancierte in Landau geschwind zum CDU-Geschäftsführer und Stadtrat, hechelte und mauschelte sich vor allem zielstrebig zur
"rechten Hand des Generalsekretärs" im Wahlkreis empor. Er verkörpert sozusagen den Prototyp einer Randpersönlichkeit. Ein Mensch, der seine Lebensmöglichkeit vornehmlich in einflussreiche Beziehungen sucht, daraus seine Stärke bezieht, mit dieser Geschaftlhuberei aber auch steht und fällt.
UNGEKRÖNTE KÖNIG VON LANDAU
Dabei ziert Kautzmann sich genant, wenn Frau Göbel ihn als "einen unbezahlbar-soliden Goldjungen" hätschelt. Seit er in Geißlers engstem Umkreis herumzirkelt, widerfuhr ihm ohnehin eine honorige Aufwertung, nämlich der "ungekrönte König von Landau" zu sein. Schon betrachtet er er "das ehrenvolle Amt des Oberbürgermeisters" als die nächste Stufe. Seine beiden Sekretärinnen halten ihn dagegen für "einen ausgemachten kleinbürgerlichen Arschkriecher", der in Geißlers Abwesenheit "die Mitarbeiter so zusammenscheißt, dass in der Nachbarschaft die Fenster zufliegen", notiere ich mir in meinem Bonner Tagebuch. Nur in Geißlers Beisein "zerfließt er vor devoter ManZierlichkeit und spielt den Anstands-Wauwau".
KUCHEN IM KLEINEN KREIS
Geißlers Eintauchen in Landau geht schon Wochen zuvor eine generalstabsmäßige CDU-Betriebsamkeit à la Kautzmann voraus. Wenn Bonn in Landau weilt, obliegt jeder Schritt Kautzmanns Regie; eine vom örtlichen Parteiapparat organisierte Fremdbestimmung. Er filtert Leute und Schauplätze argwöhnisch durch, ob sie tatsächlich für die Union in der Öffentlichkeit verdaulich sind. Beinahe jede Minute muss durchgeplant, auf Effizienz abgeklopft werden. Die so angebahnten "menschlichen Begebenheiten", etwa das sechste Bürgergespräch "Kuchen im kleinen Kreis", sind Teil der seit Jahren bewährten "Strategie der weichen Welle", befindet Kautzmann in der Pose eines Konzernmanagers. "Harte Konfrontationsgeschichten", fährt er wissend fort, "laufen hier nicht. Der Parlaments-Klamauk führt in Landau häufig zu der Rechenaufgabe: zehn Packen weniger neun Packen." Aber Kautzmann wäre nicht Kautzmann: ans Einpacken will er noch nicht einmal im Suff gedacht haben.
CDU-PAROLE: "TROCKEN BLEIBEN"
Apropos Suff - zumindest heute Abend sollen nach Kautzmanns Gelöbnis die Veranstaltungen trocken durchgezogen werden. Denn nicht jeder Geißler-Aufenthalt ist ja den Hackepetergesichtern gewidmet. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Geißler beim Festkommers der uniformierten und mit Degen bewaffneten Burschenschaftler die Festrede in der Landauer Stadthalle gehalten. Unter dem Motto "Ehre, Freiheit, Vaterland" soffen sich Chargierte, die Abordnungen aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Armee fürchterlich die Hucke voll.
"DEUTSCHLAND - WO LIEGT ES ?"
" Schwört bei dieser blanken Wehre, schwört ihr Brüder allzumal: Fleckenrein sei unsere Ehre, wie ein Schild von lichtem Strahl", grölte es durch die Reihen. Heiner Geißler stellte folglich in seiner Laudatio die knallige Frage: "Deutschland - wo liegt es?", um mit zurückgenommener Stimme auf Goethe und Schiller zu verweisen. "Wir kennen die Realität in Europa, aber wir erkennen sie deswegen nicht an", rief er dann von seinem Redeschwall fortgetragen gen Osten. Wenn Rhetorik des Generalsekretärs einmal der gutgemeinte Versuch war, mit Emotionen die technokratisch ausgelaugte Sprache zu erneuern, so hat sie in ihrer Wirkung längst die gesalbte Qualität apokalyptischer Wanderprediger übertroffen.
ENDZEIT-GEFÜHLE
Weltuntergangs-Stimmung, Endzeit-Gefühle, verstümmelte Seelen, eine Nation ohne geistig-politische Leitideen, ein depressives Jammertal diese Bundesrepublik etc, usw., usf., "wenn Deutschland nicht gottlob als einzige Hoffnung eine für Jahrzehnte straffgeführte CDU-Bundesregierung hätte".
"5. KOLONNE MOSKAUS"
Hätte Geißler doch nur hier die Sozialdemokraten "als fünfte, moskau-hörige Kolonne, als Spionage- und Sabotagetrupp der Kommunisten" geziehen, hätte er doch nur der "Volksfront-Friedensbewegung" erklärt, "dass der Pazifismus der 30er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht" habe. Anderswo wurde ihm derlei übel genommen.
ANSTÄNDIGE DEUTSCHE
Hätte er doch nur hier seinen hochdekorierten Burschen, zum 734. Male Bert Brecht (*1998+1956) zitierend, auf die vaterlands- und geschichtslosen Sozi-Gesellen eingedroschen, ihnen ein "politisches Verbrechen" kurzerhand angehängt, von dem sich "die anständigen Deutschen" distanzieren müssen. "Wer die Wahrheit nicht weiß , ist ein Dummkopf. Wer die Wahrheit weiß und Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Hätte er doch hier die angstvollen Gegner eines "Kriegs der Sterne", des SDI-Weltraumforschungs-Programms, als "unmoralisch" gebrandmarkt. Hätte er doch nur hier verdeutlicht, dass die Sozialdemokraten im Stil "der Nazis gegen die, Juden" Kampagnen gegen seine Union entfachen. Hätte der CDU-Generalsekretär doch nur hier ein "Schlagwort über die neue Armut" in der Bundesrepublik verloren und gesagt, dass dieses Gerede "der größte Schwindel" sei, "den wir in der Nachkriegszeit erlebt habe".
GRAUE EMINENZEN MIT SCHMISSEN
Hier , in der Landauer Stadthalle, bei den grauen Eminenzen mit Schmissen und ihren abgerichteten Jungvolk-Korporationen, wäre er mit seiner Betrachtungsweise stets passend platziert. Dieser enthemmte Geißler hätte ja nicht nur rühmlich "der Wahrheit eine Gasse geschlagen", als bibelfester Katholik hätte er sicherlich auch unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie wichtig ihm das Alte Testament in der Bundespolitik geworden ist:"Auge um Auge, Zahn um Zahn."
MIT KARACHO AUF DIE BÄNKE
Die rechten Burschen jedenfalls wären mit Karacho auf die Bänke gestiegen; auf ihren Schultern, mit einem Spielmannszug vorneweg, wäre der Generalsekretär zum Rathausplatz getragen worden. Und dort hätte er dann seine Visionen von Harmonie, Vaterland und Partei aufsagen dürfen. "Kauert nicht in den bequemen Ecken des privaten Glücks oder der Resignation, sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer freien und gerechteren Welt ... Wenn niemand mehr Kinder bekommt, hat unser Land keine Zukunft ... Nicht nur Gutes tun, sondern auch darüber reden". So marschierten die Burschen allein, artig und fromm, auch erst um Mitternacht, natürlich mit Fackeln und Trommeln, die drei Strophen der Nationalhymne wie selbstverständlich auf ihren Lippen. Bis zum frühen Morgen hallte das "Deutschland, Deutschland über alles", Bier verklärt durch Landaus Straßen.
"JUNGE MIT MUNDHARMONIKA"
Nein - heute soll sich nach Kautzmanns Drehbuch der Minister a.D. (1982-1985) "in ganz bescheidener Weise als rundum sympathischer, vernünftiger Kerl darstellen". Für solche Biedermann-Aktionen eignen sich die umliegenden Dörfer. Wenn Heiner Geißer "den Jungen mit der Mundharmonika" auflegt, liebäugelt er heftig mit vibrierender Anteilnahme. Die kann er im Örtchen Silz einheimsen, einer proper aufgeräumten Gemeinde mit Butzenscheiben und Fachwerkfassaden,wo wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunen nageln. Verständlich, dass vom dörflichen Innenleben nur Spärliches nach draußen dringt, und die Weisheit, "dass mir der Hund der Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der Mensch nicht einmal im Winde", nach wie vor ihre Gültigkeit besitzt. Ansonsten verstehen sich die Leute hier seit jeher auf ein genügsames Leben in Dankbarkeit und Pflichterfüllung.
"UNSER STAAT" - "VATER STAAT"
So viel Staat, so viel Politiker-Prominenz, das macht in Silz eine Menge her. Überall CDU-Plakate: Dr. Heiner Geißler kommt. Bei aller Ferne, bei mancher Nörgelei, letztendlich ist es doch "unser Staat" - "der Vater Staat", der in der Geißler-Kautzmann-Karawane stattlich repräsentiert vor dem Kultursaal stoppt. Undurchsichtig lächelnd schreitet Geißler zu seinem Publikum. Der Raum ist brechend voll, Jung und Alt bunt gemischt, dazwischen gehobene Mittelstandstupfer. Da fällt es selbst einem tingelnden Polit-Profi auf Anhieb nicht so leicht, die Versammelten an Physiognomie und Kleiderordnung einwandfrei zu taxieren. Erst stürmischer Applaus, warmherzige Ovationen nehmen ihm den Anflug von Irritation. Und Kautzmanns Röntgenblick signalisiert unzweideutig, dass es menscheln darf.
MIT PISTOLE AUF DEM PODIUM
Da steht er nun, dieser großangekündigte Dr. Geißler, dieses Politik-Fernseh-Ereignis zu den Abendnachrichten schlechthin, aus der Hauptstadt eingeflogen, seinen Charme versprühend, seine Referentin Frau Göbel wie immer in der ersten Reihe sitzend, seinen Fahrer Riemann an der Eingangstür postiert, seine beiden Sicherheitsbeamten jeweils links und rechts mit abzugsbereiter Pistole hinter sich wissend, seinen Kautzmann mitten im Raum unter den Leuten diagonal im Visier. Er ist zweifelsfrei ein Chamäleon von besonderen demagogischen Qualitäten, ein Sophist, der spitzfindig "die Leit, auch was für Leit" einbalsamiert. Als Staatsmann "von denen da oben" reiste er an, als einer von ihnen, "der kleinen Leuten", will er wieder von hinnen ziehen. Der Duden definiert die Sophistikation als einen "reinen Vernunftschluss, der von etwas, was wir kennen, auf etwas anderes schließt,von dem wir keinen Begriff haben, dem wir aber trotzden objektive Realität zuschreiben."
ANTI-DEMOKRATISCHE RESSENTIMENTS
In den dreizehn Opppositionsjahren (1969-1982) der Union hatte Heiner Geißer wenig Skrupel, uralte antidemokratische Ressentiments, hohle Vorurteile, abgenutzte Klischees gegen "die Klasse da oben" mitzutragen, wo immer er auftrat, kräftig anzuheizen, sich quasi als Sprachrohr rechtschaffender Kleinbürger mit ihren angesparten Aktienpaketen von Veba bis VW coram publico zu empören: "Die Erblast sozialistischer Misswirtschaft" zuvörderst, "das Bonzentum im gewerkschaftseigenen Unternehmen Neue Heimat" hier, "Falschspieler der sozialliberalen Koalition" dort, aber auch "Sozialisten können wirklich nicht mit Geld umgehen, das haben sie doch längst bewiesen." All die speziell in einem gesonderten Mitarbeiter-Stab ausgetüftelten, unterminierenden Tiraden entsprachen den grobschlächtigen Instinkten derer, die sich als "kleine Leute" verschaukelt, von "den Großen" unentwegt ausgenommen fühlen, die ja angeblich allesamt permanent in die eigene Tasche wirtschaften.
PARTEI- UND STAATSVERDRUSS
Heiner Geißler war sich zu jener Zeit überhaupt nicht zu schade, die inzwischen lauthals beklagte Staats- und Partei-Verdrossenheit im Lande nachhaltig zu schüren. Obwohl zuvörderst seine CDU sowie die Schwester CSU im undurchsichtigen Sumpf von Steuerhinterziehungen, Schmiergeldern, ausländischer Briefkasten-Firmen tief drinstecken - und das keineswegs nur in der Milliarden-Affäre, aufgedeckt im Jahre 1980, um den Düsseldorfer Flick-Konzern.
EIN KANZLER, DER DIE HAND AUFHIELT
Schließlich war es doch kein anderer als sein Bundeskanzler Helmut Kohl (1982-1998), der vielversprechend-hingebungsvoll, seine Hand aufhielt, als der Flick-Konzern ihn bar mit insgesamt 260.000 Mark beglückte. Vielleicht mag Helmut Kohl in seiner "finanziellen Zuwendungsphase, diesem weiten, differenzierten Feld" und den damit verknüpften, knallharten Erwartungen irritiert an 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten Ronald Reagan (1981-1989; *1911+2004;) gedacht haben, über den er später einmal mit idealisiertem Unterton sagte: "Wenn er ja sagt, meint er ja. Wenn er nein sagt, meint er nein. So möchte ich auch sein." Seit die CDU/CSU die Regierungsverantwortung 1982 übernommen hat, kann Heiner Geißler natürlich diese Korruption suggerierende Grob-Schnitzerei nicht mehr ungestraft fortsetzen. Doch diffizil zu nuancieren, unter nach oben wie oben nach unten zu kehren, hat er ebenso fein raus wie das knallharte, kalkulierte Putzmachen.
MIT RAPUNZEL UND REBLAUS
Natürlich weiß ein Mann wie Geißler um verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit den Mächtigen dieser Republik. Sonst wäre der Aufschrei bei ihren Verfehlungen ganz gewiss nicht so groß. Natürlich kennt er die Vorbehalte gegen seine denunziatorischen Rammhämmer. Ihm ist aber vor klar, dass er im Silzer Kultursaal nur etwas bewegen kann wenn er der bodenständigen Verwachsenheit mit Rapunzel und Reblaus glaubwürdig huldigt. Also fühlt er sich in seinem Wahlkreis Menschen und Landschaft "so eng verbunden, dass für mich ein Stück zu Hause wahrhaftig wurde". Das habe auch der Bundeskanzler bemerkt, "bei dem ich gerade noch war, der mir wohl deshalb besonders aufdringlich auftrug, Ihnen seine besten Grüße und Wünsche zu übermitteln. Sie können sich vielleicht ausmalen, wie knochenhart die Regierungsgeschäfte heutzutage sind. Aber unser Bundeskanzler kneift nicht vor unserer Zukunft. Er sitzt auch keine Probleme aus, er stellt sich unerschrocken den Schicksalsfragen und arbeitet unerbittlich für eine Wende zum Besseren."
SPD-LEUTE ZUM FRÜHSTÜCK ESSEN
Schon aus diesem Grunde "gibt es Leute, die würden es am liebsten sehen, wenn ich jeden Morgen zwei SPD-Leute zum Frühstück verspeisen würde. Aber das kann ja nicht Sinn und Zweck der Politik sein. Die Politik hat schließlich den Menschen zu dienen. Den Menschen helfen zu leben", derart anspruchslos putzt er seinen Bekenntnis-Charakter heraus. Denn "eine Partei wie die CDU ist nicht dazu da, um die eigenen parteipolitischen Interessen in erster Linie im Auge zu behalten", heuchelt er ungesenkten Blickes von der Bonner Operetten-Republik (1949-1989).
THEATRALISCH GETRIMMT
"Arbeitslosigkeit ist mehr als eine statistische Größe, die Monat für Monat die Zahl derer anzeigt, die in einer Gesellschaft abseits mit ihren seelischen Belastungen stehen", trug der Minister Geißler (1982-1985) von einst, theatralisch auf bedächtig getrimmt seinem gläubig dreinschauenden Publikum vor. "Denn wir leben nun einmal in einem Land, in dem der Wert des einzelnen Menschen daran gemessen wird, was er ist und was er hat." - Basta.
MUTTER KOCHTE EINTOPF
"Haste was, biste was", sagten ja bereits die bundesdeutschen Sparkassen in den fünfziger Jahren. "Auch meine Eltern haben kein Geld gehabt. Wir waren keine reichen Leute". bringt Geißler sich tellerwaschend als Soziallegende in die Dorfgemeinschaft ein. Der Vater arbeitete als Landmesser in Rottweil, wurde von den Nazis sogar mehrere Male wegen seiner Kritik zwangsversetzt, Mutter kochte Eintopf für die ganze Woche, Erbsen, Linsen, Graupen, "Fünf Kinder waren wir am Tisch, trugen ohne Murren gegenseitig unsere Sachen auf."
SCHULDEN ÜBER SCHULDEN
Und heute? "Der Staat war vor kurzem noch bankrott. Irgendwann, wenn die Verschuldung so weitergegangen wäre, hätten wir eine Währungsreform bekommen. Und wer ist dann der Leidtragende? Das sind nicht die Leute,die Grundstücke und Häuser haben, sondern das sind doch Sie hier, wir alle miteinander, die Masse der kleinen Leute. Die Staatsverschuldung ist die unsozialste Politik, die es gibt, Wir haben über 300 Milliarden Mark Schulden, die müssen wir mit Zins und Zinseszins zurückbezahlen. Wer aber zahlt sie denn zurück? Doch nicht die Älteren in unserem Land. Nein, die junge Generation.
ÜBERN DURST GETRUNKEN
Wir trinken auf ihre Kosten einen kräftig über den Durst, schmeißen das Geld zum Fenster hinaus. Wir müssen sparen und nochmals sparen, wie wir es in den vergangenen Jahren schon erfolgreich gemacht haben. Machen wir endlich damit Schluss, engültig Schluss ... Nein", posaunt Heiner Geißler zum wiederholten Male seine Rede-Dramaturgie auslebend und wie aus dem Wahlkampf-Bilderbuch seinen Daumen Richtung Saaldecke streckend, "seien wir doch mal ehrlich zu uns selber. Die CDU fragt die Bürger in Wirklichkeit, ob sie tatsächlich die Kurpfuscher von gestern zu den Vertrauensärzten von morgen wählen wollen. Doch ganz gewiss nicht. Deshalb, weiter so Deutschland - stabile Preise, stabile Renten, mehr Arbeitsplätze. Das ist die CDU. Das ist unsere Zukunft und das alles in schwarz-rot-gold. Haben Sie gerade den Urschrei der sozialen Marktwirtschaft gehört?"
JOHLEN IM KULTUR-SAAL
Natürlich soll dieser imaginäre Parteien-Knall eine Richtungsentscheidung symbolisieren. "Die Grünen, diese Melonenpartei, außen grün, innen rot, sind sozusagen der politische Volkssturm der SPD, das letzte Aufgebot des Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987; *1913+1992) , um durch Wählertäuschung und Tricks an die Macht zu kommen." - Im Kultursaal johlen die Leute vor Begeisterung. So viel kostenlos-inszeniertes Polit-Entertainment, so viel kabarettreife, angestrengte Lockerheit, die da aus Bonn eingeflogen worden ist. Heienr Geißler schaut sich strahlen, lustvoll um, weil sein tausendfach eingeübtes Pathos, seine tausendste Wiederholung die Menschen nach wie vor von den Bänken holt. Auch Frau Heike Göbel klatscht im Dreier-Takt zum 1.500 Male. "Das hälste im Kopf nicht aus, wie er das immer wieder hinkriegt", sagt sie zum Fahrer Riemann. Fahrer Riemann zitiert brav den Chef: "Ein Politiker, der nicht reden kann, ist nur die halbe Miete wert." Da höre ich eine ältere Frau in den hinteren Reihen, die ein Verslein aufsagen will - vor Ergriffenheit versteht sich. Sie dringt im Getöse freilich kaum durch. Es ist die dritte Strophe des Kanzler-Kohl-Liedes, getextet vom Heimatsänger Gotthilf Fischer,dem Leiter des gleichnamigen Chores: "Nicht klagen, nicht verzagen, aufwärts schauen, Gott vertrauen, höre auf mit dem Weheklagen, denn du wirst dir selbst nur schaden."
STIMMUNGS-DEMOKRATIE
"Machen wir endlich Schluss, endgültig Schluss damit. Wir machen nämlich keine Stimmungspolitik, wir sind ja auch keine Stimmungsdemokratie", hatte Heiner Geißler in den Raum gedonnert. Über Schuldenabbau, über den Vorsorgungsstaat, über das satte Haben-Land Bundesrepublik sprach er nun. Keineswegs über unseren Erdball, mit jährlich über 1,6 Billiarden Mark militärischer Rüstung, der ein Atomwaffenarsenal beherbergt, das in seiner Sprengkraft 16 Milliarden Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT entspricht. Eine Welt, auf der das reichste Fünftel der Bevölkerung über 71 Prozent des Welteinkommens verfügt; ein Globus, auf dem 500 Millionen Menschen hungern, 600 Millionen Menschen ohne Arbeit sind und eine Milliarde in tiefster Armut leben - damit endgültig Schluss zu machen, auch den weiteren, abendteuerlichen Ausbau von Atomkraftwerken zu stoppen, das hatte Heiner Geißer in der Silzr Kulturhalle natürlich nicht gemeint.
MIT GOTT FÜR KERNKRAFT
Das atomare Desaster in der früheren Sowjetunion, denn "Tschernobyl" im Jahre 1986, eine der schwersten nuklearen Katastrophen überhaupt - das hatte Geißler in der Silzer Kulturhalle natürlich nicht gemeint. Denn dieser Reaktor sei nun mal ein "typisches Konstrukt der proletarischen Revolution" murmelt er beschwichtigend. Pastoral schließt er aus jenem Unglück die gläubige Erkenntnis: "Wer der Auffassung ist, mit dem Tod sei alles zu Ende, der kann halt mit dem so genannten Restrisiko naturgemäss weniger leben als derjenige, der diese irdische Existenz als eine vorläufige und gleichzeitig auf eine ganzheitlich unendliches Ziel ausgerichtet begreift." - Geißler-Stunden, CDU-Jahre.
RÜCKBESINNUNG AUF RELIGION
Heiner Geißler misstraut einer total transparenten, aufgeklärten Welt, in der die Menschen ihren rationalen Erkenntnissen folgen sollen. Ihm schwebt ein Dasein vor, in dem die Tugenden wie Anpassungsfähigkeit, Loyalität und Selbstdisziplin die Garanten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Dickicht des Sachzwang-Staates sind. Er fordert eine Rückbesinnung auf den Glauben an Gott, die Pluralität des Lebens, die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Ordnung, Stabilität, Führung und Elite. Praktisch Erlebtes steht gegen Gedachte oder Erwartetes, Sein gegen Sollen, Leben gegen System-Begriffe. "Unsere Werte beruhen nicht auf dem, was wir haben, sondern auf dem, woran wir glauben", postulierte Geißler schon in seiner Rede zum konstruktiven Misstrauensvotum gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982).
BEDINGTE WAHRHEITEN
Warum gutgläubig Zufriedene mit Problemen oder Verantwortlichkeiten überlasten, sie mit düsteren Stimmungen und Befindlichkeiten der Nation, Depression, Angst und Frustation unnötig konfrontieren? Wozu leistet sich ein Land wie Deutschland ihre leistungsfähigen Subsysteme aus Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Recht und Verwaltung? Kann nicht "das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu gefestigt, unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegszeit herausgeführt, die geistigen und moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens erneuert, unsere Jugend wieder Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft" gegeben werden?
KONSERVATIVE GEGEN-REFORMATION
Geißler und seine Union als Hoffnungsträger einer staatswirtschaftlich- sowie sozialpolitischen Wende, einer konservativen Gegen-Reformation am Ende des auslaufenden 20. Jahrhunderts. Der Generalsekretär als intellektuelle Speerspitze eines neukonservativen Denkens, ein Geißler, der soch offensiv mit dem Volk gegen die ordnungswidersetzenden Weltverbesserer verbünden will. Nicht etwa die Weltwirtschaftskrise, die rasanten technologischen Strukurveränderungen, die Globlisierungen ausufernder Finanzmärkte, der Bruch mit eine unbegrenzten Wachstum, die leeren Kassen schlechthin sind nach Meinung des Sozialphilosophen Günter Rohrmoser (*1972+2008) , einst Hochschullehrer an der Universität Hohenheim und CSU-Sympathisant. "der letzte Grund unserer Misere, sondern die Tatsache, dass wir mit den überfüllten Kassen geistig und moralisch nicht zurechtgekommen sind".
"IDENTITÄT WIE EIN CHAMÄLEON"
Für den markanten Denker Rohrmoser ist "die Konstruktion einer geschichtslosen, in ihrer nationalen Identität verunsicherten und eines gemeinsamen Ethos sich selbst beraubenden Industriegesellschaft Bundesrepublik zusammengebrochen". Folglich befinden sich nach Rohrmosers Befund auch die traditionellen Parteien in einem Identitätsverlust oder verändern ihre Identität wie ein Chamäleon je nach der Richtung, in der der Zeitgeist zu wehen scheint". Und er sieht zudem die Gefahr, dass aus einem "taktischen, situationsbezogenen Opportunismus ein prinzipieller Opportunismus zu werden droht".
CDU/CSU: OFFENBARUNGS-EID
Auf die Union an der politischen Macht gemünzt, erlebe die CDU "die Stunde des Offenbarungs-Eids." Denn die wachsende Kritik an Helmut Kohl (CDU-Bundeskanzler 1982-1998) dürfe nicht die Einsicht vergessen lassen, "dass die CDU weitgehend Kohl ist, dass ihre Mentalität und ihre innere Verfassung sich in seiner Position widerspiegeln, er ist der Ausdruck einer gewissen Dumpfheit, Provinzialität und eines diffusen Populismus, der die Partei beherrscht ...".
UTOPISTEN DIESER JAHRE
Den Utopisten dieser Ära ist es faktisch zuzuschreiben, dass der Politik ihre Steuerungsfähigkeit verlorenging, die Integrationskraft der parlamentarschen Demokratie schwindet, dirhc die "widernatürliche Gleichmacherei" der Sozialstaat als Umverteilungsinstanz missbraucht wurde. Die Progessiven, allen voran die Sozialdemokratie, haben demnach abgewirtschaftet, weil sie den innigen Wunsch nach einem überschaubaren, verlässlichen, stabilen, berechenbaren Dasein ignorierten, sie die Begrenztheit des Fortschritts, die Rohstoff- und Ressourcen-Knappheit, die Stagnation der Industrie, die zunehmende Krisenanfälligkeit von Großorganisation in einer Welt freier Märkte nicht rechtzeitig erkannt haben.
FORTSCHRITT UND SEIN GEGENTEIL
So auch "die dramatischen Folgen des Umschlags des Fortschritts in sein Gegenteil und die Erfahrung, dass alle Versprechen, aus denen seine Dynamik gespeist wurde, sich als unerfüllbar herausstellen"; betonte der wortgewaltige Tendenz-Wenden-Prediger Günter Rohrmoser in seinem im Jahre 1983 veröffentlichten Buch "Die Krise der politischen Kultur". Er kündigte eine über Jahre währende Tendenzwende an, die tief "in die Verfassung und den Zustand des öffentlichen und privaten Lebens" eingreift, es nachhaltig verändert, "als es uns bewusst sein mag". "Heimat", "Kultur" oder auch "Nation" sind ihm Synonyme für eine gemeinsam erlebte, traute Welt, die jedem Hoffnung und Glauben beläßt, die monogame Ehe und Familie zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, den ersehnten sozialen Aufstieg zu meistern, sich überhaupt in der arbeitsteiligen, höchst undurchsichtigen Computer- und Roboter-Gesellschaft zurechtzufinden, der drohenen Vereinsamung, aber auch der Anonymität zu entrinnen.
ROSSKUR ZUM DURCHBRUCH
Um dieser Roßkur zum Durchbruch zu verhelfen und die Tendenzwende für Jahrzehnte durchgreifend voranzutreiben, müssen nach Günter Rohrmoser "die Mächte des Nihilismus und der Destruktion" gebannt werden, "bedarf es des Rückgriffs auf andere Reserven als die einer Moderne, deren Tag sich zu neigen beginnt. Geistige Wene ist die Wende zur Wirklichkeit, die Programmierung eines Lebens, das nach dem Entzug des süßen Giftes der Utopie sich fragte, wie Selbstentfaltung ihren Sinn behalten kann".
KONSERVATIVE KRISEN-THEORIEN
Tatsächlich beruhr die aus den USA importierte neo-konservative Krisentheorie auf zwei zentralen Eckpfeilern: zu viel Sozialstaat, zu viel Demokratie. So sei das Debakel in den westlichen Industrie-Nationen ausschließlich ihrer aufmerksamen Sozialfürsorg anzukreiden, die sich zu einer aufgelblähten Umverteilungs-Bürokratie entwickelt habe. Der New Yorker Sozialwissenschaftler Irving Kristol , einer der schärften Verfechter eines klassischen Untennehmer-Kapitalismus in den Vereinigten Staaten, ist davon überzeugt, dass die bisherige Politik, "die massive Eingrifffe des Staates in den Markt erlaubt, gegenüber Sitte und Moral jedoch absolute Laissez-faire erlaubt, für eine bizarre Umkehrung der Prioritäten" stünde. Anspruchsdenken, Versorgungsidylle, Gleichmacherei, staatliche Entmündigung, Verkümmerung bewährter Tugenden sie das Ergebnis. Des Menschen große Erwartung liege aber "in einem geistig und moralischen neubelebten Kapitalismus".
AUS GOLD WIRD GLÜCK
Nach dem erprobten Muster, schont die Reichen, sie machen aus Gold Güter und aus beiden irdisches Glück, entpuppt sich der Neokonservativismus in den achtziger Jahren als die ideologische Plattform, auf der eine Politik der Rückverteilung zugunsten der Besserverdienenden verwirklicht werden soll.