Freitag, 1. Dezember 1989

Der Propaganda-Minister




























Die stählerne Karriere des Wolf Feller oder Wie sich das CSU-Parteibuch beim Bayerischen Rundfunk (BR)auszahlt. Über dreißig Jahre hat Wolf Feller dort verbracht. Er gab sich immer so, als sei er dort aufgewachsen. "Das Fernsehen ist zum Teil kaputt gemacht worden durch die Fellers und Lojewskis", urteilte der damalige ZDF-Chefredakreur Klaus Bresser.




MÄNNER VOGUE, München
1. Dezember 1989
von Reimar Oltmanns

Wäre Hörigkeit ein Begriff für gesellschaftliche Anerkennung, hätte ihn Wolf Feller, Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks, längst für sich reklamiert. Ohnehin lässt der CSU-Sheriff, der sich auf dem Bildschirm gelegentlich wie Jerry Lewis ausnimmt, keine Milchkanne am Wegrand stehen, um sich als allwissender Fernsehmacher zu verkaufen - Feller als "Vitalo", Feller als "kampferprobter Durchblicker" oder Feller als einer, der weiß, wo "der Braten liegt".

FELLER - WIE EIN PFERD AUF DIE SPOREN

Verständlich, dass für den 59jährigen Parteisoldaten der BR "der liberalste Sender der Bundesrepublik" ist. Um Lippenbekenntnisse war er nie verlegen: "Ich bin stolz darauf, im Gegensatz zu so vielen anderen in meiner Branche keine opportunistischen Metamorphosen durchgemacht zu haben." Dabei reicht als Strafandrohung der CSU-Zensoren schon wohldosierter Liebesentzug. um ihren Wolf auf Parteilinie samt Sprachregelung einzuschwören. Manchmal, so wissen Kenner der "bayerischen Verhältnisse" zu berichten, werde von der CSU-Parteizentrale direkt bei Feller angeklingelt und ein gesondertes Fernsehteam zur Entgegennahme eines "parteiamtlichen Statements mit Kommentar" bestellt. Dann mault Feller zwar zuweilen - "mich laust der Affe"-, aber auf "Direktiven der Partei- und Staatsspitze reagiert er, so der "Spiegel", "wie ein Pferd auf die Sporen".

VOM TUTTI-GEIGER ZUM DIRIGENTEN

Über dreißig Jahre hat Feller bislang beim BR verbracht. Er gibt sich in seinem Büro so, als sei er dort aufgewachsen. "Ich habe in diesem Klangkörper angefangen als Tutti-Geiger, war dann Solist und schließlich Dirigent. Vom Fahrer bis zum Hauptabteilungsleiter kenne ich alle." Der journalistische Werdegang dieses Mannes gerinnt zum klassischen Beleg scheinbarer Potenz, die in immer neuen Hörigkeiten, in auswegloser Selbstverleugnung mündet. Beharrlich managt er ein Vierecksver-
hältnis - seinen Lebensinhalt: Propaganda, Taktik, Strategie, Macht. Ein typisches Beispiel lieferte die Bundestagswahl 1987, als es "dem übereifrigen Wolf" (CSU-Parteijargon) vorbehalten blieb, den angetrunkenen Franz Josef Strauß vor die Kamera zu locken. Feller: "Herr Ministerpräsident, die Frage, ob Sie nach Bonn gehen, weiß ich ohnehin, dass Sie bejahen werde. Sie werden nämlich nach Bonn fliegen und die Koalitionsverhandlungen führen. Die andere Frage erspar' ich mir, denn zuerst werden Sachprobleme gelöst und dann erst Personalprobleme." Strauß: "Richtig, Richtig !" Feller: "Vielen Dank, Herr Ministerpräsident!"

SCHMERZFREIE SALZSÄURE

Fellers Haut verschorfte rapide, "um schmerzfrei Salzsäure aushalten zu können. "Non mi frega niente" - Das juckt mich nicht - gehört zu seinen Standardfloskeln im Sender. Rom hat auf ihn spürbar Eindruck gemacht, zumal er seine italienischen Sprachkenntnisse derart zu verfeinern verstand, dass er nun eine Pizza selber bestellen kann. Bekanntlich übte sich Feller Anfang der achtziger Jahre als Italien-Korrespondent der ARD. Damals residierte er im Palazzo Torlonia und scharte römische Prominenz um seinen mit Delikatessen beladenen Tisch.

OPFER: FRANCA MAGNANI

"Selbstsüchtig, eitel und unkollegial", ist das Kollegenurteil über ihn. So pflastern Leichen seinen Weg. Bekanntestes Opfer wurde die Journalistin Franca Magnani, die er durch tägliche Stichelein (zu Neudeutsch: mobbing) dazu brachte, das Handtuch zu schmeißen. Feller stolz: "Die durfte Däumchen drehen und viel Zeitung lesen." Einst zählten die Magnani-Reportagen zu den ARD-Glanzstücken. Aber wie bemerkte schon ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser: "Das Fernsehen ist zum Teil kaputtgemacht worden durch die Fellers und Lojewskis."













Mittwoch, 1. November 1989

Intriganten-Stadel - Willys Enkel

























Beinhart und mit Intrigen gespickt gehen die von Willy Brandt geadelten SPD- Nachwuchsmänner zur Sache, wenn es um ihre Politik-Karriere im Glanz der Öffentlichkeit geht. Dabei ist dem Macht-Menschen Gerhard Schröder jede Taktik recht, wenn er für sich einen Platzvorteil in Richtung Kanzleramt ausrechnen kann - mal prolo, mal echt öko, mal echt regierungsamtlich. Aber am liebsten erzählt der Kanzler in spe die Geschichte seiner Herkunft: "Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater Hilfsarbeiter, ich weiß, wo der Braten liegt." Für ihn mittlerweile auf dem Servierteller seiner vierter Ehe. So hastig rast die Zeit.


MÄNNER VOGUE, München
vom 1. November 1989
von Reimar Oltmanns

Die Karriere-Philosophie steht nirgendwo geschrieben. Gleichwohl hat sie sich ein jeder aus der frischen SPD-Garde der neunziger Jahre eingeprägt - unausgesprochen. "Soyez réalistes, exigez l'impossible" - seid realistisch, fordert das Unmögliche. Mit derartigen selbst gehäkelten Weisheiten gerieren sich die Spitzengenossen nach außen mit Inbrunst als Hoffnungsträger der Republik.

Es war Willy Brandt, der Mitte der 70er Jahre die jetzige SPD-Garde der damals überraschten Öffentlichkeit als "seine Enkel" präsentierte. In weiser Voraussicht sagte er schon damals: "Das sind meine politischen Erben. Auf diese Enkel kann die SPD, kann dieses Land getrost bauen." Folgerichtig gestatten sich die Willy-Enkel auf dem dornigen Weg zur Bonner Macht keinerlei Atempause.

YUPPIE MIT "BILD"-ZEITUNG

Selbstinszenierung ist Trumpf. Ganz nach dem Motto "Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater verdingte sich als Hilfsarbeiter. Ich weiß, wo der Braten liegt", entäußert sich Gerhard Fritz Kurt Schröder, 45, seines Zeichens SPD-Oppositionsführer im Landtag zu Hannover, bis hinters Komma, um endlich Ernst Albrecht als Ministerpräsidenten zu kippen. Dabei ist Schröder unverkennbar der Yuppie im sozialistischen Enkelsalon. Erfolgsbesessen lässt der Rechtsanwalt des zweiten Bildungsweges, der das dritte Mal verheiratet ist, in der Boulevard- und Bildpresse einen Knüller nach dem anderen los. Schließlich wollen "die Leute was zu lesen haben und wissen, dass es mich auch noch gibt", möllemännert er daher in der Bonner Yuppie-Kneipe "Mierscheid".

Denn so bizarr, wie seine politische Karriere über die Jusos verlief, so berechnend setzt er meist mit "Betroffenheitsfloskeln" ein Mosaiksteinchen aufs andere, wenn es ums erbibberte Amt des Ministerpräsidenten in Niedersachsen geht. Seine Erfolgstaktik ist es, dass Gerhard Schröder seine Taktik offen als Taktik erläutert - eben mal "echt öko" - mal "echt prolo" oder auch mal "echt regierungsamtlich".

WILD WIE DER KLEINE NAPOLEON

Weitaus stimmiger intoniert sich da schon "Oskar mit der Blechtrommel". Tatsächlich verkörpert Saarlands Ministerpräsident Oskar Lafontaine, 46, geradezu "idealtypische Eigenschaften", um zur Nummer eins der SPD werden zu können. Er dürfte wohl der nächste Spitzenkandidat für die Wahl 1990 sein. Vorsorglich streckt Lafontaine schon jetzt seíne gezielten Fühler zu den Grünen aus, um vielleicht als der erste rot-grüne Kanzler in die Geschichte einzugehen. Mit Willy Brandts Enkelstab ausgerüstet, strotzt der katholische Arbeitersohn aus dem ärmliche Saarlouis folglich vor Selbstbewusstsein. Mal schreibt er wortgewaltige Bücher, mal parliert e in Talkshows breit lachend um sich, mal zerreißen sich Boulevardblätter hingebungsvoll ihre Mäuler über seine Frauengeschichten - mal verlässt seine Gesundheitsministerin Brunhilde Peter weinend den Kabinettssaal, "weil der Oskar wieder wild den kleinen Napoléon spielt."

ZWEITSCHÖNSTER POLITIKER

Regelrecht hausbacken nimmt sich dagegen Björn Engholm, 50, aus. Und das, obwohl er als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein nach einer Meinungsumfrage der Wickert-Institute als zweitschönster Politiker des Landes eingestuft wird. Den ersten Platz belegt unangefochten Richard von Weizsäcker. Ganz nach Engholms durchlebter Forderung, zu den eigentlichen Wurzeln zurückzukehren , kann er auch nach der Barschel-Affäre mit seiner Glaubwürdigkeit einstweilen wuchern - einstweilen. Trotz verlockender Angebote zieht es den einstigen Schriftsetzer wie Bundesbildungsminister nicht abermals nach Bonn zurück. Ihn schreckt dieses "unsinnliche Treibhaus" am Rhein. Zweifellos ist der kokette Vater zweier Töchter der anschmiegsamste Repräsentant der modernen SPD.

KLEINE-LEUTE-MILIEU

Den unerwartesten Senkrechtstart des Jahres 1989 unter den Sozis schaffte freilich ein Außenseiter. Zur Verblüffung einflussreicher Wahlstrategen wurde der knallharte Walter Momper, 44, auf Anhieb Berlins Regierender. Unversehens geriet "Schlitzohr Mompi" mit der Knollnase, wurstigen Fingern nebst Ellenbogen (Eltern waren Köche, er wurde Politologe) bundesweit zur Symbolfigur des "Kleine-Leute-Milieus". Kurzum: Sein Stallgeruch stimmt. Dass er jemals Regierungschef würde, hat ihm in der Tat niemand zugetraut. Selbst SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, der mit Momper heimlich Fernseh-Interviews übte, war da "mehr als skeptisch".

JUNGE MIT DER MUNDHARMONIKA

Großes Kopfzerbrechen haben die eigens beizeiten von der Partei angeheuerten Werbe- und PR-Agenturen, wie sie Hans Eichel, 47, Oberbürgermeister von Kassel, als Spitzenkandidaten 1991 in Hessen verkaufen sollen. Der altlinke Programmatiker soll gegen Walter Wallmann um das Amt des Ministerpräsidenten kämpfen. Fortwährend Sorgen bereitet Eichel fast schon niedlich-harmlose Farblosigkeit - bis hin zur allseits grauen Funktionärskrawatte. Die höchsten Sympathiewerte bekam Eichel noch, als er mutig den "Jungen mit der Mundharmonika" spielte. In den neunziger Jahren soll Biedermann Eichel als "rosaroter Panther mit grünem Schwanz", so der SPD-Parteitag, das Hauptaugenmerk auf sich lenken.

POLIT-THEATER

Fernab der Heimat - nämlich der Wahl-Wirklichkeit - sonnt sich der Edelenkel dieser Republik, Freimut Duve, 53, SPD-Bundestagsabgeordneter und geschasster rororo-aktuell-Herausgeber, vereint nach eigenem Bekunden in einer Person. Dafür spricht schon seine "locker gefönte Schriftstellermähne", mit der er in Bonn unentwegt die Aufmerksamkeit besonders der Journalisten sucht. Trotz aufgesetzter Krisen-Theatralik (Duve: "Wir müssen fürwahr die Republik verteidigen") kämpft Duve auf den Hinterbänken des Bundestages gegen den drohenden Abstieg in die schmerzhafte Bedeutungslosigkeit. Denn allmählich setzt sich auch in der SPD die unangenehme Erkenntnis durch, "dass der Duve vor lauter Betroffenheit nicht laufen kann" - vornehmlich dann, wenn der Edelenkel Duve den französischen Kulturattaché beim Staatsempfang in der Godesberger Redoute mit "How do you do I'm Duve from Western Germany" begrüßt.

ENKEL NOCH MIT NEUNZIG

Rudolf Schöfberger, 54, Landesvorsitzender der bayerischen SPD, hadert auch mit sich über verflossene Zeiten. Wehmut überkommt den einstigen Briefträger und späteren promovierten Juristen, wenn er sich seines früheren Enkeldaseins erinnert. Damals, in den siebziger Jahren, genoss er seine Rolle als "Bürgerschreck", er verjagte Parteichef Hans-Jochen Vogel als Oberbürgermeister aus München, wollte gar das "imperative Mandat" zur Pflicht machen. Die Jahre als Bundestagsabgeordneter in Bonn haben den "wilden Rudi" sanfter gestimmt. Nur den Schnupftabak weiß er noch als treuen Weggefährten an seiner Seite. Die größte Bestrafung wäre es für ihn, aus der Enkelliste herauszukippen, denn "ein Enkel von Willy Brandt will ich auch mit 90 Jahren sein."

AUF ORGEL TRETEN - KARRIERE MACHEN

Im Grunde genommen hält es auch die SPD-Enkelpartei lieber mit Repräsentanten, die den "Otto-Normalverbraucher" darstellen. Zumindest muss die Partei in Rheinland-Pfalz nicht argwöhnen. Mit Enkel Rudolf Scharping, 42, erkor sie einen Spitzenmann für die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, der nahezu sämtliche SPD-Eigenschaften auf sich vereint. Ganz nach dem Motto: "Gestern Parteifunktionär, morgen Parteifunktionär", hat Scharping eine klassische, für die SPD typische Parteiensozialisation hinter sich. Alles, was Scharping auch in seinem Leben anpackte - stets war es für die allgegenwärtige Partei. Der Vater dreier Töchter ist ein bemerkenswertes SPD-Produkt für die neunziger Jahre. Folglich geht Scharping, mit seinem Spitznamen "Genosse Scharfsinn" ausgestattet, schon zwei Jahre vor den Wahlen los und verteilt Ohr flüsternd Ministerposten. Rudolf Scharping zu Ex-MdB
Hans Wallow: "Du wirst bei mir ganz sicher Minister, Hans!" Wallow: "Toll, Rudolf, aber bitte Bundesratsminister. Denn auf dieser Orgel kann ich richtig treten." Das ist Karriereplanung im Jahre 1989. Die Enkel starten durch. Wie sagte doch einst Björn Engholm; "Ich weiß nicht, wohin ich gehe, aber ich weiß, dass ich ankommen werde." - Wirklich?





















Donnerstag, 21. September 1989

Politik-Darsteller: Verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit den Mächtigen dieser Republik








Windmachen zu Lande und zu Luft, Sitzfleisch kultivieren zum Überdruss, Smoking-Auftritte in erlesenen Gesellschaften - nichts ist erfolgreicher als der Erfolg
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Keine normale Figur
in der Hütte
Athenäum Verlag
Frankfurt am Main
21. September 1989
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von Reimar Oltmanns
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"Parteifunktionäre und Berufspolitiker", urteilt der US-amerikanische Soziologe Gerhard Lenski in seinem 1966 erschienenen Buch "Macht und Privileg", "zeichnen sich durch eine einzigartige Qualität aus, als eine innerhalb von zwei Klassensystemen gleichzeitig." Der Klasse Politiker-Hauptstadt-Klasse und der Parteiklasse draußen in den Regionen. Reisen in deutsche Provinzen, wie an diesem Abend nach Landau n der Südpfalz versöhnen Bundesminister (1982-1985) und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (1977-1989) gelegentlich. Hier wird ihm unweigerlich bewusst, dass er sich doch auf Seiten der politischen, moralischen und historischen Wahrheit weiß. Eine unteilbare Wahrheit, die ihm einleuchtend erklärt, warum er geworden ist, der er ist.
BRAVO, BRAVO - HELAU, HELAU
Auf dem Vorplatz der Pfalzklinik Landeck driftet der Bundeswehr-Hubschrauber runter. Für die Insassen dieser psychiatrischen Heilanstalt ist die Landung eines solchen olivgrünen Vogels schon ein selten spannender Augenblick in ihrem durch Psychopharmaka dränierten Leben. Einige von ihnen säumen die notdürftig hergerichtete Absperrung. Sie rufen "Bravo, Bravo - "Helau, Helau" - "Hoch lebe der Minister" - "Gott schütze den Minister."
VERRÜCKTER EMPFANG
Der Minister krabbelt ein wenig benommen aus dem Helikopter, hält für einen Moment inne, schnuppert vor sich hin. "Ein verrückter Empfang, wer hat denn das hier organisiert", will er wissen. Hauptstadt Würde, Politiker-Würde sind gefragt.Winkend wendet er sich nun den Scheinwerfern der wartenden Autos zu. Die aufgeregten Neugierigen aus der Klinik stehen unbeholfen Spalier, hoffen in ihrem freundlichen Gejohle vielleicht auf ein "Grüß Gott" vom hohen Herren. Vergebens. Sie bleiben halt dort, wo sie hingehören, wo die Gesellschaft sie hingepackt hat - am Wegesrand. Aber möglicherweise waren es auch auch nur Begrüßungsreflexe an der Südlichen Weinstraße, die Heiner Geißler so unbeholfen dreinschauen ließen. Immerhin wedelt der Minister mit seinen dafür geübten Arm solange, bis er Kautzmann entdeckt, den örtlichen Parteifunktionär.
STABSFELDWEBEL ALS PARTEIFUNKTIONÄR
Kautzmann wirkt untersetzt-geschniegelt. Er könnte gut einen langgedienten Stabsfeldwebel der Bundeswehr abgeben, der sich nach seiner Entlassung "in die freie Wirtschaft" als Sektionschef der Eduscho-Kaffee-Filialen in Rheinland-Pfalz bewährt. Kautzmann entschied sich als "streitbarer Demokrat", freilich sorgsam planend, für die Partei-Demokratie, avancierte in Landau geschwind zum CDU-Geschäftsführer und Stadtrat, hechelte und mauschelte sich vor allem zielstrebig zur
"rechten Hand des Generalsekretärs" im Wahlkreis empor. Er verkörpert sozusagen den Prototyp einer Randpersönlichkeit. Ein Mensch, der seine Lebensmöglichkeit vornehmlich in einflussreiche Beziehungen sucht, daraus seine Stärke bezieht, mit dieser Geschaftlhuberei aber auch steht und fällt.
UNGEKRÖNTE KÖNIG VON LANDAU
Dabei ziert Kautzmann sich genant, wenn Frau Göbel ihn als "einen unbezahlbar-soliden Goldjungen" hätschelt. Seit er in Geißlers engstem Umkreis herumzirkelt, widerfuhr ihm ohnehin eine honorige Aufwertung, nämlich der "ungekrönte König von Landau" zu sein. Schon betrachtet er er "das ehrenvolle Amt des Oberbürgermeisters" als die nächste Stufe. Seine beiden Sekretärinnen halten ihn dagegen für "einen ausgemachten kleinbürgerlichen Arschkriecher", der in Geißlers Abwesenheit "die Mitarbeiter so zusammenscheißt, dass in der Nachbarschaft die Fenster zufliegen", notiere ich mir in meinem Bonner Tagebuch. Nur in Geißlers Beisein "zerfließt er vor devoter ManZierlichkeit und spielt den Anstands-Wauwau".
KUCHEN IM KLEINEN KREIS
Geißlers Eintauchen in Landau geht schon Wochen zuvor eine generalstabsmäßige CDU-Betriebsamkeit à la Kautzmann voraus. Wenn Bonn in Landau weilt, obliegt jeder Schritt Kautzmanns Regie; eine vom örtlichen Parteiapparat organisierte Fremdbestimmung. Er filtert Leute und Schauplätze argwöhnisch durch, ob sie tatsächlich für die Union in der Öffentlichkeit verdaulich sind. Beinahe jede Minute muss durchgeplant, auf Effizienz abgeklopft werden. Die so angebahnten "menschlichen Begebenheiten", etwa das sechste Bürgergespräch "Kuchen im kleinen Kreis", sind Teil der seit Jahren bewährten "Strategie der weichen Welle", befindet Kautzmann in der Pose eines Konzernmanagers. "Harte Konfrontationsgeschichten", fährt er wissend fort, "laufen hier nicht. Der Parlaments-Klamauk führt in Landau häufig zu der Rechenaufgabe: zehn Packen weniger neun Packen." Aber Kautzmann wäre nicht Kautzmann: ans Einpacken will er noch nicht einmal im Suff gedacht haben.
CDU-PAROLE: "TROCKEN BLEIBEN"
Apropos Suff - zumindest heute Abend sollen nach Kautzmanns Gelöbnis die Veranstaltungen trocken durchgezogen werden. Denn nicht jeder Geißler-Aufenthalt ist ja den Hackepetergesichtern gewidmet. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Geißler beim Festkommers der uniformierten und mit Degen bewaffneten Burschenschaftler die Festrede in der Landauer Stadthalle gehalten. Unter dem Motto "Ehre, Freiheit, Vaterland" soffen sich Chargierte, die Abordnungen aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Armee fürchterlich die Hucke voll.
"DEUTSCHLAND - WO LIEGT ES ?"
" Schwört bei dieser blanken Wehre, schwört ihr Brüder allzumal: Fleckenrein sei unsere Ehre, wie ein Schild von lichtem Strahl", grölte es durch die Reihen. Heiner Geißler stellte folglich in seiner Laudatio die knallige Frage: "Deutschland - wo liegt es?", um mit zurückgenommener Stimme auf Goethe und Schiller zu verweisen. "Wir kennen die Realität in Europa, aber wir erkennen sie deswegen nicht an", rief er dann von seinem Redeschwall fortgetragen gen Osten. Wenn Rhetorik des Generalsekretärs einmal der gutgemeinte Versuch war, mit Emotionen die technokratisch ausgelaugte Sprache zu erneuern, so hat sie in ihrer Wirkung längst die gesalbte Qualität apokalyptischer Wanderprediger übertroffen.
ENDZEIT-GEFÜHLE
Weltuntergangs-Stimmung, Endzeit-Gefühle, verstümmelte Seelen, eine Nation ohne geistig-politische Leitideen, ein depressives Jammertal diese Bundesrepublik etc, usw., usf., "wenn Deutschland nicht gottlob als einzige Hoffnung eine für Jahrzehnte straffgeführte CDU-Bundesregierung hätte".
"5. KOLONNE MOSKAUS"
Hätte Geißler doch nur hier die Sozialdemokraten "als fünfte, moskau-hörige Kolonne, als Spionage- und Sabotagetrupp der Kommunisten" geziehen, hätte er doch nur der "Volksfront-Friedensbewegung" erklärt, "dass der Pazifismus der 30er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht" habe. Anderswo wurde ihm derlei übel genommen.
ANSTÄNDIGE DEUTSCHE
Hätte er doch nur hier seinen hochdekorierten Burschen, zum 734. Male Bert Brecht (*1998+1956) zitierend, auf die vaterlands- und geschichtslosen Sozi-Gesellen eingedroschen, ihnen ein "politisches Verbrechen" kurzerhand angehängt, von dem sich "die anständigen Deutschen" distanzieren müssen. "Wer die Wahrheit nicht weiß , ist ein Dummkopf. Wer die Wahrheit weiß und Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Hätte er doch hier die angstvollen Gegner eines "Kriegs der Sterne", des SDI-Weltraumforschungs-Programms, als "unmoralisch" gebrandmarkt. Hätte er doch nur hier verdeutlicht, dass die Sozialdemokraten im Stil "der Nazis gegen die, Juden" Kampagnen gegen seine Union entfachen. Hätte der CDU-Generalsekretär doch nur hier ein "Schlagwort über die neue Armut" in der Bundesrepublik verloren und gesagt, dass dieses Gerede "der größte Schwindel" sei, "den wir in der Nachkriegszeit erlebt habe".
GRAUE EMINENZEN MIT SCHMISSEN
Hier , in der Landauer Stadthalle, bei den grauen Eminenzen mit Schmissen und ihren abgerichteten Jungvolk-Korporationen, wäre er mit seiner Betrachtungsweise stets passend platziert. Dieser enthemmte Geißler hätte ja nicht nur rühmlich "der Wahrheit eine Gasse geschlagen", als bibelfester Katholik hätte er sicherlich auch unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie wichtig ihm das Alte Testament in der Bundespolitik geworden ist:"Auge um Auge, Zahn um Zahn."
MIT KARACHO AUF DIE BÄNKE
Die rechten Burschen jedenfalls wären mit Karacho auf die Bänke gestiegen; auf ihren Schultern, mit einem Spielmannszug vorneweg, wäre der Generalsekretär zum Rathausplatz getragen worden. Und dort hätte er dann seine Visionen von Harmonie, Vaterland und Partei aufsagen dürfen. "Kauert nicht in den bequemen Ecken des privaten Glücks oder der Resignation, sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer freien und gerechteren Welt ... Wenn niemand mehr Kinder bekommt, hat unser Land keine Zukunft ... Nicht nur Gutes tun, sondern auch darüber reden". So marschierten die Burschen allein, artig und fromm, auch erst um Mitternacht, natürlich mit Fackeln und Trommeln, die drei Strophen der Nationalhymne wie selbstverständlich auf ihren Lippen. Bis zum frühen Morgen hallte das "Deutschland, Deutschland über alles", Bier verklärt durch Landaus Straßen.
"JUNGE MIT MUNDHARMONIKA"
Nein - heute soll sich nach Kautzmanns Drehbuch der Minister a.D. (1982-1985) "in ganz bescheidener Weise als rundum sympathischer, vernünftiger Kerl darstellen". Für solche Biedermann-Aktionen eignen sich die umliegenden Dörfer. Wenn Heiner Geißer "den Jungen mit der Mundharmonika" auflegt, liebäugelt er heftig mit vibrierender Anteilnahme. Die kann er im Örtchen Silz einheimsen, einer proper aufgeräumten Gemeinde mit Butzenscheiben und Fachwerkfassaden,wo wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunen nageln. Verständlich, dass vom dörflichen Innenleben nur Spärliches nach draußen dringt, und die Weisheit, "dass mir der Hund der Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der Mensch nicht einmal im Winde", nach wie vor ihre Gültigkeit besitzt. Ansonsten verstehen sich die Leute hier seit jeher auf ein genügsames Leben in Dankbarkeit und Pflichterfüllung.
"UNSER STAAT" - "VATER STAAT"
So viel Staat, so viel Politiker-Prominenz, das macht in Silz eine Menge her. Überall CDU-Plakate: Dr. Heiner Geißler kommt. Bei aller Ferne, bei mancher Nörgelei, letztendlich ist es doch "unser Staat" - "der Vater Staat", der in der Geißler-Kautzmann-Karawane stattlich repräsentiert vor dem Kultursaal stoppt. Undurchsichtig lächelnd schreitet Geißler zu seinem Publikum. Der Raum ist brechend voll, Jung und Alt bunt gemischt, dazwischen gehobene Mittelstandstupfer. Da fällt es selbst einem tingelnden Polit-Profi auf Anhieb nicht so leicht, die Versammelten an Physiognomie und Kleiderordnung einwandfrei zu taxieren. Erst stürmischer Applaus, warmherzige Ovationen nehmen ihm den Anflug von Irritation. Und Kautzmanns Röntgenblick signalisiert unzweideutig, dass es menscheln darf.
MIT PISTOLE AUF DEM PODIUM
Da steht er nun, dieser großangekündigte Dr. Geißler, dieses Politik-Fernseh-Ereignis zu den Abendnachrichten schlechthin, aus der Hauptstadt eingeflogen, seinen Charme versprühend, seine Referentin Frau Göbel wie immer in der ersten Reihe sitzend, seinen Fahrer Riemann an der Eingangstür postiert, seine beiden Sicherheitsbeamten jeweils links und rechts mit abzugsbereiter Pistole hinter sich wissend, seinen Kautzmann mitten im Raum unter den Leuten diagonal im Visier. Er ist zweifelsfrei ein Chamäleon von besonderen demagogischen Qualitäten, ein Sophist, der spitzfindig "die Leit, auch was für Leit" einbalsamiert. Als Staatsmann "von denen da oben" reiste er an, als einer von ihnen, "der kleinen Leuten", will er wieder von hinnen ziehen. Der Duden definiert die Sophistikation als einen "reinen Vernunftschluss, der von etwas, was wir kennen, auf etwas anderes schließt,von dem wir keinen Begriff haben, dem wir aber trotzden objektive Realität zuschreiben."
ANTI-DEMOKRATISCHE RESSENTIMENTS
In den dreizehn Opppositionsjahren (1969-1982) der Union hatte Heiner Geißer wenig Skrupel, uralte antidemokratische Ressentiments, hohle Vorurteile, abgenutzte Klischees gegen "die Klasse da oben" mitzutragen, wo immer er auftrat, kräftig anzuheizen, sich quasi als Sprachrohr rechtschaffender Kleinbürger mit ihren angesparten Aktienpaketen von Veba bis VW coram publico zu empören: "Die Erblast sozialistischer Misswirtschaft" zuvörderst, "das Bonzentum im gewerkschaftseigenen Unternehmen Neue Heimat" hier, "Falschspieler der sozialliberalen Koalition" dort, aber auch "Sozialisten können wirklich nicht mit Geld umgehen, das haben sie doch längst bewiesen." All die speziell in einem gesonderten Mitarbeiter-Stab ausgetüftelten, unterminierenden Tiraden entsprachen den grobschlächtigen Instinkten derer, die sich als "kleine Leute" verschaukelt, von "den Großen" unentwegt ausgenommen fühlen, die ja angeblich allesamt permanent in die eigene Tasche wirtschaften.
PARTEI- UND STAATSVERDRUSS
Heiner Geißler war sich zu jener Zeit überhaupt nicht zu schade, die inzwischen lauthals beklagte Staats- und Partei-Verdrossenheit im Lande nachhaltig zu schüren. Obwohl zuvörderst seine CDU sowie die Schwester CSU im undurchsichtigen Sumpf von Steuerhinterziehungen, Schmiergeldern, ausländischer Briefkasten-Firmen tief drinstecken - und das keineswegs nur in der Milliarden-Affäre, aufgedeckt im Jahre 1980, um den Düsseldorfer Flick-Konzern.
EIN KANZLER, DER DIE HAND AUFHIELT
Schließlich war es doch kein anderer als sein Bundeskanzler Helmut Kohl (1982-1998), der vielversprechend-hingebungsvoll, seine Hand aufhielt, als der Flick-Konzern ihn bar mit insgesamt 260.000 Mark beglückte. Vielleicht mag Helmut Kohl in seiner "finanziellen Zuwendungsphase, diesem weiten, differenzierten Feld" und den damit verknüpften, knallharten Erwartungen irritiert an 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten Ronald Reagan (1981-1989; *1911+2004;) gedacht haben, über den er später einmal mit idealisiertem Unterton sagte: "Wenn er ja sagt, meint er ja. Wenn er nein sagt, meint er nein. So möchte ich auch sein." Seit die CDU/CSU die Regierungsverantwortung 1982 übernommen hat, kann Heiner Geißler natürlich diese Korruption suggerierende Grob-Schnitzerei nicht mehr ungestraft fortsetzen. Doch diffizil zu nuancieren, unter nach oben wie oben nach unten zu kehren, hat er ebenso fein raus wie das knallharte, kalkulierte Putzmachen.
MIT RAPUNZEL UND REBLAUS
Natürlich weiß ein Mann wie Geißler um verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit den Mächtigen dieser Republik. Sonst wäre der Aufschrei bei ihren Verfehlungen ganz gewiss nicht so groß. Natürlich kennt er die Vorbehalte gegen seine denunziatorischen Rammhämmer. Ihm ist aber vor klar, dass er im Silzer Kultursaal nur etwas bewegen kann wenn er der bodenständigen Verwachsenheit mit Rapunzel und Reblaus glaubwürdig huldigt. Also fühlt er sich in seinem Wahlkreis Menschen und Landschaft "so eng verbunden, dass für mich ein Stück zu Hause wahrhaftig wurde". Das habe auch der Bundeskanzler bemerkt, "bei dem ich gerade noch war, der mir wohl deshalb besonders aufdringlich auftrug, Ihnen seine besten Grüße und Wünsche zu übermitteln. Sie können sich vielleicht ausmalen, wie knochenhart die Regierungsgeschäfte heutzutage sind. Aber unser Bundeskanzler kneift nicht vor unserer Zukunft. Er sitzt auch keine Probleme aus, er stellt sich unerschrocken den Schicksalsfragen und arbeitet unerbittlich für eine Wende zum Besseren."
SPD-LEUTE ZUM FRÜHSTÜCK ESSEN
Schon aus diesem Grunde "gibt es Leute, die würden es am liebsten sehen, wenn ich jeden Morgen zwei SPD-Leute zum Frühstück verspeisen würde. Aber das kann ja nicht Sinn und Zweck der Politik sein. Die Politik hat schließlich den Menschen zu dienen. Den Menschen helfen zu leben", derart anspruchslos putzt er seinen Bekenntnis-Charakter heraus. Denn "eine Partei wie die CDU ist nicht dazu da, um die eigenen parteipolitischen Interessen in erster Linie im Auge zu behalten", heuchelt er ungesenkten Blickes von der Bonner Operetten-Republik (1949-1989).
THEATRALISCH GETRIMMT
"Arbeitslosigkeit ist mehr als eine statistische Größe, die Monat für Monat die Zahl derer anzeigt, die in einer Gesellschaft abseits mit ihren seelischen Belastungen stehen", trug der Minister Geißler (1982-1985) von einst, theatralisch auf bedächtig getrimmt seinem gläubig dreinschauenden Publikum vor. "Denn wir leben nun einmal in einem Land, in dem der Wert des einzelnen Menschen daran gemessen wird, was er ist und was er hat." - Basta.
MUTTER KOCHTE EINTOPF
"Haste was, biste was", sagten ja bereits die bundesdeutschen Sparkassen in den fünfziger Jahren. "Auch meine Eltern haben kein Geld gehabt. Wir waren keine reichen Leute". bringt Geißler sich tellerwaschend als Soziallegende in die Dorfgemeinschaft ein. Der Vater arbeitete als Landmesser in Rottweil, wurde von den Nazis sogar mehrere Male wegen seiner Kritik zwangsversetzt, Mutter kochte Eintopf für die ganze Woche, Erbsen, Linsen, Graupen, "Fünf Kinder waren wir am Tisch, trugen ohne Murren gegenseitig unsere Sachen auf."
SCHULDEN ÜBER SCHULDEN
Und heute? "Der Staat war vor kurzem noch bankrott. Irgendwann, wenn die Verschuldung so weitergegangen wäre, hätten wir eine Währungsreform bekommen. Und wer ist dann der Leidtragende? Das sind nicht die Leute,die Grundstücke und Häuser haben, sondern das sind doch Sie hier, wir alle miteinander, die Masse der kleinen Leute. Die Staatsverschuldung ist die unsozialste Politik, die es gibt, Wir haben über 300 Milliarden Mark Schulden, die müssen wir mit Zins und Zinseszins zurückbezahlen. Wer aber zahlt sie denn zurück? Doch nicht die Älteren in unserem Land. Nein, die junge Generation.
ÜBERN DURST GETRUNKEN
Wir trinken auf ihre Kosten einen kräftig über den Durst, schmeißen das Geld zum Fenster hinaus. Wir müssen sparen und nochmals sparen, wie wir es in den vergangenen Jahren schon erfolgreich gemacht haben. Machen wir endlich damit Schluss, engültig Schluss ... Nein", posaunt Heiner Geißler zum wiederholten Male seine Rede-Dramaturgie auslebend und wie aus dem Wahlkampf-Bilderbuch seinen Daumen Richtung Saaldecke streckend, "seien wir doch mal ehrlich zu uns selber. Die CDU fragt die Bürger in Wirklichkeit, ob sie tatsächlich die Kurpfuscher von gestern zu den Vertrauensärzten von morgen wählen wollen. Doch ganz gewiss nicht. Deshalb, weiter so Deutschland - stabile Preise, stabile Renten, mehr Arbeitsplätze. Das ist die CDU. Das ist unsere Zukunft und das alles in schwarz-rot-gold. Haben Sie gerade den Urschrei der sozialen Marktwirtschaft gehört?"
JOHLEN IM KULTUR-SAAL
Natürlich soll dieser imaginäre Parteien-Knall eine Richtungsentscheidung symbolisieren. "Die Grünen, diese Melonenpartei, außen grün, innen rot, sind sozusagen der politische Volkssturm der SPD, das letzte Aufgebot des Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987; *1913+1992) , um durch Wählertäuschung und Tricks an die Macht zu kommen." - Im Kultursaal johlen die Leute vor Begeisterung. So viel kostenlos-inszeniertes Polit-Entertainment, so viel kabarettreife, angestrengte Lockerheit, die da aus Bonn eingeflogen worden ist. Heienr Geißler schaut sich strahlen, lustvoll um, weil sein tausendfach eingeübtes Pathos, seine tausendste Wiederholung die Menschen nach wie vor von den Bänken holt. Auch Frau Heike Göbel klatscht im Dreier-Takt zum 1.500 Male. "Das hälste im Kopf nicht aus, wie er das immer wieder hinkriegt", sagt sie zum Fahrer Riemann. Fahrer Riemann zitiert brav den Chef: "Ein Politiker, der nicht reden kann, ist nur die halbe Miete wert." Da höre ich eine ältere Frau in den hinteren Reihen, die ein Verslein aufsagen will - vor Ergriffenheit versteht sich. Sie dringt im Getöse freilich kaum durch. Es ist die dritte Strophe des Kanzler-Kohl-Liedes, getextet vom Heimatsänger Gotthilf Fischer,dem Leiter des gleichnamigen Chores: "Nicht klagen, nicht verzagen, aufwärts schauen, Gott vertrauen, höre auf mit dem Weheklagen, denn du wirst dir selbst nur schaden."
STIMMUNGS-DEMOKRATIE
"Machen wir endlich Schluss, endgültig Schluss damit. Wir machen nämlich keine Stimmungspolitik, wir sind ja auch keine Stimmungsdemokratie", hatte Heiner Geißler in den Raum gedonnert. Über Schuldenabbau, über den Vorsorgungsstaat, über das satte Haben-Land Bundesrepublik sprach er nun. Keineswegs über unseren Erdball, mit jährlich über 1,6 Billiarden Mark militärischer Rüstung, der ein Atomwaffenarsenal beherbergt, das in seiner Sprengkraft 16 Milliarden Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT entspricht. Eine Welt, auf der das reichste Fünftel der Bevölkerung über 71 Prozent des Welteinkommens verfügt; ein Globus, auf dem 500 Millionen Menschen hungern, 600 Millionen Menschen ohne Arbeit sind und eine Milliarde in tiefster Armut leben - damit endgültig Schluss zu machen, auch den weiteren, abendteuerlichen Ausbau von Atomkraftwerken zu stoppen, das hatte Heiner Geißer in der Silzr Kulturhalle natürlich nicht gemeint.
MIT GOTT FÜR KERNKRAFT
Das atomare Desaster in der früheren Sowjetunion, denn "Tschernobyl" im Jahre 1986, eine der schwersten nuklearen Katastrophen überhaupt - das hatte Geißler in der Silzer Kulturhalle natürlich nicht gemeint. Denn dieser Reaktor sei nun mal ein "typisches Konstrukt der proletarischen Revolution" murmelt er beschwichtigend. Pastoral schließt er aus jenem Unglück die gläubige Erkenntnis: "Wer der Auffassung ist, mit dem Tod sei alles zu Ende, der kann halt mit dem so genannten Restrisiko naturgemäss weniger leben als derjenige, der diese irdische Existenz als eine vorläufige und gleichzeitig auf eine ganzheitlich unendliches Ziel ausgerichtet begreift." - Geißler-Stunden, CDU-Jahre.
RÜCKBESINNUNG AUF RELIGION
Heiner Geißler misstraut einer total transparenten, aufgeklärten Welt, in der die Menschen ihren rationalen Erkenntnissen folgen sollen. Ihm schwebt ein Dasein vor, in dem die Tugenden wie Anpassungsfähigkeit, Loyalität und Selbstdisziplin die Garanten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Dickicht des Sachzwang-Staates sind. Er fordert eine Rückbesinnung auf den Glauben an Gott, die Pluralität des Lebens, die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Ordnung, Stabilität, Führung und Elite. Praktisch Erlebtes steht gegen Gedachte oder Erwartetes, Sein gegen Sollen, Leben gegen System-Begriffe. "Unsere Werte beruhen nicht auf dem, was wir haben, sondern auf dem, woran wir glauben", postulierte Geißler schon in seiner Rede zum konstruktiven Misstrauensvotum gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982).
BEDINGTE WAHRHEITEN
Warum gutgläubig Zufriedene mit Problemen oder Verantwortlichkeiten überlasten, sie mit düsteren Stimmungen und Befindlichkeiten der Nation, Depression, Angst und Frustation unnötig konfrontieren? Wozu leistet sich ein Land wie Deutschland ihre leistungsfähigen Subsysteme aus Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Recht und Verwaltung? Kann nicht "das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu gefestigt, unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegszeit herausgeführt, die geistigen und moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens erneuert, unsere Jugend wieder Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft" gegeben werden?
KONSERVATIVE GEGEN-REFORMATION
Geißler und seine Union als Hoffnungsträger einer staatswirtschaftlich- sowie sozialpolitischen Wende, einer konservativen Gegen-Reformation am Ende des auslaufenden 20. Jahrhunderts. Der Generalsekretär als intellektuelle Speerspitze eines neukonservativen Denkens, ein Geißler, der soch offensiv mit dem Volk gegen die ordnungswidersetzenden Weltverbesserer verbünden will. Nicht etwa die Weltwirtschaftskrise, die rasanten technologischen Strukurveränderungen, die Globlisierungen ausufernder Finanzmärkte, der Bruch mit eine unbegrenzten Wachstum, die leeren Kassen schlechthin sind nach Meinung des Sozialphilosophen Günter Rohrmoser (*1972+2008) , einst Hochschullehrer an der Universität Hohenheim und CSU-Sympathisant. "der letzte Grund unserer Misere, sondern die Tatsache, dass wir mit den überfüllten Kassen geistig und moralisch nicht zurechtgekommen sind".
"IDENTITÄT WIE EIN CHAMÄLEON"
Für den markanten Denker Rohrmoser ist "die Konstruktion einer geschichtslosen, in ihrer nationalen Identität verunsicherten und eines gemeinsamen Ethos sich selbst beraubenden Industriegesellschaft Bundesrepublik zusammengebrochen". Folglich befinden sich nach Rohrmosers Befund auch die traditionellen Parteien in einem Identitätsverlust oder verändern ihre Identität wie ein Chamäleon je nach der Richtung, in der der Zeitgeist zu wehen scheint". Und er sieht zudem die Gefahr, dass aus einem "taktischen, situationsbezogenen Opportunismus ein prinzipieller Opportunismus zu werden droht".
CDU/CSU: OFFENBARUNGS-EID
Auf die Union an der politischen Macht gemünzt, erlebe die CDU "die Stunde des Offenbarungs-Eids." Denn die wachsende Kritik an Helmut Kohl (CDU-Bundeskanzler 1982-1998) dürfe nicht die Einsicht vergessen lassen, "dass die CDU weitgehend Kohl ist, dass ihre Mentalität und ihre innere Verfassung sich in seiner Position widerspiegeln, er ist der Ausdruck einer gewissen Dumpfheit, Provinzialität und eines diffusen Populismus, der die Partei beherrscht ...".
UTOPISTEN DIESER JAHRE
Den Utopisten dieser Ära ist es faktisch zuzuschreiben, dass der Politik ihre Steuerungsfähigkeit verlorenging, die Integrationskraft der parlamentarschen Demokratie schwindet, dirhc die "widernatürliche Gleichmacherei" der Sozialstaat als Umverteilungsinstanz missbraucht wurde. Die Progessiven, allen voran die Sozialdemokratie, haben demnach abgewirtschaftet, weil sie den innigen Wunsch nach einem überschaubaren, verlässlichen, stabilen, berechenbaren Dasein ignorierten, sie die Begrenztheit des Fortschritts, die Rohstoff- und Ressourcen-Knappheit, die Stagnation der Industrie, die zunehmende Krisenanfälligkeit von Großorganisation in einer Welt freier Märkte nicht rechtzeitig erkannt haben.
FORTSCHRITT UND SEIN GEGENTEIL
So auch "die dramatischen Folgen des Umschlags des Fortschritts in sein Gegenteil und die Erfahrung, dass alle Versprechen, aus denen seine Dynamik gespeist wurde, sich als unerfüllbar herausstellen"; betonte der wortgewaltige Tendenz-Wenden-Prediger Günter Rohrmoser in seinem im Jahre 1983 veröffentlichten Buch "Die Krise der politischen Kultur". Er kündigte eine über Jahre währende Tendenzwende an, die tief "in die Verfassung und den Zustand des öffentlichen und privaten Lebens" eingreift, es nachhaltig verändert, "als es uns bewusst sein mag". "Heimat", "Kultur" oder auch "Nation" sind ihm Synonyme für eine gemeinsam erlebte, traute Welt, die jedem Hoffnung und Glauben beläßt, die monogame Ehe und Familie zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, den ersehnten sozialen Aufstieg zu meistern, sich überhaupt in der arbeitsteiligen, höchst undurchsichtigen Computer- und Roboter-Gesellschaft zurechtzufinden, der drohenen Vereinsamung, aber auch der Anonymität zu entrinnen.
ROSSKUR ZUM DURCHBRUCH
Um dieser Roßkur zum Durchbruch zu verhelfen und die Tendenzwende für Jahrzehnte durchgreifend voranzutreiben, müssen nach Günter Rohrmoser "die Mächte des Nihilismus und der Destruktion" gebannt werden, "bedarf es des Rückgriffs auf andere Reserven als die einer Moderne, deren Tag sich zu neigen beginnt. Geistige Wene ist die Wende zur Wirklichkeit, die Programmierung eines Lebens, das nach dem Entzug des süßen Giftes der Utopie sich fragte, wie Selbstentfaltung ihren Sinn behalten kann".
KONSERVATIVE KRISEN-THEORIEN
Tatsächlich beruhr die aus den USA importierte neo-konservative Krisentheorie auf zwei zentralen Eckpfeilern: zu viel Sozialstaat, zu viel Demokratie. So sei das Debakel in den westlichen Industrie-Nationen ausschließlich ihrer aufmerksamen Sozialfürsorg anzukreiden, die sich zu einer aufgelblähten Umverteilungs-Bürokratie entwickelt habe. Der New Yorker Sozialwissenschaftler Irving Kristol , einer der schärften Verfechter eines klassischen Untennehmer-Kapitalismus in den Vereinigten Staaten, ist davon überzeugt, dass die bisherige Politik, "die massive Eingrifffe des Staates in den Markt erlaubt, gegenüber Sitte und Moral jedoch absolute Laissez-faire erlaubt, für eine bizarre Umkehrung der Prioritäten" stünde. Anspruchsdenken, Versorgungsidylle, Gleichmacherei, staatliche Entmündigung, Verkümmerung bewährter Tugenden sie das Ergebnis. Des Menschen große Erwartung liege aber "in einem geistig und moralischen neubelebten Kapitalismus".
AUS GOLD WIRD GLÜCK
Nach dem erprobten Muster, schont die Reichen, sie machen aus Gold Güter und aus beiden irdisches Glück, entpuppt sich der Neokonservativismus in den achtziger Jahren als die ideologische Plattform, auf der eine Politik der Rückverteilung zugunsten der Besserverdienenden verwirklicht werden soll.

Dienstag, 1. August 1989

Aus den Augen, aus dem Sinn - Trümmerfrauen der neunziger Jahre


















Männer Vogue, München
8. August 1989
von Reimar Oltmanns



Die Polit-Dramaturgie der Selbstdarstellung zu jedem beliebigen Thema, hohle Versprech- ungen, telegene "Kalendersprüche" mit ihren einhergehenden Vertrauensbrüchen waren im Politikverhalten der einstigen Hauptstadt am Rhein alltäglich geworden. Seit dem ver- mehrt Frauen mit einem neuen feminine Bewusstsein in die Politik eingestiegen sind, kämpften diese zehn Politikerinnen um ihre Macht, Ansprüche und um eine feminine Gestaltungskraft. Im Bonner Milieu wurden sie zu den Trümmerfrauen der neunziger Jahren (in der Bildreihenfolge).

Renate Schmidt, 46, hat sich zu einer klassischen Hoffnungsträgerin der Sozialdemokratie gemausert. Die Witwe mit drei Kindern hat es notgedrungen lernen müssen, sich in der raubeinigen, zuweilen Bier lallenden Bonner Männerwelt ("Sie sehen besser aus, als Sie reden") durchzusetzen und ihre Identität dennoch zu wahren. Ein kontinuierlicher Überzeugungswandel bleibt nicht aus. Renate Schmidt: "Im Jahr hätte ich auf die Frage, 'Bist du Feministin?' mit Unverständnis und Abwehr reagiert, 1988 bin ich sauer, wenn ich von Feministinnen ausgegrenzt werde. 1968 war bei noch das Bedürfnis, Männern zu gefallen, vorherrschend, 1988 der Wunsch, als Frau gut zu sein und zu bestehen. Wir sind zwar die Leichtlohngruppe des Bundestages, aber leicht haben wir's deswegen nicht. Nur haben wir festgestellt, dass wir eine Macht sind."

Herta Däubler-Gmelin, 46, gelang es als erste Frau zur stellvertretenden SPD-Parteivorsitzenden aufzusteigen - und das, obwohl Hans-Jochen Vogel die "sehr kompetente und bienenfleißige Herta" da gar nicht haben wollte. Genossin Herta war hochschwanger, als sie 1972 in den Bundestag einzog und gemeinsam mit Willy Brandt mehr Demokratie wagen wollte. Selbstverständlich zählt Herta Däubler-Gmelin zu jener Frauen-Generation , der in der SPD nichts geschenkt wurde, die sich um Rede um Rede, Stimmzettel um Stimmzettel nach oben durchkämpfen musste. In der nächsten SPD-geführten Bundesregierung ist sie als Bundesjustizministerin vorgesehen. Vielleicht kann sie in dieser Eigenschaft einmal ihren langgehegten Tagtraum verwirklichen, "wenigstens einmal Jil Sander persönlich kennenzulernen. Auf ihr Parfum möchte ich schon heute nicht verzichten."

Ursula Maria Lehr, 59, ist ein Paradebeispiel dafür, wie unversöhnlich sich Wissenschaft und Politik gegenüberstehen. Der Heidelberger Psychologie-Professorin ist der plötzliche Umstieg von der Wissenschaft in die dumpfe Machart Bonner Politik missraten. Ein "Oh" und "Au" raunten die Herren im feinsten Nadelstreif beim Antritt in der Fraktion entgegen. Gelächter brach aus, als Frau Ministerin erklärte, dass sie über 600 wissenschaftliche Veröffentlichungen habe. Frau Lehr nach wenigen Wochen im Amt: "Ich muss ja nicht ewig Ministerin bleiben."

Gerda Hasselfeldt, 38, bringt alle Voraussetzungen mit, sich zum Bumerang der Frauenbewegung zu entpuppen. Als der Kanzler die CSU-Politikerin aus Regen im Bayerischen Wald zur Bundesministerin kürte, rühmte er: "Sie ist eine Frau, jung, Volkswirtin, Mutter von zwei Kindern." Ergo eine Repräsentantin der Gruppierungen, die der CDU/CSU als Wählerinnen scharenweise davonlaufen. Gerda Hasselfeldt zu ihrer atemberaubenden Polit-Karriere: "Ich war erst richtig baff, als mich der Kanzler nichts ahnend in sein Kabinett holte." Unter klassischer Politik verseht sie: "Zum richtigen Zeitpunkt tätig zu werden. Ein bisschen Ellenbogen braucht man schon als Frau. Und einen langen Atem."

Irmgard Adam-Schwaetzer, 47, pflasterte ihren Werdegang mit Frauenleichen. Die menschlich ruinöse wie wortbrüchige Wende ist mit dem Namen der promo-vierten Pharmazeutin aus Düren untrennbar verbunden. Früher als andere Frauen, die im politischen Geschäft um ihre Identität kämpfen mussten, hatte sie erkannt, dass die moralische Unbestechlichkeit in der FDP eine verblasste Tugend ist. Folglich erkaufte sich die gewiefte Dame ihren politischen Einfluss stets mit einem eloquent verbrämten Opportunismus. 1982 fungierte sie als Informationsbeschafferin für den damaligen Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher aus dem sogenannten feindlichen Frauenlager. Mit Hintergrundinformationen über die renitenten Schwestern und ihr Privatleben lieferte sie ihre Kolleginnen ans bereits aufgeklappte Messer. Die Partei dankte es ihr und ließ die visionslose Apothekerin Stufe um Stufe nach oben purzeln.

Anke Fuchs, 52, sie wird immer wieder gezielt als erste SPD-Kanzlerkandidatin ins Gespräch gebracht. Tatsache ist, dass Frau Fuchs zu den qualifiziertesten bundes-deutschen zählt und ihr selbst von den Damen der Union eine Führung im Kanzleramt "ohne weiteres " (Rita Süssmuth) zugetraut wird. Anke Fuchs ist eine Sozialdemokratin mit Stallgeruch, die in der Politik hauptsächlich durch zupackende Männer geprägt wurde und folglich zu theoriebeflissenen "Schickimicki-Sozialisten"nur schwerlich einen Zugang findet. Sie hält es lieber mit dem Vorschlag-hammer, "um die Genossen auf Trab zu bringen. Denn Ärger darf uns nicht abschrecken".

Cornelia Schmalz-Jakobsen, 55, hat einen typisch fraulichen Part über-nommen. Sie soll besonders darauf achten, dass die Liberalen keineswegs nur als eine profitable Tantiemenpartei der sozialen Kälte beim Wähler ankommen. Die frühere Berliner Familiensenatorin soll auch Nestwärme, Behaglichkeit und soziale Zulänglichkeit vor dem Publikum glaubhaft akzentuieren. Ganz nach der Infas-Weisheit: Lambsdorff fürs Grobe, Frau Schmalz-Jakobsen fürs Eingemachte. Parteichef Lambsdorff zu dieser in feministiaschen Zeitläuften notwendigen Arbeitsteilung: "Natürlich muss ich eine Frau nehmen, und ich möchte eine Dame." Die Dame Schmalz-Jakobsen darauf: "Ein Amt braucht man nicht zu behalten, aber die Selbstachtung, Herr Lambsdorff. Ich komme nach Bonn."

Rita Süssmuth, 52, ist die einzige Repräsentantin in der arg ramponierten Politikerklasse zu Bonn, die quer durch alle Schichten der Bevölkerung unein-geschränkt Vertrauen genießt. Ob als Familienministerin oder als Bundestags-präsidentin - Frau Süssmuth vermittelt den Menschen draußen im Lande ein neues Politikgefühl. Mit ihrem Engagement als zweite Frau des Staates kann Kohl beim Wähler wuchern. Aber er wird sich auf einiges gefasst machen müssen. Rita Süssmuth: "Wir Frauen werden schon hinreichend lästig werden."

Trude Unruh,64, Vorsitzende der aufsässigen Altenorganisation "Graue Panther",mag sich als parteilose Bundestagsabgeordnete in der Fraktion der Grünen mit ihrem erreichten Power-Zustand nicht zufriedengeben. Mit 30.000 Mitgliedern im Hintergrund probt "die unruhige Unruh" die Rebellion. Unruhs Ziel: Das allzu oft erschreckend armselig Dasein alter Leute, gar die Menschenrechtsverletzungen in Altenheimen, ins allgemeine Bewusstsein zu drücken, "Graue Panther sind für alle neuen Gedanken offen, wenn sie dazu beitragen, die Lebenssituation der alten Menschen zu verbessern."

Waltraud Schoppe, 47, fädelte erstmals ein vertrauliches Treffen verschiedener Frauen aus allen Bundestagsfraktionen im Bonner Presseclub ein. Das war mehr als ungewöhnlich, weil ansonsten die Herren MdB's nur "das fraktionsübergreifende Saufen gewöhnt sind" (Schoppe). Für die Gymnasiallehrerin Schoppe aus Bassum ist die Gewissheit, dass Veränderungen im Verhalten der Geschlechter untereinander hauptsächlich von Frauen ausgehen. Die Abgeordnete vor dem Bundestag: "Eine wirkliche Wende wäre es, wenn hier oben zum Beispiel ein Kanzler stehen und die Menschen darauf hinweisen würde, dass es Formen des Liebesspiels gibt, die lustvoll sind und die Möglichkeit einer Schwangerschaft ausschließen ..."












Montag, 1. Mai 1989

"Nähe korrumpiert" Hofberichterstatter in der Hauptstadt























Ist der Hauptstadt-Journalismus aus Berlin tatsächlich wahrhaftiger, lebensnaher, kritischer - unabhängiger geworden als zu Zeiten des Treibhauses in Bonn mit seinen angepassten Artigkeiten? Oder macht immer noch die Lokalität die Nachricht, stimmt nunmehr der Ereignis-Charakter mit seinen Berliner Show-Effekten die Inhalte dieser Jahre ? - Der Journalist Reimar Oltmanns hat zwei Bücher über seine Erlebnisse als Korrespondent auf dem Parkett am Rhein geschrieben und dabei nichts und niemanden geschont. Johannes Nitschmann hat für die feder Oltmanns' Bücher gelesen und mit dem Autor gesprochen.


Die Feder, Stuttgart
5/1989


Als der Journalist Reimar Oltmanns Anfang der 70er Jahre als Korrespondent ins Bonner Stern-Büro kam, war er "zunächst überrascht darüber, wie vertraut-intim Politiker, Journalisten und Ministerialbeamte miteinander umgingen". Bald schon stellte er fest, dass "die Herren aufeinander einspielt waren". Für den Neuankömmling "roch dieses Ritual nach einem Komplott zwischen Mächtigen und Eingeweihten". Inzwischen hat Oltmanns die Nase voll. Seine Bücher, in denen der Autor am Beispiel der beiden Spitzenpolitiker Heiner Geißler (CDU) und Jürgen Möllemann (FDP) die Innenabläufe der Macht in der "Bonner Operetten-Republik" aufzeigen will, werden in der feinen Journalisten-Gesellschaft zumeist nur mit spitzen Fingern weitergereicht. Zwar werden die farbigen Sittengemälde über die "Inzuchtzirkel" in der Bundeshauptstadt von den Presseleuten begierig aufgesogen, nicht zuletzt, weil der umstrittene Autor unter der bewussten Inkaufnahme journalistischer Regelverletzungen (wie dem Durchbrechen der Vertraulichkeitsabsprachen) manches Tabu bricht und nicht an den vertrauten Sprachregelung der Partei-Kommuniqués entlang schreibt.

NESTBESCHMUTZER

Aber Oltmanns gilt unter vielen seiner Kollegen als "Nestbeschmutzer", seine Bonn-Bücher werden in den Medien mehr oder weniger totgeschwiegen. Die naserümpfende Empörung über den Autor richtet sich am Ende freilich gegen die Bonner Verhältnisse selbst - und ihre Hauptakteure, die Politiker, die Medienleute und die Mächtigen in Verlagen und Funkanstalten.

Allerdings sind Oltmanns Bonner Milieu-Studien bisweilen zu einem arg pauschalen Verriss über die Journalisten geraten: manch notwendige Differenzierung, an denen es diesen Reports zweifelsohne gebricht, ist offenbar durch den Blick zurück im Zorn verstellt worden. Und dennoch hat sich der Autor durchaus couragiert eines Themas angenommen, das für den eigenen Berufsstand offensichtlich keines ist.

DOPPELPASS-SPIEL IM HOFE DER MACHT

Das augenfällige Doppelpass-Spiel zwischen Politik und Presse in Bonn haben vor Oltmanns durchaus schon andere Insider problematisiert: "Exclusive Informa-tionen für Journalisten sind die vornehmste Art der Bestechung", hat der ehemalige Bonner Regierungssprecher Conny Ahlers (*1922+1980), selbst ein versierter Medienmann mit Blick auf seine Klientel gesagt. Für Armin Grünwald, stellv. Regierungssprecher der sozialliberalen Koalition, beruht die Symbiose zwischen dem Bonner Pressekorps und den Parteipolitikern auf "einem strengen Comment von Spielregeln, der dafür sorgt, dass jeder es mit Fleiß vermeidet, den anderen in die Pfanne zu hauen oder bloßzustellen."

Oltmanns hat nach eigenem Bekunden bei seinen Reports über die Innenansichten des Machtgeplänkels in der Bundeshauptstadt auf solche "Rücksichtnahmen gepfiffen". Respektlos rechnet er in seinem Buch über die "Möllemänner" ab und mit jener "Hundertschaft von Menschen, die sich in der quälenden Enge des Bonner Regierungsviertels drängt und sich mit auf ihren schnüffelnden Voyeurismus berufen darf".

'CASH IN DIE TÄSCH'

Originalton Oltmanns: "Derlei Journalisten, das öffentliche Interesse als Berufsethos vor sich hertragend, sind darauf geeicht, Freud und Leid mit aufgesetzter Anteilnahme anzubohren, weil natürlich in schwierigen Ausnahmesituationen oder lallendem Bar-Palaver persönliche Zugänge, gar subtile Abhängigkeiten sich anbahnen. Ganz nach dem Motto 'cash in die Täsch' sind es eben verschwommene, aber auch bar bezahlte Unterwürfigkeiten, die später die Möglichkeit schaffen, Fakten und Intrigen, Gerüchte und Denunziationen je nach Meinungsbefund, aber auch Publikumsdruck aus den Fraktionen und Ministerien abzurufen ... ... In keiner Hauptstadt der westlichen Welt arbeiten Politiker und Journalisten so versteckt eng, so vordergründig harmonisch zusammen wie in Bonn, das sich nicht umsonst als informationsfreudigste Hauptstadt empfiehlt. Kritisch, unabhängiger, manchmal auch schmerzlicher Journalismus, wird hier zum Fremdbegriff."

"UNGLAUBLICHE GESCHWÄTZIGKEIT"

Der ehemalige Regierungssprecher Grünwald will in der Bundeshauptstadt die Beobachtung gemacht haben, dass sich dort die Journalisten mit den Politikern "die geschnipselte Macht" teilen und dass sich aus diesem Geschnipsel die "unglaubliche Geschwätzigkeit" herleitet, "die die rheinische Kapitale vor allen Regierungssitzen der Welt auszeichnet." Die Selbstverleugnung vieler Journalisten liegt für Oltmanns darin, dass sie sich ein halbes Leben lang vorgaukelten, der "Innenansicht der Macht" tatsächlich teilhaftig zu sein.

ABFÜTTERN STETS AM BUFFET

In einem Beitrag für das Magazin Transatlantik hat sich der Bonner Hörfunk-korrespondent Peter Zudeick ("Ich habe mir damals geschworen, an dieser Kumpanei nicht teilzuhaben und musste bald feststellen, dass das nicht geht") den Kopf darüber zerbrochen, wie die auffällig vielen politischen Wahlverwandtschaften der Bonner Journalisten angebahnt werden. Sein Ergebnis: "Nähe korrumpiert." Dabei seien Einladungen oder die vielen vornehmen Essen und üppigen Buffets in der Bonner Polit-Gesellschaft gar nicht einmal das Problem: "Bonner Korrespon-denten verdienen in der Regel genug, um sich einen kommoden Lebenswandel selbst leisten zu können." Wenngleich Zudeick da manchmal schon Zweifel befallen: "Wenn man sieht, wie die Damen und Herren Kollegen wie die Schweine auf ein Buffet losstürzen, oder wenn man Heerscharen von Journalisten beobachtet, die man bei Pressekonferenzen und anderen Arbeitsterminen nie, beim unentgeltlichen Abfüttern aber ständig sieht. Auch die Reisen machen es nicht, die gelegentlich recht unverstellt nach Bestechung aussehen: hier drängen sich in der Regel immer dieselben um die Großkopfeten, werden zuweilen auch noch Berichterstattungs-Wohlverhalten ausgesiebt."

Zudeick hat die Erfahrung gemacht, dass, "wer die Kontaktpflege in Bonn intensiv betreibt", mittelfristig ein dichtes Netz von Bekanntschaften aufbauen könne, "die er mal eben anrufen kann, wenn er bestimmte Informationen braucht". Wer freilich übertreibe - und hier liegt nach Ansicht des Hörfunkkorrespondenten das eigentliche Dilemma werde "bald nichts anderes mehr um die Ohren haben" als diese berüchtigte "Umgebung", er werde schließlich "zur Distanz nicht mehr fähig sein."

DIE LOKALITÄT MACHT DIE NACHRICHT

Typisch wie Nachrichten in dem Treibhaus der Bundeshauptstadt gedeihen: "Bonner Vorkommnisse erhalten ihren Ereignischarakter nicht durch den Charakter des Ereignisses, sondern dadurch, dass sie in Bonn stattfinden. Die Lokalität macht die Nachricht, nicht der "Inhalt", urteilt Zudeick. "Die berühmten 'politischen Kreise', abends beim Schoppen in einer Landesvertretung. 'diplomatische Kreise' aus dem Auswärtigen Amt und dem diplomatischen Korps bei einem der unzähligen Cocktails in Botschaften oder Konsulaten, alle zusammen bei Ausstellungseröffnungen und Konzerten, die Parteien bei Veranstaltungen in ihren Zentralen, 'Regierungskreise' bei Kanzler- oder Ministerreisen im Flugzeug, im Hotel, im Bus, Stallwächterpartys, Sommerfeste, Oktoberfest, der Bundespresseball, die Weihnachtsfeste im früheren Postministerium, gern besucht wegen der Briefmarken, die es da umsonst gibt - wer will, kann unentwegt an der Bonner Symbiose zwischen Politik und Journaille teil-nehmen, die manch Außenstehenden an schiere Kumpanei erinnert."

KUMPANEI

Diese offenkundige Kumpanei zwischen Politikern und großen Teilen der Presse geht in der Bundeshauptstadt einher mit einem zunehmenden "Hinhalte-Journalismus", wie der Bonner Büroleiter des privatkommerziellen Radio Luxemburg, Geert Müller-Gerbes, jüngst in einem "Werkstattgespräch" der nordrhein-westfälischen CDU beklagte: "Man hält ein Mikrophon hin, in der sichereren Erwartung, irgendwas wird schon kommen." Nach Ansicht des Literatur-Papstes der Frankfurter Allge-meinen Zeitung (FAZ), Marcel Reich-Ranicki, haben die Fragen und Antworten bei den stereotypen Bonner Politiker-Interviews häufig kaum mehr etwas mitein-ander zu tun. Ein Meister dieser langweiligen Frage-und Antwortrituale sei Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP): "Wenn Sie fragen, 'Was halten Sie von den deutsch-sowjetischen Beziehungen?', antwortet Genscher ungeniert: 'Wir müssen in Ecuador folgendes tun ...' ".

MISERE SIND "GESPRÄCHSZIRKEL"

Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), sozusagen der Prototyp des "Tagesschau-Politikers", stellte sich bei dem Werkstattgespräch seiner Partei bei diesem Fragenkomplex ziemlich dumm und suchte die Ursachen für den Bonner Hinhalte-Journalismus mit grüblerischer Denkerstirn in der verkürzten Darstellungsform der Medien: "Sie können in Einsdreißig ein Problem nicht umfassend packen. Und die Leute merken's ja auch gar nicht, wenn man die Frage nicht trifft."

Und ob: "Die Leute merken's natürlich und fühlen sich verarscht", konterte der Düsseldorfer General-Intendant Volker Canaris. Darin liege schließlich einer der Gründe für die wachsende Politik- und Parteienverdrossenheit. "Die Politiker erwecken ja gerade den Eindruck, als wenn sie in Einsdreißig etwas Kompliziertes er-klären könnten." Stattdessen sonderten sie in den Interviews häufig nur Plattitüden an, "weil uns die Politiker ja nichts mitteilen, sondern nur den Eindruck erwecken wollen, das sie dies angeblich täten." Aber "da Schlimmste" dabei ist, sagt Canaris in der Düsseldorfer CDU-Werkstatt, "dass sich die Journalisten das auch noch gefallen lassen".

Eine Ursache für die Übelstände in der Bonn-Berichterstattung sehen ihre Kritiker auch in den berüchtigten Gesprächszirkeln, zu denen sich die Bonner Korres-pondenten, "meist artig nach Couleur sortiert" (Zudeick), zusammengeschlossen haben, um sich Politiker und andere Informanten aus dem öffentlichen Leben zu vertraulichen Hintergrundgesprächen einzuladen.

"Wer als Bonner Journalist 'in' sein will, der hat auf klare Verhaltensregeln zu achten, was und vor allem wie er sein Herrschaftswissen weitergeben darf", sagt Reimar Oltmanns, der darin "auch eine Form der Korruption" sieht. Durch die in diesen Gesprächskreisen verabredeten Vertraulichkeitsstufen eins, zwei und drei werde "nicht einmal ein Bruchteil der sogenannten Top-Informationen" öffentlich, behauptet Oltmanns.

Immerhin machen zum Beispiel die Spiegel-Redakteure diese Entmündigung nicht mit. "Wir gehen da bewusst nicht hin", sagt der Bonner Spiegel-Bürochef Dirk Koch: " Wir wollen uns nicht einbinden lassen, indem wir zusagen, dass wir nicht schreiben, was wir dort hören. Nicht selten wissen wir auch so, was dort erzählt wird." Koch kennt die Absicht und ist verstimmt: "Solche Zirkel werden zuweilen von Poli-tikern auch als Mittel genutzt, die Veröffentlichung heikler Informationen zu ver-hindern. Und das passt uns nicht."

Bonns neuer Informationsminister Hans Klein (CSU) ist mit den Medienleute in der Bundeshauptstadt denn auch ganz zufrieden: "Ich würde", sagte er zu seinem Amtsantritt, " an den Journalisten nicht viel ändern."

TOTAL TOTE HOSE ... ...

feder-Gespräch mit Reimar Oltmanns über das weithin zweifelhafte Zu-sammenspiel von Politik und Presse in Bonn.

feder: Kollege Oltmanns, in ihrem jüngsten Bonn-Report über die "Möllemänner" fällen Sie ein geradezu vernichtendes Urteil über die in der Bundeshauptstadt ar-beitenden Journalisten. "In keiner Hauptstadt der westlichen Welt", so schreiben Sie dort, "arbeiten Politiker und Journalisten so versteckt eng, so vordergründig harmonisch zusammen wie in diesem Bonn." Für das Bonner Pressekorps ist "kritischer, unabhängiger, manchmal auch schmerzlicher Journalismus" nach Ihren Beobachtungen "ein Fremdbegriff". Gibt es denn tatsächlich nur journalistische Jubel-perser und als Publizisten getarnte Parteipolizisten in der Bundeshauptstadt?

Oltmanns: Nach meinen Erfahrungen ist das leider so, bis auf wenige Ausnahmen, zu denen von der Medienprominenz beispielsweise die Spiegel-Redakteure Jürgen Leinemann und Hartmut Palmer und Gunter Hofmann von der Zeit sowie der für verschiedene Publikationen arbeitende Korrespondent Werner Perger gehören. Ein kritischer, ein unabhängiger Bonn-Journalismus ist nach meinen Beobachtungen vor allem deshalb nicht möglich, weil sich die Journalisten von den Parteien und Politikern weitgehend in dieser von der Außenwelt wohlbedacht abgeschirmten Käseglocke haben instrumentalisieren lassen. Nahezu jeder Bonner Korrespondent gehört mindestens einem dieser parteipolitisch eingefärbten Gesprächskreise an, in denen unter gewissen Vertraulichkeitsstufen - unter eins, unter zwei, unter drei - Herrschaftswissen vermittelt wird, über das entweder überhaupt nicht oder nur mit erheblichen Einschränkungen berichtet werden darf. So etwas macht lammfromm. Wer als Bonner Journalist "in" sein will, der hat auf klare Ver-haltensregeln zu achten, was und vor allem wie er sein Herrschaftswissen weitergeben darf. Nicht einmal ein Bruchteil der sogenannten Top-Informationen hat an die Öffentlichkeit zu kommen. Dies läuft zwar schon seit Jahrzehnten so. Es wird offenbar aber erst jetzt augenfällig in einer Zeit, wo der Glaubwürdigkeitsverlust der Politik weiter zunimmt und der Gestaltungsspielraum für die Bonner Politik immer enger wird. In solch einer Situation stellt man sich schon eher die Frage: Was wird da überhaupt noch vermittelt, was kommt da überhaupt noch rüber?

feder: Im Klartext kommen Sie doch zu dem Ergebnis, dass uns die Mehrheit der Bonner Korrespondenten nur mehr eine von den Parteien und Politikern geschönte Scheinwelt vermittelt.

Oltmanns: Das ist absolut so. Aus meiner Erfahrung als Bonner Korrespondent kann ich dies nur unterstreichen. Da geben Politiker den ihnen vertrauten Presse-leuten bis ins einzelne Sprachregelungen vor, da degeneriert Journalismus zu billiger PR-Arbeit. Das ist im Grunde genommen eine fiktionale Welt, die den Leuten draußen aus der Bundeshauptstadt vermittelt wird. Das geht damit los, wie stark der Mann ist, es geht fortlaufend um innerparteiliche Rankünen, taktisch-strategische Einschätzungen, um sogenannte dynamische Abläufe. Zum größten Teil ist das ohne jede inhaltliche Substanz, vieles ist eben Fassade. Total tote Hose, wenn man ein bisschen genauer hinguckt. Und das eigentliche Problem besteht darin: Wenn man sich in Bonn als Journalist diesen Spielregeln nicht unterwirft und da letztendlich - von ein paar Nuancen abgesehen - nicht mitpfeift, hat man es dort überlebensschwer. Unabhängiger, kritischer Journalismus - wie etwa nach Gangart des US-Aufklärungs-Journalismus - der ist halt in Bonn verpönt. Angepasste Artigkeiten werden honoriert.

feder: Aber die Spezies des knallharten Rechercheurs kann doch in Bonn nicht gänzlich ausgestorben sein?

Oltmanns: Natürlich würde ich das so pauschal nicht sagen. Aber die Zeiten haben sich inzwischen gewaltig geändert. In den siebziger Jahren, zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition, gab es nach meinen Beobachtungen doch wesentlich mehr Journalisten in Bonn, die sich nicht mit einem Sektfrühstück abspeisen ließen, die sich nicht zufrieden gaben mit irgendwelchen banalen Quotes. Da wurde mehr real dates und real facts erfragt, da kam auch mehr zum Vorschein, in welch einem deformierten Treibhaus da Politik gemacht wird,dr wie die Menschen dort zu zerbrechen drohen. Dies hängt zum Teil auch mit der Pressepolitik zusammen, die von der amtierenden Bundesregierung und in der Bonner CDU-Zentrale gefahren wird. Jeder politische Korrespondent ist da inzwischen nach seiner politischen Gesäßgeografie taxiert.

feder: Sie gehen mit Ihren Thesen sogar so weit, zu behaupten, dass selbst die ver-meintlichen Enthüllungs-Geschichten zumeist nicht das Produkt einer knallharten Recherche sind, sondern oftmals auf Intrigen, Durchstechereien und dubiosen Doppelspielen innerhalb der Regierungszentralen, Ministerien und Parteien basieren.

Oltmanns: Das entspricht exakt den Tatsachen. Je intimer der Umgang ist zwischen Journalisten und Politiker, desto mehr wird da natürlich auch Kanonenfutter gegen andere Politiker geliefert,mit dem dann die adäquaten Bonner Skandale produziert werden. Die Journalisten in Bonn sind von den Politikern unglaublich abhängig, aber auch die Politiker von den Journalisten. Das ist eine pathologische Symbiose auf Gedeih und Verderb. Dabei ist dann nicht mehr primär interessant, was nach draußen geschrieben wird und für die Information der breiten Bevölkerung wichtig wäre, Nein, da geht es in erster Linie immer nur um taktische Rankünen und inner-parteiliche Machtkämpfe.

feder: Ist die von Ihnen wiederholt angesprochene Abhängigkeit zwischen Politikern und Journalisten eine Bonner Gesetzmäßigkeit sozusagen, also eher strukturell begründet, oder sind für die Anfälligkeiten der Macht eher individuelle Gründe ausschlaggebend?

Oltmanns: Ich würde schon sagen, dass man hier von einer strukturellen Abhängigkeit sprechen kann, weil dies ja in Bonn im Prinzip schon seit Jahrzehnten gang und gäbe ist; mal auffälliger, mal versteckter. Damit ich nicht missverstanden werde: Keiner hat etwas dagegen, wenn sich Journalisten mit Politikern gut ver-stehen und einen kritischen Meinungsaustausch pflegen. Die Abgängigkeit in Bonn haben meines Erachtens aber auch in der mangelnden personellen Fluktuation ihre Ursache: ein Personalaustausch findet da kaum mehr statt. Die Journalisten, die dort sind und überleben wollen, müssen sich auf dieses Spielchen schon einlassen.

feder: Und Spielverderber werden isoliert?

Oltmanns: Dies kommt immer sehr auf das Medium an, das sie vertreten. Einen Kollegen vom Spiegel beispielsweise kann da so schnell keiner etwas anhaben. Aber ein Korrespondent, der dort etwa für eher unbedeutende Provinzblätter schreibt, wird sofort stigmatisiert oder systematisch ausgegrenzt, wenn er die entsprechenden Spielregeln verletzt oder gegen fest gefügte Rituale verstößt - und zwar stigmatisiert im Kollegenkreise.

feder: Das funktioniert so etwa wie Selbstreinigung im negativen Sinne?

Oltmanns: Ja, durchaus. Es gibt dafür eine ganze Reihe von Beispielen, die ich mit Rücksicht auf die betroffenen Kollegen hier nicht namentlich erwähnen möchte.

feder: Wenn Ihre Beobachtungen der Bonner Szene denn einigermaßen zutreffend sind, dann hat das, was da in den Pressehäusern und Korrespondentenbüros abläuft, mit Journalismus im eigentlichen Sinne nicht mehr viel zu tun. Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, wie durchaus kritische Köpfe die in Ihrem Buch beschriebene "Selbstverleugnung" jahrelang mitmachen können und es kaum einmal Kollegen gibt, die versuchen, diese unseligen Info-Kartelle zu durchbrechen?

Oltmanns: Also, es hat da in der Vergangenheit schon immer wieder mal Leute gegeben, die versucht haben, dies zu durchbrechen - mit unterschiedlichem Erfolg. Ich will mich da nun nicht als jemand hinstellen, der diese Vorgänge als erster beschrieben hat. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, warum Leute das alles mitmachen. In meinen Augen sind dies in den meisten Fällen gebrochene Persönlichkeiten, die ihre ganze Kraft darauf verschwenden, dieser Fassadenkultur nachzulaufen ... ...

feder: Menschen, die erst im Bonner Polit-Alltag gebrochen werden?

Oltmanns: Ich finde schon. Die Affinität zur Macht, die sich dort von den Politikern auf die Journalisten überträgt, ist eine spezielle Bonner Gangart. Um von diesem Bonn überhaupt noch einigermaßen fasziniert zu sein, muss der entsprechende Journalist schon eine Affinität haben, Herrn Bundeskanzler im "Otto Lilienthal" interviewen zu dürfen oder in einem der Geprächskreise mit der Polit-Prominenz zu plaudern. Sinn dieser Übungen: Die Journalisten sollen einfach das Gefühl vermittelt bekommen, sie seien auch mächtig. Und dabei fängt die Korrumpierbarkeit an. Mir ist immer wieder aufgefallen, dass sich nur noch ganz wenige Kollegen selbstkritisch fragen, was eigentlich beim Leser, für den sie ja da sind, rüberkommt von ihrer Bonn-Berichterstattung. Das ist schon erschreckend, wenn Sie sehen, dass in den meisten Fällen nur das wiedergekäut wird, was von den Politikern an Sprachregelungen vorgegeben wird. Es ist ja nicht so, dass in diesen vertraulichen Gesprächszirkeln erklärt wird: "Darüber dürfen Sie nicht schreiben." Da wird ja auch ganz klar gesagt: Die und die Sprachregelung ist wichtig. Und dann sind eben alle Journalisten von den Parteien politisch klar ein- und zugeordnet. Ich habe bei meinen Recherchen über CDU-Generalsekretär Geißler ja die Journalisten-Liste gesehen, die da im Pressereferat auf dem Schreibtisch lag. Da stand drauf, wie die einzelnen Journalisten einzuschätzen sind, da waren spezielle Zeichen vermerkt, wie mit denen umzugehen ist.

feder: Ein Einzelfall?

Oltmanns: Nein, so etwas gibt es nach meiner Überzeugung in allen Bonner Parteizentralen.

feder: In Ihrem Geißler-Report "Der Intrigant" behaupten Sie, die Bonner CDU-Zentrale habe parteifromme Journalisten sogar in einem Computer auf ihre mögliche Verwendungsfähigkeit bei der Vergabe von lukrativen Stellen im Rundfunk abgespeichert.

Oltmanns: Dies habe ich am Beispiel des Kollegen Werner P. D'hein festgestellt, mit dem ich damals im Bonner stern-Büro zusammengearbeitet hatte. D'hein bekam seinerzeit permanent Angebote von der Union aus dem Bonner Konrad-Adenauer-Haus, wo ich die Sache dann auch recherchiert habe. Er wurde mehrfach gefragt, ob er nicht den und den Job annehmen wolle: er sei doch dafür bestens geeignet, und die Parteizentrale könne dies managen, sie habe schließlich Einfluss darauf, weil Stellen im rechtlich-öffentlichen Rundfunk nach dem Parteiproporz besetzt würden. Ich meine, wir haben hier zweierlei festzustellen: Das eine ist der Versuch der Parteizentralen, auch im privatwirtschaftlichen Bereich, die Journalisten in Bonn wohlfeil zu intrumentalisieren und ihnen zugleich eine Hoffähigkeit zu attestieren, sie also mit einer gewissen Bonität auszustatten. Auf der anderen sitzen da lammfromme Kommuniqué-Journalisten, die das schreiben, was ihnen von Parteien und amtlichen Stellen vorgegeben wird.

feder: Was steckt denn da für ein Selbstverständnis bei den einzelnen Bonn-Korrespondenten dahinter, wenn man ihnen diese Sachverhalte im kollegialen Gespräch erörtert?

Oltmanns: Dahinter steckt das unverständliche und zum Teil schon absurde Selbstverständnis, dieses parteitaktische Rankünen-Geschwätz unbedingt nach draußen tragen zu müssen. Da werden dann dauernd irgendwelche hypothetische Fragen zu parteiinternen Vorgängen und Machtgeplänkeln aufgeworfen, die draußen überhaupt niemanden interessieren. Sie wollen sich unentwegt an diesem Bonner Machtmonopoly beteiligen, weichen zugleich aber den wirklich wichtigen Fragestellungen aus. Schauen Sie doch mal, was für den Leser oder die Bevölkerung letztlich bei dieser Bonn-Berichterstattung herauskommt. Das ist Hofbericht-erstattung reinsten Wassers. Ich habe da in all den Jahren eine ganz interessante Beobachtung gemacht: Der kritische Journalismus, der in den Medien über Bonn - und die dortigen Gesetzesvorhaben beispielsweise - ja durchaus stattfindet, ist jeweils immer von den Zentralredaktion ausgegangen. Da kamen die Anstöße aus Hamburg, München oder Düsseldorf, aber nie aus Bonn selbst. Am Hofe des Palais Schaumburg geliebt zu werden und dort gut zu überleben, ist allemal wichtiger, als kritische und unbequeme Berichterstattung zu machen. Die Leute sehen sich ja schließlich Tag für Tag in diesem Bundes-Dorf wieder; auch das verbindet, schafft Abhängigkeiten.

feder: Welche Lock- oder Druckmittel haben Sie denn persönlich kennen gelernt, die etwa Politiker in Bonn anwenden, um sich Journalisten gefügig zu machen?

Oltmanns: Die Mittel sind da sehr subtil. Das Vertrauens- und Abhängigkeitsver-hältnis zwischen Politikern und Journalisten beruht in der Regel auf Gegenseitigkeit, es ist nahezu kameradschaftlich geprägt. Die Abgängigkeit besteht beispielsweise auch darin, dass Politiker oftmals sehr exakt und sehr gut Bescheid wissen, was in einzelnen Redaktionen abläuft und wie der Stellenwert eines bestimmten Themas oder Problems einzuschätzen ist. Der Journalist erzählt natürlich auch dem Politiker, qua Freundschaft, wie er bestimmte Vorgänge, oder beispielsweise auch Kollegen zu bewerten und einzuordnen hat. Das ist ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten. Mein Eindruck ist, dass die Journalisten in Bonn im Prinzip bestens informiert sind und über sehr, sehr viele Details genauestens Bescheid wissen, aber kaum etwas davon transportieren.

feder: Ihr Bonn-Report über die "Möllemänner" ist zugleich eine respektlose Abrechnung mit der Bonner Medien-Szene. Ist Ihnen die am Ende nicht doch viel zu pauschal und arg ungerecht geraten?

Oltmanns: Es handelt sich hier um eine Zustandsbeschreibung eines Journalismus, dem jede Courage und jedes politische Engagement abgeht. Ich habe hier versucht, einen dramatischen Funktionsverlust der Presse zu beschreiben, nämlich Politik transparent zu machen und couragiert einen politischen Standpunkt zu beziehen. Dies alles findet in Bonn kaum noch statt. Pauschal ist meine Darstellung über die Bonner Journaille insofern, als ich zwei Drittel dieser Kollegen tatsächlich als Hofberichterstatter einschätze, die an den vorgegebenen Sprachregelungen der Parteien entlangschreiben. Und sie ist auch deshalb pauschal, weil ich versucht habe, ganz generell die Bonner Verhältnisse zu beschreiben, und nicht etwa konkret den Kollegen XYZ vorzuführen und damit zu stigmatisieren.

feder: Wenn wir all Ihre Thesen folgen, dann dient der gesamte Bonner Informationsapparat am Ende doch in erster Linie der Befriedigung der persönlichen Eitelkeit und des Voyeurismus der einzelnen Journalisten, nicht der Transparenz und der Aufklärung der Öffentlichkeit.

Oltmanns: Zum Teil ist das so, ja. Das ist diese Korrumpierbarkeit, indem man Herrschaftswissen mitteilt und sich auf diese Art und Weise Medien einkauft.

feder: Kollege Oltmanns, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.