Montag, 2. November 1981

Peepshow und Bürgerkrieg - Rückblick auf einen Premierenabend der Frankfurter Buchmesse











































Die Frankfurter Buchmesse ist mit über 7.000 Ausstellern und 280.000 Besuchern die wichtigste und größte Buchmesse der Welt - ein literarisches, gesellschaftliches Großereignis; ein Jahrmarkt aus Showbiz und Eitelkeiten. - Man sagt, Verleger Vito von Eichborn habe nicht nur eine Bierflasche als Bettvorleger.

CULT, Hamburg
vom 1. November 1981
von Reimar Oltmanns


Da stehen sie nun auf der Bühne, bedeutungsschwer, aber immerhin ohne Zeremonienmeister. Zurück aus dem fernen Libanon - die bundesdeutsche Heimat hat sie wieder. Hanna Schygulla, ihre Lippen so breit geöffnet, dass der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in der achten Reihe Kastrationsängste befallen. Einen halben Schritt zurück präsentiert sich Bruno Ganz, der manierliche Selbstzweifler. Er schaut so sensibel und weltfremd drein, dass die Seufzer der "Kon-kret"-Kolumnistin Peggy Parnass, "Bruno, oh Bruno", schon unterkühlt wirken. Allen voran turnt der ange-strengte Volker Schlöndorff. Träte er als Situations-komiker auf, ihm wäre der Stiebitz-Slogan "zack-zack, ein Huhn, zwei Gänse" sicher. Da aber Herr Schlöndorff etwas mit Film zu tun hat, lässt sich seine Gestik auch in "zack-zack, ein Bambi, zwei Oscars" umdeuten.

GLANZ- UND GLIMMER-WELT
Wir sind nicht etwas bei den Glanz- und Glimmer-Festivals in Cannes oder gar Venedig. Wir hocken betonversunken inmitten von Frankfurts City im "Elysee-Cinema", eingekeilt zwischen Würstchenbuden, Peep-Showes und Billardtischen. Dieses "Elysee"-Kino hat soeben die Weltpremiere von Schlöndorffs "Fälschung" hinter sich gebracht. Einer Verfilmung, die der literarischen Vernichtung des gleichnamigen Romans von Nicolas Born (*1937+1979) gleichkommt, der 1979 erschien.

Schlöndorffs Weltpremiere zählte zum Auftakt der diesjährigen Buchmesse gewissermaßen als eine Große-Koalitions-Veranstaltung zwischen dem Rowohlt Verlag sowie den Kino-Firmen United Artists und Bioskop Film sozusagen.

FILM-DUNST - MEDIENDÜNKEL
Wenn Egomanie tatsächlich ein unverkennbarer Aus-druck dieser Jahre sein sollte, dann in diesem exklusiven Kino-Rund. Leute aus Film-Dunst, Mediendünkel, die überall und nirgendwo sein wollen, die keine Milchkanne am Wegesrand stehen lassen, dafür aber das Privileg genießen, sich unentwegt selbst zu beklatschen oder auch zu bemitleiden und sich der Ausmerksamkeit ihres Publikums auch noch sicher sein dürfen. Bei derlei scheint's austauschbar, wer da gerade auf der Bühne den Entertainer abgibt, solange es im Inzuchtladen nicht allzu lasziv kracht und der progressive Anstrich in der Außenausstattung noch ein Quäntchen Zugkraft verheißt.

SCHECKBUCH-JOURNALISMUS

Da versteht es sich von selbst, dass Dezenz längst verpönt, zaghafter Zweifel mittlerweile belächelt wird. Was macht das schon, dass Literatur zur filmischen Arbeitsfolie verkommt, dass Nicolas Borns eigentliche Reflexion über den heuchlerischen Zustand des deut-schen Scheckbuch-Journalismus - aufgezeigt an einem 'stern'-Reporter im Libanon - bis zur Unkennt-lichkeit zurechtgebogen wird. Dafür jagt auf Schlön-dorffs Leinwand eine Attraktion die andere ästhetisch und showbesessen. Alle sechs Sekunden ein Irrsinnsbild, aus allen Ecken und Enden wird geschossen, die "Holi-day-Inn"-Ruine schluckt 5.000 Liter Sprit, Schlöndorffs Pyro-Szenario brennt lichterloh. Bürgerkrieg in Beirut, Schlöndorff der Held im Libanon.
CLAQUEURE WEIT UND BREIT
"Beirut als Science-Fiction für die Städte der Bundes-republik", sagt Herr Schlöndorff weitsichtig, "fan-tastisch, hautnah, atemberaubend",sagt sein Publikum. Ein Claqueur kommt selten allein. Schon gar nicht ins Nobelhotel "Frankfurter Hof", wo nach dem Film-De-büt die Party der selbst gezüchteten Eitelkeiten und Extravaganzen beginnt. Aber zunächst muss die "Ely-see"-Gesellschaft erst einmal raus auf die Straße. Der Kintoppversion vom Bürgerkrieg in Beirut stellt sich zum Kino ein bulliger Wasserwerfer entgegen. "Mam-mut" wacht erst wenige Stunden auf dem Vorplatz. Zuvor war er an der Startbahn West-Front im Einsatz. Dort draußen am Flughafen, wo sich Tausende von Menschen Baum um Baum, Furche um Furche gegen den bürgerkriegsnahen Polizeiaufmarsch stemmten. Nunmehr soll "Mammut" im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung alles verteidigen, was mit Büchern und Filmweltpremieren zusammenhängt. Vor der Alten Oper, jenem Parade-Neubau wiederer-starkten CDU-Bewusstseins, zieht eine Hundertschaft in Stellung. In verdeckten Seitengassen lauern mobile Einsatztrupps auf ihren gepanzerten Fahrzeugen sprungbereit. Hubschrauber kreisen über der Innen-stadt, irgendwo heulen Polizeisirenen auf.

ZÄRTLICHKEIT UND SCHMERZ

Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase und Smogalarm. Trinkwasser, das teilweise ungenießbar ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangenen 30 Jahren wurden bereits 3.700 Hektar Wald, das entspricht rund 6.000 Fußballplätzen, für Wachstum und Wohlstand abgeholzt. Über drei Millionen Bäume fallen der Start-bahn 18 des Flughafen zum Opfer.

Der 21jährige Alexander, ein ehemaliger Theologie-student, hockt draußen im Wald vor einer proviso-rischen Holzkapelle, die für ökumenische Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene und zugleich doch sehr angespannte Atmosphäre durchdringt den Wald, so, als ob es zwischen technologischem Fortschritt und Rückbe-sinnung auf die Urwüchsigkeit der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. In Minuten-Abständen dröhnen im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn entgehen.

Unterdessen hat Schlöndorffs Premierengesellschaft direkten Weges den "Frankfurter Hof" erreicht. Gott sei Dank - Beirut ist fern und war nur im Kino, Frankfurt ist zwar nah, aber nicht hautnah.

FILM, FLANELL UND FUMMEL

Salon 14, Film, Flanell und Fummel, Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn, Aigner, Yves Saint Laurent, Christian Dior, Coco Chanel - Kameras surren, Blitz-lichter blitzen. Ob nun links oder rechts gestrickt, ob in der Hierarchie unten oder oben, einer wie der andre pustet sich in Siegerpose auf. Deutschland kennt nur Sieger. Und fortwährend fliegen flüchtige Blicke zum Eingang, wer da noch alles unverhofft kommen mag. Herein rauscht Alice Schwarzer mit ihrer Damenflotte. Enthusiastisch durchkämmt der Emma-Trupp die Menge. Hier ein Küsschen, dort ein Küsschen, "toll Schwester, dich hier wiederzusehen, vor allem, dass du dich unter diese "ekeligen Chauvis traust". Frauen-Avantgarde in Luxus-Herbergen. Ganz im Gegensatz dazu der schriftstellernde Burkhard Driest. In Wolfs-manier kreist er im Salon, um im rechten Augenblick den richtigen Damen sein im Knast einstudiertes Stan-dardlied vorzujaulen: "Bist du einsam heut' Nacht".

MÄNNER-TÄSCHCHEN UND JUNG-VERLEGER

Nur das Äußere , das "Outfit" im neudeutschen Sprachgebrauch dieser Tage, aus Plastiktüte samt baumelnden Männer-Täschchen eines nicht bestellten Herren, will so gar nicht ins erlesene Ambiente passen. Mit fettig-abgekämpften Haar, unrasiert und rot unterlaufenen Augen feiert Jungverleger Vito von Eichborn im "Frankfurter Hof" eine Premiere, sein persönliches Verlagsdebüt in diesem Gründungsjahr. Dabei ist er ganz allein - mal mir nichts, dir nichts - an die Bar gekommen. Übers lachen, wohnen, essen, vögeln, über Huren, Puffs, Ganoven mit oder ohne schmutzigen Sprüchen sucht er sein Verlagsprofil kommender Jahre pointiert zu schärfen. Ausnahmlos alle aus der feingeistigen Damenwelt geben sich, spielen verdutzt. Die aus Jamaika herbeigeeilte Jung-Filmerin Recha Jungmann-Spree gackert emphatisch: "Hier tut nun wirklich etwas arg weh". - "Ach", ergänzt die Grünen-Politikerin Petra Kelly (*1947+1992): "Vito, "Du bist immer besoffen, das macht mich so betroffen".

NEW WAVE

Szenenwechsel: Jürgen, ganz auf New-Wave geziert, findet Flirten mit derlei Frauen langweilig, Filme öden ihn ohnehin an, Literatur reißt ihn nicht vom Hocker. Autistisch liebt er nur sich selbst, allenfalls noch seine sporadische Alltagsposie. In den "Frankfurter Hof" kam er mit seinen Freunden, um "endlich mal wieder gut zu fressen und ordentlich einen wegzuschlucken". Folge-richtig gastiert die New-Wave-Generation nur am Buffet. Jürgen hat nicht einmal seinen Klepper-Mantel ausgezogen, der Kragen steht hoch, die Haare kurz geschoren - noch.

APO-OPA

Gegenüber den New-Wavies wirkt ein APO-OPA, ehemals ein Frankfurter Studentenrebell, wie ein verblichenes Überbleibsel aus der Requisitenkammer aus einer verlorenen Zeit, vielleicht eines verlorenen Lebens. Seit nunmehr zwei Stunden steigt der Enddreißiger Michael K. zwei Verlegern hinterher. Der APO-OPA, mit schulterlangem Haar und obligatorischer Nickelbrille, will es endlich wissen. Gespannt fixiert er jede Geste des Herren, die ihm zum literarischen Durchbruch verhelfen sollen. Aber es wird ein Einbruch. Doch nur der Durchbruch zählt. Wenn Günter Amendt die Peep-Show die "äußerste Form sexueller Verelendung" ist, dann ist die Buchmesse Deutschlands Edelbordell. Wie heißt es in Schlöndorffs verfälschter Fälschung: "Ich habe keine Angst, mein Leben zu verfälschen, nur Angst davor, dass ich es eines Tages nicht bemerke und weitermache:" Es ist 23 Uhr, Herr Schlöndorff wird zum letzten Mal abgelichtet, Herr von Eichborn erklärt noch immer Alice Schwarzer, warum er gegen "Schwanz-Abschneiderinnen" zu Felde ziehen werde - die letzten Premierengäste verlassen unbemerkt den Salon 14.












































































Donnerstag, 3. September 1981

Am Strand von Tunix "Bleibt nicht einsam - backt gemeinsam"




























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Am Strand von Tunix
Erkundungen in einem
unbekannten Land
Sozialreportage von 1945 bis heute
Hg. Friedrich G. Kürbisch
Verlag J.H. W. Dietz Nachf.
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von Reimar Oltmanns
vom 3. September 1981


Eine süddeutsche Kleinstadt am Samstagnachmittag im Spätsommer. Die engen Gassen glänzen wie blank gewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Fachwerkhäusern spiegeln das Straßengeschehen wider. Von der Barockkirche signalisieren Zwiebeltürme absolutistische Tradition. Der Schlosspark erinnert an die weiträumige und symmetrische Gartenanlage Nymphenburgs in München.
DONAUESCHINGEN AM SCHWARZWALD
Im Kleinstädtchen Donaueschingen am Rande des Schwarzwaldes ist alles beschaulich und überschaubar. Kaiser's Kaffee-Geschäft liegt gegenüber den Redaktionsstuben des Südkurier, der schon seit fast drei Jahrzehnten dpa-Funkbilder aus aller Welt im Schaufenster aushängt - so, als sei und bliebe das Kabel- und Satellitenfernsehen eine Fiktion für die kommenden Jahrhunderte. In der Auslage der "Hofbuchhandlung" steht Johannes Mario Simmels (*1924+2009) Bestseller "Alle Menschen sind Brüder". Nebenan offeriert der Ortspriester im Schaukasten der Diözese seinen Gläubigen eine Pilgerfahrt nach Rom. Vis-à-vis gibt's das Bistro "Schinderhannes". Vor dem Eingang stehen die Gastarbeiter im "Sonntagsstaat"; mit Blockabsätzen, enggeschnittenen Hosen, bunten Hemden und Krawatten. Sie unterhalten sich oder spielen Karten. Kaum einer nimmt Notiz von ihnen. Sie bleiben, wie immer, unter sich.
RÖHRENHOSEN, PUMPS
Auf dem Marktplatz vorm Café Hengstler ist der Jugendtreff. Vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen, in Röhrenhosen, Pumps, Flatterblusen und klassisch geschnittenen Herren-Jacketts, mit Nina-Hagen-Punk-Frisur getrimmt, sitzen da, kichern und wispern untereinander; ab und zu wird auch mal eine Reggae-Disco-Platte gedrückt, solange Taschengeld oder Selbstverdientes reichen.
VON JAMES DEAN BIS "EASY RIDER"
Ein paar Tische weiter trinken die Jungs, zwischen achtzehn und zwanzig, Coca oder Bitter Lemon. Die einen, ganz in Leder, das Haar à la James Dean kurz nach hinten gekämmt, im Nacken lineal gerade abgestutzt, die Ohren freirasiert, die anderen mehr à la "Easy Rider", in Rohleder-Stiefeln, ausgewachsenen und buntgeflickten Jeans, die Haare wuschelig und schulterlang, die Bartstoppeln zentimeterkurz, Sonnenbrille. Bei Hengstler - ein wenig Langmut, ein Quäntchen Langeweile. Dafür geht's draußen auf dem Marktplatz um so lebhafter zu. Hondas, Suzukis und BMW's stehen dort aufgebockt. Keiner dieser röchelnden Öfen hat unter 500 Kubik. Ein paar Meter entfernt parken die Minis, Renaults und Golfs. Fast alle mit dem Rallye-Streifen und den obligaten breiten Felgen. Der Marktplatz von Donaueschingen bedeutet diesen Motorfans sowie wie einem Rallye-Fahrer die Ankunft in Monto Carlo oder einem Rennradprofi die Einfahrt ins vollbesetzte Stadion. Hier werden Fahrzeiten zwischen Donaueschingen und dem Nachbardorf Hüfingen unterboten, der Kumpel mit PS- und Kubikstärke überboten.
KEINE LINKEN - VIELE GARTENZWERGE
Eigentlich ist in Donaueschingen nichts spektakulär, alles deutsch-normal. Im Ort und in der Umgebung gibt es keine Linken, keine Rauschgiftsüchtigen, keine organisierten Kernkraft-Gegner und auch keine Landkommunen. Die Menschen arbeiten strebsam in der Landwirtschaft, in Textil- und Uhrenfabriken, in Gießereien und in der Holzverarbeitung. Viele jobben noch nach Feierabend. So können sie ein Häuschen ihr eigen nennen, den auf Hochglanz polierten Mittelklassewagen ebenfalls. Gartenzwerge zieren den im Rasen eingelassenen Springbrunnen, die Schwarzwald-Uhr das Wohnzimmer. Und auf der Sparkasse vermehrt sich das bescheidene Guthaben stets ein wenig. Alles hat hier seine wohlerträumte Ordnung und läuft in den vorgegebenen Bahnen.
DREI ROTE ROSEN
Auch das Volksfest an diesem Wochenende. Der Spielmannzug intoniert die Polka "Drei rote Rosen". Mäzen Heribert, mit Mallorca-Bräune, Satintuch und beigem Samtpulli, lässt für die 46 Mann eine Runde Bier springen. Die Leute sitzen auf den Holzbänken, schmausen Zwiebelkuchen und nippen frisch gekelterten Wein. "Brot für die Welt" wird gesammelt. Der Erlös geht an Pater Schenk aus Donaueschingen für seine Mission auf den Philippinen. Ein Stand der Gefangenenhilfs-Organisation amnesty international - von Lehrern betreut - klärt über Folter und Todesstrafe auf. Aus Freiburg im Breisgau angereiste Studenten verteilen Plaketten mit der Aufschrift "Atomkraft - Nein danke". Am Abend stimmt der Tompetenchor "Kein schöner Land in dieser Zeit" an. Manche summen, andere lallen mit. Auch die Jugendlichen sind dabei. In blau-weißer Tracht schwingen sie die Fahne der Fürstenberger. Wie in jedem Jahr, ist ihnen ein gefälliges Kopfnicken und der kräftige Händedruck der Stadt-Honoratioren gewiss.
VOLKSFESTE - HÖHEPUNKTE
Über Jahre ließ Harald Heidenreich kein Volksfest, keinen Schützenfest-Bummel, keine Marktplatz-Rallye aus. Wo was los war, war auch er. Wie seine Freunde hockte der damals 18jährige in Eisdielen, Pinten und Discos oder lief seinerzeit mit dem ´laut aufgedrehten Kassettenrecorder unterm Arm durch die malerisch versonnene Altstadt. Sie schauten und pfiffen den Mädchen nach, bis Harald seine Bärbel fand und mit ihr Händchen haltend über den Marktplatz spazierte. Für Politik und Parteien hat er sich nie sonderlich interessiert, zu einer Wahl ist er bis heute nicht gegangen.
7 KINDER IN DREI-ZIMMER-WOHNUNG
Haralds Vater ist ein kleiner Angestellter beim Kreiswehr-Ersatzamt in Donaueschingen, seine Mutter kümmerte sich Jahr für Jahr um ihre sieben Kinder. In einer Drei-Zimmer-Wohnung wuchs Heidenreich auf, mit seinen sechs Geschwistern teilte er sich einen Schlafraum. Harald absolvierte die Hauptschule und mache eine Lehre als Installateur. Zum Abschluss gab ihm der Berufsschuldirektor den weisen Rat: "Üb immer Treu und Redlichkeit." Für Donaueschingen nichts Außergewöhnliches. Und Harald dachte sich noch: "Hier bin ich geboren, hier lebe ich, hier will ich auch bleiben." Kleinstadt-Idylle nach der Abschluss-Feier.
FLUCHT ÜBER NACHT AUS DER PROVINZ
Am selben Abend klapperte Harald Heidenreich seine Dicos und Pinten ab. Er stand teilnahmslos an der Theke, trank abwechselnd Cola oder Bier und starrte in die grellen Licht-Reflexe. Da war wenig vom Travolta-Glanz (John Travolta, * 1954, amerikanischer Schauspieler, Sänger, Entertainer, Scientologe) und seinem Saturday-night-feaver zu spüren. Es kotzte ihn an. Kurz nach Mitternacht fuhr er nach Hause, packte Jeans, Hemden, Pullover und Unterwäsche. Seine erst kürzlich gesparten dreihundert Mark nahm er sich aus Mutters Küchenschrank. Auf den Garderobentisch legte er einen Zettel: "Bin weg. Gruß Harald." Seither sind für ihn die Eltern und Geschwister, Freundin Bärbel, die Marktplatz-Kameraden - Donaueschingen überhaupt - passé. Nur einen hat er mitgenommen. Seine besten Freund Gerry. Der war schon mit vierzehn zu Hause rausgeflogen und hatte zuletzt bei seiner Freundin in Hüfingen gewohnt. Nun war auch dort Schluss. Als die beiden gegen 3.30 Uhr in Freiburg auf die Autobahn gingen, ließ Gerry eine Pink-Floyd-Kassette laufen. Wohin sie eigentlich wollten, wussten sie selber nicht; vielleicht nach Göttingen, wo Haralds Bruder wohnte, vielleicht nach Hamburg, vielleicht aber auch nach Berlin. "Wir werden schon sehen", sagte Harald. "Irgendwann kommen wir schon irgendwo an und treffen irgendwelche Typen."
UNGEWISSE GEWISSHEIT
Irgendwann, irgendwo, irgendwen - eines war beiden gewiss, dass alles ungewiss ist, Sie stocherten ziellos nach Norden. Morgens waren sie in Bremen, nachmittags in Cuxhaven, am nächsten Tag in Hamburg, am darauffolgenden in Berlin. Eine kleine Odysee, denn zu Hause hatten sie kaum über den Tellerrand gucken dürfen, und groß herumgekommen waren sie auch noch nicht, wenn man von zwei Reisen nach Freiburg einmal absieht.
PLASTIK-REKLAME AUF KU-DAMM
Nun standen Harald und Gerry auf dem Ku-Damm mit seinen unzähligen Restaurants und seiner x-beliebigen grellen Plastik-Reklame. Sie schauten drein wie ungläubige Berlin-Touristen, die sie eigentlich nicht sein wollten, warfen einen Blick über die Berliner Mauer (1961-1989), die sie nur vom Fernsehen kannten. Alles schien erschien ihnen ein wenig unwirklich, Da gab's keinen überschaubaren Marktplatz mehr, keine Butzenscheiben und keine Fachwerkhäuser. Dafür zog ein Sektenpulk in Mönchskutte und Irokesen-Haarschnitt durch die Straßen. Junge Typen in ihrem Alter bimmelten und rasselten mit ihren Klingelbeuteln. "Jesus lebt", schrien sie unentwegt. Da standen verquollene Jugendliche in den U-Bahnschächten, ängstlich und jibbelig warteten sie auf ihre Heroin-Erlöser. Und immer wieder sahen sie die Sight-seeing-Busse im Doppeldecker-Format, die die westdeutschen und internationalen Touristen von einer vermeintlichen Attraktion zur anderen karrten.
PRIVATPUFFS UND PORNO-SCHUPPEN
Drei Wochen irrten Harald und Gerry durch die Stadt. Sie schliefen im Auto und aßen an Würstchen-Buden. Sie schlenderten nachts über den Stuttgarter Platz mit seinen Privat-Puffs und Pornoschuppen. In der Potsdamer Straße trafen sie auf zwei Mädchen. Die eine stellte sich als Ina,die andere als Lena vor. Beide dürften so um die vierzehn gewesen sein. Zwanzig Mark sagten sie. Es war nachmittags um drei. In der Disco "Early Bird" erlebten erlebten sie eine Massenschlägerei im Schummerlicht. Englische und französische Truppiers probten mit Bierflaschen und Stuhlbeinen eine NATO-Variante. In der Jebenstraße, hinterm berüchtigen Bahnhof Zoo, wurden sie von Strichjungen verjagt. Und auf dem Savigny-Platz kauften sie sich ihren ersten Joint. Das Gramm für zehn Mark.
IN DER PINTE "NULPE" ... ...
Dem Irgendwann und Irgendwo folgte in der Pinte "Nulpe" in der Yorkstraße der Irgend jemand. Zufall war es, dass er Johannes heißt und aus Donaueschingen kommt. Zufall auch, dass Johannes einen Typen namens Werner kennt, der ebenfalls aus Donaueschingen abgehauen ist. Zu Hause, in der ordentlichen Kleinstadt, sind sie sich nie begegnet, in der "Nulpe", im heruntergekommenen Kreuzberg, lernen sich die vier kennen. Da war es dann schon kein Zufall mehr, dass sie gemeinsam in eine Wohngemeinschaft zogen. Für Johannes und Werner, sie lebten bereits zwei Jahre überall und nirgends in West-Berlin, ist die Großstadt zu groß. Für Harald und Gerry war die Kleinstadt zu klein geworden.
INTAKTE AUSSEN-WELT
Vier Jugendliche in diesen Tagen. Nichts ist besonders auffällig an ihnen, eher scheint alles bundesdeutsch normal. Harald lernte Installateur, Gerry Elektriker und Werner Tischler. Sie bestanden ihre Gesellenprüfungen und hatten einen krisenfesten Arbeitsplatz. Johannes machte das Abitur und schaffte fürs Jura-Studium problemlos den Numerus clausus. Alle vier hatten die von ihren Eltern in sie gesetzten Erwartungen erfüllt und standen in ihrer Umwelt keineswegs als Versager da. Dennoch sind sie es, die sich der Gesellschaft versagten. Nach außen unauffällig und schweigsam. Dabei lassen sich ihre Beweggründe von keinem modernistischen Klischee ableiten, keine gängige Polit-Maxime trifft auf diese vier Aussteiger zu.
BEFREITES LEBEN IM HINTERHOF
In der Kreuzberger Gneisenaustraße, einer breiten Allee mit ausgewachsenen Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte, fanden sie ihre Bleibe. Es ist ein typischer Berliner Hinterhof-Block aus den vergangenen Jahrhundert. Vor der Eingangstür spielen türkische Mädchen "Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern. An der Hausmauer lehnt ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und Unverständliches über den Fußball-Bundesligaverein Hertha BSC stammelt. Im Hausflur riecht's nach Katze, Knoblauch und Bartkartoffeln. Die an der Wand befestigte Namenstafel ist als Wegweiser gedacht. Wer zu Patzkes will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen. Zu den Wohngemeinschaften geht's automatisch über den Hinterhof und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten Mopeds, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den Treppen sind schon einige Stiegen herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Auf jedem zweiten Stockwerk gibt's ein Klo, Duschen sind individueller Luxus.
AUTONOMIE UND GHETTO
Im fünften Stock unterm Dach kleben auf dem Türrahmen die Schildchen der Mieter Harald, Gerry, Johannes und Werner, Nachnamen tun nichts zur Sache. Wer hier herkommt, weiß, wohin er will. Die Wohnungstür steht meist sperrangelweit offen. Zu klauen ist ohnehin nicht viel. Sofa, Tisch und Stühle sind vom Sperrmüll, der Fernseher stammt aus den fünfziger Jahren, geschlafen wird auf Matratzen. Ein paar Bücher stapeln sich im Regal zwischen Nähzeug und verklebten Teetassen. Eines heißt: "Autonomie und Getto", ein anderes ist von Ernest Hemingway (*1899+1961): "Wem die Stunde schlägt". An der Wand hängen zwei Gitarren, auf dem Wohnzimmertisch steht ein Schachbrett neben zwei heruntergebrannten Kerzen, die frischgewaschenen Jeans liegen ungebügelt im Korb. Der Gemeinschaftsraum ist ihr Zentrum, dazu hat jeder noch sein eigenes Zimmer - das alles für 350 Mark. Dieser Betrag plus Nebenkosten muss monatlich aufgebracht werden. Sonst spielt Geld kaum eine Rolle. Auch die Zeit ist ihnen unwesentlich. Ob es nun gerade morgens, schon abends oder bereits einen Tag später ist - keiner verliert darüber wesentliche Gedanken. Oft ist es erst das ausgedruckte Datum auf dem abonnierten Tagesspiegel, das sie für einen Augenblick in die Gegenwart zurückholt.
SUCHE NACH NÄHE UND SINNLICHKEIT
Als Harald, Gerry, Johannes und Werner vor drei Jahren ihre Wohngemeinschaft gründeten, verknüpfte niemand damit konkrete Vorstellungen oder auch festorganisierte Tagesabläufe. Sie hatten keine politischen Ideen oder alternative Lebensmodelle parat, die sie umsetzen wollten. Nur in einem waren sie sich einig: alles sollte anders werden, als es bisher war. Sie wollten aus ihrer Umwelt ausbrechen, die sie geprägt hatte, sie wollten sich in ihren Berufen nicht weiter verplanen und fremdbestimmen lassen. Viel wichtiger war ihnen das Bedürfnis nach einer neuen Sinnlichkeit, sie suchten engen zwischenmenschlichen Kontakt, der nicht intensiv genug sein konnte - sei es durch Gespräche, Musik oder auch Zärtlichkeit. Jeder fühlte sich vereinzelt, sah sich von der Gesellschaft isoliert, erlitt mit Gefühlen und Erwartungen laufend Einbrüche, empfand die Masse Mensch als anonym und stumm, die sich gänzlich der Konsumwelt verschrieben hat. Doch keiner glaubte, sich allein dem äußeren Druck widersetzen zu können. So galt ihre Hoffnung einer Wohngemeinschaft auf dem Berliner Hinterhof in der Gneisenaustraße Nr. 60. "Wir sind zwar klein, aber ein Anfang ist doch da", sagten sie damals. Gemeinsam planten die vier, ihre Vergangenheit abzuarbeiten, um das Vakuum Gegenwart auszufüllen. An die Zukunft dachte keiner. Sie galt als eine undefinierbare, metaphysische Größe.
VON JUNGEN WERTHERN DER ACHTZIGER
Dabei machten Harald, Johannes und Werner zunächst gar nicht den Eindruck von jungen Werthern Anfang der achtziger Jahre. Johannes, ein hochgeschossener Typ mit langen blonden Haaren und Nickelbrille, sprang von einer alternativen Idee zur anderen. Da sollte eine Hobelbank besorgt werden, dann wollten alle gemeinsam töpfern, schließlich war es die Tischtennisplatte, die noch fehlte. Werner, von etwas untersetzter Gestalt und weitaus ruhiger, organisierte Kühlschrank und Geschirr. Harald , mit seinem strähnigen schwarzen Haar und wieselflinken Augen, backte nach Mutters Küchenrezept seinen ersten Apfelkuchen. Nur Gerry saß meist stoisch in der Sofa-Ecke, schaute gelegentlich von seinem Comic-Heft trübsinnig hoch und verkroch sich immer sehr schnell unter seinem Bettlaken.
EINSILBIG - MELANCHOLISCH
Gerry, sagen seine Freunde, "hat mit seinen zwanzig Jahren den Abgang von Donaueschingen nach Berlin nicht verpackt". Je länger er in Kreuzberg lebt, desto einsilbiger und melancholischer wird er. Zurück in den Schwarzwald will er aber auch nicht. Aus ihm ist, wenn überhaupt, nur selten einen Satz herauszulocken. "Ich weiß nicht ..." lautet seine Standardfoskel. Harald: "Was glaubst du denn, wo so manchmal deine Lustlosigkeit herkommt, deine Apathie, so ein bisschen?" Gerry: "Das hab ich mich schon gefragt. Hab keine Antwort gefunden." Harald: "Hast du dich gefragt, oder bist du von uns gefragt worden?" Gerry: "Hab mich selber gefragt. Hab rumgehangen bei der Arbeit und auch keine Lust gehabt. Aber genau gewusst, dass ich es doch machen muss. Ich weiß nicht." Gerrys Anhaltspunkte ist seine Matratze. Oft schläft er drei Tage in einem durch. Johannes: "Da macht er nicht mal ein Kaffeepäuschen." Auch alle Versuche, Gerrys Zimmer ein wenig heimisch herzurichten, blieben umsonst. Als die Gruppe ihre Räume tapezierte, bekam auch Gerry seine Rauhfaserstreifen. Die Hälfte der Bude beklebte er. Dann war er plötzlich weg.
MIT FREUNDIN EINFACH WEGTAUCHEN
Seit drei Jahren begnügte er sich nunmehr mit der alten Matratze. Ein altes, rostiges Fahrrad vom Vormieter steht ebenso an seiner Zimmerwand wie die Tapetenrolle im Farbeimer . Wenn Gerry eine Freundin hat, verschwindet er für zwei bis drei Wochen. Zwischendurch jobbt er hin und wieder, wenn's Geld knapp wird. Er findet auch jedes Mal eine Stelle. Denn Elektriker sind in West-Berlin gefragte Leute. Denn klotzt er wie früher für einen Monat ran und steigt fürs nächste Vierteljahr wieder aus. Im letzten Jahr musste Gerry jedenfalls eine zweite Lohnsteuerkarte beantragen. Auf der ersten war für die zahlreichen Firmenstempel kein Platz mehr.
VOM FLIPPIE ZUM HIPPIE
Wurde Gerry in der Großstadt zum Flippie, so entwickelte sich sein bester Freund Harald zum Hippie - zumindest vordergründig. Er kaufte sich ein kleines Kreuz und läßt es seither vom rechten Ohrläppchen baumeln. Auch von seinem blau-rot-gemusterten Tüchlein kann Harald sich nur schwer trennen. Er trägt es am liebsten Tag und Nacht. Freiheiten, die in Donaueschingen undenkbar gewesen wären. Doch mit derlei Requisiten will Harald nicht darüber hinwegtäuschen, dass er - trotz aller neuen Hoffnungen - über ein halbes Jahr in den Seilen hing. Beginnt Gerry seine Sätze mit "Ich weiß nicht", so hat Harald "einfach das Gefühl, dass es mir in der Gesellschaft, wie sie im Moment ist, überhaupt nicht gefällt."
GEFÜHLE DER ISOLATION
Es ist ein vages Gefühl, das ihn aber dazu brachte, in sechs Monaten nicht einmal auf die Straße zu gehen. Selbst zu seinem 21. Geburtstag ließ er sich Wein und Bier holen. Harald schlief lieber in den Tag hinein, verlor sich über Stunden in Rock 'n' Roll-Tonbändern, die Werner mitgebracht hatte. Fing an, auf der Gitarre Griffe zu üben, um das Lied "Ein Hase saß im tiefen Tal ..." melodisch begleiten zu können. Die meiste Zeit stand er jedoch wie ein Greis am Küchenfenster, blickte auf niedriggelegenere Dächer, zählte Schornsteine und Fernsehantennen oder stierte eine mausgraue Mauer auf dem Hinterhof an, die sich an trüben Tagen kaum von der dichten Wolkendecke abhob. "Ich fühlte mich allein, war nervlich fertig und zitterte am ganzen Körper", umschrieb er seinen Gemütszustand. In Wirklichkeit hatte ihn das Heimweh gepackt, er war depressiv und spürte seine Orientierungslosigkeit. In diesen Augenblicken am Küchenfenster dachte er nicht an seinen selbstsicheren Aussprch "irgendwann, irgendwo, irgendwen", als er mit Gerry eines Nachts Hals über Kopf aus Donaueschingen getürmt war, weil ihnen alles "zu eng" erschien.
HEIMWEH - NICHTS ALS HEIMWEH
Er sah nur den alten, heimischen Marktplatz, das Café Hengstler vor sich, erinnerte sich an die spannenden Wettfahrten zum Nachbarort Hüfingen und vor allem an die vielen Leute, die er kannte und die natürlich auch ihn kannten. "Alsom wenn ich in Donaueschingen die Straße rauf lauf, so fünfhundert Meter lang, da sind mindestens zehn Bekannte, die mich anhalten und sich mit mir unterhalten", verklickerte Harald beim Abendessen die neue Erkenntnis. Er sagte es so eindringlich, als kämen seine Freunde aus einer anderen Stadt. Nun war er aber nicht mehr in Donaueschingen, sondern in seiner Wohngemeinschaft in Kreuzberg, In diesem "Dreckloch", wie er plötzlich sein neues Zuhause nannte, "zwischen Türken, Müll, Ratten, einem Scheißhaus für dreißig Mann, und da wollen wir alles anders machen", beschimpfte er Johannes und Werner, die sich seinen Ausbruch nicht erklären konnten. "Was ist hier eigentlich alternativ", schnauzte Harald herum. Er wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern antwortete gleich selbst: "Wenn Scheiße für euch eine Alternative ist, dann bin ich eben ein Spießer."
FLÜCHTEN ODER STANDHALTEN
Abhauen wollte er noch am selben Abend. Doch er blieb. Über eine Woche verschanzte Harald sich in seinem Zimmer und redete mit niemanden. Johannes und Werner vermuteten schon, Harald werde doch über kurz oder lang aus der WG aussteigen und auf den Marktplatz nach Donaueschingen zurückkehren. Harald machte aber etwas anderes. Er malte einen großen Laubbaum in grünen und braunen Farben an seine weiß-graue Zimmerwand. Für ihn war's ein bisschen Schwarzwald in dem Häusermeer Kreuzberg. Deprimiert und ratlos hockte er in seiner Bude. Blinde Wut kam in ihm hoch, schlug dann wieder in neues Leiden um. Er konnte sich nicht erklären, was die Auslöser für seine tiefen Stimmungsschwankungen eigentlich waren. Er glaubte, nur er allein könne damit fertig werden. Doch je mehr er sich vergrub, desto größer wurden seine Gefühlssprünge, desto passiver und phlegmatischer reagierte er. Dabei gab es für ihn keinen ersichtlichen Grund.
"WAS HABEN WIR DIR ANGETAN?"
Schließlich hatte ihn keiner gezwungen, mit dem Elternhaus zu brechen und in eine Wohngemeinschaft nach Kreuzberg zu ziehen. Er konnte ja wieder heimgehen. Seine Eltern würden sich freuen, zumal es keinen Krach gegeben hatte. Sie haben ihn ohnehin nicht verstanden. Im letzten Brief, den er von seiner Mutter bekam, schrieb sie: "Was haben wir Dir angetan, dass Du uns so missachtest." Aber darum geht es ja nicht. Ursprünglich hoffte er, sich am ehesten in Kreuzberg zu verwirklichen. Hier muss er nicht im kleinen Horizont ständig funktionieren, sich anpassen und sich laufend reinreden lassen. Hier muss er nicht arbeiten, wenn er nicht will. Hier muss er nicht sein Fassaden-Lächeln aufsetzen, wenn er keine Lust dazu hat. Hier könnte er sich in alternativen Gruppen engagieren, Brote backen, Autos zusammenflicken, sanitäre Anlagen verlegen. Hier könnte er in Teestuben, in Pinten, in Buchläden mit vielen Leuten reden, denen es sicherlich nicht viel anders ergeht - und nicht nur so'n oberflächliches Geschwätz über Status und Stars, sonderen echte Gespräche. Deshalb sind sie ja nach Kreuzberg gekommen, der Harald, der Gerry, der Johannes und der Werner.
EINGEGERBTE KINDHEITS-ERLEBNISSE
Aber anders als Gerry, der keinen seiner Freunde richtig an sein Innenleben herankommen ließ, versuchte Harald in Marathon-Diskussionen mit Johannes und Werner auszuloten, warum ihn seine Gefühle blockierten, warum er bisher matt und mutlos blieb, warum er so kontaktscheu war und sich noch nicht einmal auf die Straße traute. Da war nicht nur der gewohnte Marktplatz, zu dem Harald sich irgendwie zurücksehnte. Ganz unvermittelt sprach er von seinen Kindheitserlebnissen, die er als "wahnsinnig schön" empfand und die ihm "vom Gefühl her" heute fehlen. "Alle sieben Kinder schliefen in einem Raum, und fast jeden Abend haben wir gespielt." Oder er erzählte, wie ihm sein großer Bruder Anton mit sechs Jahren die erste Mark geschenkt hatte. Oder wie er als Vierzehnjähriger mit seinem kleinen Fahrrad zum ersten Mal ein Auto überholte. Harald: "Es war totaler Wahnsinn, das Rad hatte nämlich nur eine Übersetzung von eins zu eins."
OPEL-STOLZ FRÜHERER JAHRE
Johannes und Werner hörten aufmerksam zu. Sie ließen Harald Stunden über seine Kindheit berichten, die er sich als ein Stück heile Welt bewahren wollte. Harald entging in seinem Erzählfluss offenbar, dass er längst bei einem anderen Thema gelandet war. Er sprach nun von seinem Vater, der noch mit 48 Jahren wöchentlich drei Mark Zigarettengeld von der Mutter zugeteilt bekam. Der sích mit 53 Jahren den ersten Wagen, einen Opel Kadett, leisten konnte. Der mit seinem Opel-Stolz jährlich aber nur um die 600 Kilometer fuhr, weil ihm das Benzingeld fehlte. Der trotzdem jeden Samstag, wenn's nicht regnete, wie ein kleiner Bub vor der Haustür sein Auto wusch und polierte. Und der sich immer darüber erregen konnte, wenn Nachbarn oder Arbeitskollegen mit ihren neuesten Modellen angeberisch durch de Kleinstadt fuhren.
DÖSEN IM RENTENALTER
Inzwischen ist der Alte 66 Jahre, sein Gesicht ist eingefallen und voller Falten. Seit er pensioniert ist, weiß er mit sich und seiner Umgebung nichts mehr anzufangen. Während seines ganzen Lebens hat er nur gearbeitet, so zehn bis zwölf Stunden am Tag, aber nie gelernt, selbst seine Freizeit mit Hobbies spielerisch zu gestalten. So sitzt der halbglatzige Herr meist vorm Fernseher, döst vor sich hin, weil er für Politik und Show wenig übrig hat. Nur wenn am Samstag vor der Spätausgabe der Tagesschau zur Ziehung der Lottozahlen umgeschaltet wird, zum Hessischen Rundfunk, springt er hoch, vergleicht seine drei Tipp-Scheine, um dann wieder zusammenzusacken. Mutters Errungenschaft, fährt Harald fort, ist die neue Stereoanlage mit eingebauten Kassettenrecorder. Fünf Jahren haben sie dafür gespart. Beim Kauf nahmen die Eltern natürlich auch gleich ein paar Platten mit. Außer Rudolf Schock, Heino und die Egerländer Marschmusik fiel ihnen nichts weiter ein. So steht der Apparat als Vorzeigestück in der Wohnstube und wird kau eingeschaltet, weil sie ja nicht tagein-tagaus dieselben Melodien hören können.
PUTZFIMMEL ÜBERALL PUTZFIMMEL
Staub und Flusen wären jedoch auf dem teuren Stück undenkbar. Darauf achtet Mutter schon. Und dann erinnert sich Harald an die immer wiederkehrende Stereotype seiner Mama: "Schaffe Harald, schaffe Harald. Mach's so wie die Gaby, die schafft bei Aldi in der Buchabteilung, oder wie Irene, die zählt das Geld uff die Sparkass". Womit seine ältere Schwestern gemeint waren. Natürlich haben die es zu etwas gebracht. Mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder bekommen, wieder einen Halbtagsjob angenommen, Geschirrspüler, Gefriertruhe und einen Gartengrill gekauft. Einmal im Jahr geht's nach Gran Canaria, um dort am Strand Dosenbier zu trinken. "Die sind ja bekloppt", räsoniert Harald. "Die wissen doch gar nicht mehr, wer sie eigentlich sind."
"SOZIALE NETZ" DEUTSCHLAND
Wer er selber ist, weiß Harald auch nicht so genau. Seine Gefühlssprünge, die totale Depressionen, seine Apathie fangen ihn immer wieder ein. Mal ist es die totale Identifikation, mal die totale Verweigerung, mal will er noch in derselben Nacht abhauen, mal plant er über Jahre in der Wohngemeinschaft zu bleiben. Die etablierte Erwachsenenwelt mag in diesen Jugendlichen "verweichtlichte Kinder" sehen, die nur deshalb ängstlich und kopflos sind, weil ihnen alles abgenommen wurde und sie alles vorfinden, was sie scheinbar brauchen. Aber Haralds Stabilität und die seiner Freunde ist nicht das "soziale Netz" Bundesrepublik - nicht die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nicht die Rentenversicherung, kein Bausparvertrag, keine vermögenswirksamen Leistungen. Die Wohngemeinschaft in Kreuzberg findet ihr Gleichgewicht vielmehr in der Negativabgrenzung gegenüber dieser Gesellschaft. Harald und Co. machen sich nichts aus der Konsumkultur, die soziale Rangskala der Karrieren auf Lebenszeit hat für sie keine Bedeutung. Aber die einstigen Handwerker wollen sich auch nicht vom "Profitgeier und Polier" in Fabriken oder auf dem Bau kaputtmachen lassen. Ob mit Flanellanzug im Büro oder mit dem Blaumann im Fließband - Maloche ist es allemal und die tötet Gefühl und Fantasie. Umgebung und Milieu zu erleben, Typen kennenlernen, unendlich viel Zeit für sich und andere zu haben, winzige Details wahrzunehmen und weiterzugeben - kurzum wetterfühlig zu sein und Sensibilität ausleben zu können, das alles ist ihnen erheblich wichtiger als der große Wurf strategischer Überlegungen à la Bonn oder eines Lohnzuwachses um 6.8 Prozent, den Funktionäre ausgemauschelt haben.
"WOHLSTANDS-PUNGIUN"
Die Aussteiger in der Gneisenaustraße sehen im Bundesbürger einen "Wohlstands-Pinguin", der sich in seinem schwarz-weißen Einheitstrikot als Frontkämpfer versteht: für Wirtschafts-Wachstum und Weltmeisterschaft. "Das ist der Grund", wiederholt Harald, "warum es mir momentan in der Gesellschaft überhaupt nicht gefällt." Wenn Harald von Gesellschaft spricht, dann meint er nicht jene, die Soziologen oder Politologen analysieren und auseinanderpflücken. Er ist kein Theoretiker und will es auch gar nicht sein. In den Bücherregalen dieser Wohngemeinschaft steht kein Karl Marx (*1818+1893) , Mao Zedong (*1893+1976) oder Herbert Marcuse (*1898+1979). Und selbst wenn sie dort stünden, käme keiner auf die Idee, seine Lebenssituation mit Zitaten dieser Theoretiken zu verallgemeinern. So ist ihre Wohngemeinschaft auch nicht ein Team junger Leute, die sich gemeinsam auf ihre Examen vorbereiten, zusammen Semesterarbeiten schreiben und sich über Grundsatzfragen oder Berufschancen die Köpfe heißreden. Dieser Typus von WG hat sich bei den Aussteigern überlebt. Ob die Leute studieren, einen akademischen Abschluss haben oder Hauptschüler sind, ist zweitrangig. Ihnen kommt es mehr auf den Konsensus im Zusammenleben an, sich und die Lebensphilosophie der anderen zu begreifen. Dabei urteilen Harald, Gerry, Johannes und Werner aus ihrer Erlebniswelt und ihren unmittelbaren Erfahrungen heraus. Sie sind nicht die abgeklärten Überfliefer, die sämtliche aktuellen Vorkommnisse mit routinesicherem Blick in ihre selbstgezimmerten Denkschemata einordnen, seelenruhig in der Gruppe ihre Statements abgeben und allmählich zu Zyniker werden.
ABGRENZUNG ZU DIESEM STAAT
Als Johannes noch von der Uni nach Hause kam, löste er oft ausufernde Debatten in der Gruppe aus. Mindestens zweimal in der Woche , wenn er seine Seminartage hatte, war er hinterher so hektisch und aufgekratzt, dass gleich alles aus ihm heraussprudelte. Für die anderen drei verkörperte Johannes den "politischen Durchblicker", der impulsiv und messerscharf ihre schon seit drei Jahren vollzogene Abgrenzung zu diesem Staat mit politischen Daten und Fakten untermauern konnte. Und Johannes brauchte diese Gespräche, um sich seiner zu vergewissern. Sie gaben ihm aber auch ein bisschen Genugtuung. Er verstand es nämlich, seine Betroffenheit auf die Gruppe zu übertragen.
HANNS MARTIN SCHLEYER (*1915+1977)
Der 18. Oktober 1977 hat sich im Gedächtnis der vier fest eingeprägt. Nicht etwa, weil seit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer der Bundesrepublik der Atem stillstand oder bei den Polizeirazzíen ganze Häuserblocks gefilzt wurden. Daran hat sich die Berliner Szene seit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz (Entführung am 27. 2. 1975 durch Terroristen der Gruppe 2. Juni; *1922+1987) gewöhnt. Erstmals wurde in der Wohngemeinschaft über Selbstmord geredet - eine Diskussion, die sich noch nachhaltig auswirken sollte. Johannes kam an diesem Abend von der Uni und sagte nur knapp: "Sie sind tot." - "Wer sind sie", fragte Werner. "Na wer schon", reagierte Johannes unwirsch. "Baader, Ensslin, Raspe." Johannes war derart aufgelöst und geschockt, als sei seine Mutter oder einer der engsten Freunde beim Verkehrsunfall unverhofft aus dem Leben gerissen worden. Er griff gleich zur Weinflasche, setzte sie ex an und hörte gar nicht wieder auf zu schlucken. Der knappe Satz "Sie sind tot" und der darauffolgende spontane Ausbruch verblüfften Harald, Gerry und Werner zunächst. Denn als vor rund zwei Wochen Hanns Martin Schleyer verschwand, da hatte Johannes noch erklärt, er könne sich mit "der politischen Konzeption der RAF (Rote Armee Fraktion 1970-1998; verantwortlich für 34 Morde, zahlreiche Banküberfälle, Sprengstoffattentate) und ihren Gewalttaten nicht identifizieren".
SELBSTMORD ODER MORD ?
Am Nachmittag hatte ihm ein Kommilitone auf dem Weg in den Hörsaal von den Selbstmorden in Stuttgart-Stammheim berichtet. "Ich glaubte, der wollte mich verscheißern", erzählte Johannes seinen Freunden. "Ich bin nicht mehr in die Vorlesung gegangen, rannte zum Kiosk und kaufte mir zwei Zeitungen. Da sah ich dann die Schlagzeilen. Da hab ich plötzlich den Eindruck gehabt, mir läßt jemand die Luft raus. Es war im Moment nichts mehr da, was man diesem Machtapparat, dieser ganzen Struktur, dieser ganzen Maschinerie hätte entgegensetzen können. Und das hat mich traurig und bestürzt gemacht." - "Aber Johannes, die sollen sich doch selbst erschossen haben, hast du vorhein noch gesagt", schränkte Werner ein. Johannes aufgebracht: "Selbstmord oder Mord, das ist doch nicht die wesentliche Frage. Die Leute sind tot, sie sind nicht mehr da, sie sind weg." Betroffenes Schweigen. Keiner will etwas sagen, auch nicht. Nach dem Abendessen setzen sich die vier in ihre Sofaecke, zünden Kerzen an und wollten eigentlich ihre Schachpartie vom Vortage fortsetzen. Doch bevor das erste Spiel beendet war, kam das Thema wieder hoch. Werner, der damit anfing, konnte mit Johannes' rätselhaftem Verhalten wenig anfangen. Für ihn stellte sich die Frage, was Johannes trotz entgegengesetzter Beteuerungen ein stiller Sympathisant der Terrorszene, der nur momentan die Contenance verloren hatte, oder welche seelischen Hintergründe gab es, dass ihr Freunds seine Person so stark mit dem Schicksal toter Terroristen verband.
16 MANN HALTEN 60 MILLIONEN IN SCHACH
"Das geht ja nicht nur mir so", versuchte Johannes zu erklären. "In der Uni waren viel baff und erschlagen, haben nicht mehr den Mund aufgekriegt. Für mich war die RAF eine Opposition, ich hatte das Gefühl von Sicherheit und Stärke, weil ich gesehen habe, wsie sechzehn oder siebzehn Mann über sechzig Millionen in Schach halten konnten. Es ist doch egal, ob jemand in die Zellen gegangen ist und den Leuten die Waffen an die Kopf gelegt hat. Für mich sind es die ganzen Verhältnisse, die Haftbedingungen, verstehst du, Werner ? Wenn ich dich jetzt in diesem Zimmer einsperre, und ich unterwerfe dich einer Kontaktsperre, und du springst nachher aus dem Fenster raus, dann ist das Mord. Die hatten ja keine Möglichkeit mehr, was sollten die noch machen. Ich hätt mich wahrscheinlich auch umgebracht, wenn die Frage des Selbstmordes aktuell gewesen wäre."
ABSCHIEDSBRIEF AN FREUNDE
Eine Konjunktiv-Formulierung, die keine zwei Monate später ihre Aktualität bekam. Es war gegen Mittag. Johannes hatte ausgeschlafen und beim Aufstehen niemanden angetroffen. Er setzte sich an den noch stehengelassenen Frühstückstisch, rührte aber nichts an, sondern schrieb einen Abschiedsbrief an seine Freunde. "Das Telefon klingelte, zumindest war er sicher, dass es klingeln würde, da er den Anruf erwartet hatte. Das Fenster stand weit offen, so weit, wie es eigentlich nur im Sommer üblich war. Und einer der Fensterflügel bewegte sich. Auch die Uhr tickte noch in seiner Vorstellung, Aber nur, um auf diese Weise die Zeit verstreichen zu hören. Der flüchtig gedeckte Frühstückstisch, der nahe am Fenster stand, war leicht mit Schnee bedeckt. Das Zimmer schien unverändert, bis auf die Kälte, die den Raum rasch angefüllt hatte. Er lag unten im Hof auf dem Teppich aus Schnee , leicht verkrümmt, unbeweglich, bis auf eine Strähne im Haar, die der Wind ab und zu bewegte. Seine Welt drehte sich nicht mehr, und die andere schien noch nichts davon gemerkt zu haben. Als dann der Bruch ihn erschrak, vergewisserte er sich seines Willens. Schon oft hatte er diese Vorstellung, zu verletzten, doch wusste er um die Unbedingtheit und Unwiederbringlichkeit dieses Schrittes."
MIT PYJAMA AUFS FENSTERBRETT
Über eine Stunde benötigte Johannes für seine Zeilen. Er ließ sie auf dem Küchentisch liegen und kletterte im grünen Pyjama auf das Fensterbrett, schaute vom fünften Stock auf den Steinboden unter auf dem Hinterhof, stieg wieder runter, dann wieder rauf. Plötzlich packten ihn von hinten zwei Hände und rissen ihn vom Fensterbrett, so dass der Kichentisch gleich mit umflog. Werner war durch die offenstehende Haustür gekommen. Er sah einen bibbernden Johannes, der in sich versunken nach unten schaute, aber offensichtlich den Mut verloren hatte, einen halben Meter vorwärts zu gehen.
GEFÜHL DER BEFREIUNG
Für den 23jährigen Johannes, wie er späte erzählte, war dieser Momen ein "Gefühl der Befreiung, also es ist aus. Herrgott, ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen. Ich muss niemanden mehr sagen, dass ich mich unverstanden fühle". Unverstanden von seinen Eltern, unverstanden in der Uni, unverstanden von seiner Freundin Eva,unverstanden von seinen Mitbewohnern. Befreiung von seinen Eltern, zu denen er keinen Kontakt mehr hatte. Befreiung von der Uni, zu der er nicht mehr ging, Befreiung von seiner Freundin Eva, die er nicht mehr sah. Befreiung von der Wohngemeinschaft, indem er sich aus dem Fenster stürzen wollte.
ROTZIGE ARROGANZ
Johannes "pisst auf diese Welt", die ihn fix und fertig macht. "Dass ich in eine Gesellschaft mit ihrer rotzigen Arroganz und Selbstherrlichkeit hineinboren worden bin, dafür kann ich nichts", sagte er. "Wir sind doch alle mit Werten vollgepfropft, die fadenscheinig sind. Im Kindergarten und in der Schule hat man mich ideologisch getrimmt und versucht, durch Prügel abzurichten. Mein Vater machte mit meiner Mutter und mir dasselbe, wenn er besoffen war. Und das war in der Woche mindesten zweimal. Bundeswehr und Uni geben einem dann den letzten Schliff. Allround gebildet, von überall seinen Touch bekommen wird man losgelassen als ein abgeblich nützliches und wesentliches Glied innerhalb der Gesellschaft. - Psychische Krüppel sind die Karriere-Denker und Ehrgeizlinge, aber die merken noch nicht einmal, dass sie politisch und sozial entmündigt sind. Die Leute begreifen einfach nicht, in welchen Abhängigkeiten sie leben, wie ihre Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung auf den Konsum gelenkt werden.
SCHEISSE STECKT ÜBERALL DRIN
Die leben in Sozialwohnungen, bei denen sich die Architekten am Reißbrett einen runtergeholt haben. Das sind die wahrsten Kasernen, denen fäll die Decke auf den Kopf, da kommt nicht mehr genug Licht ins Fenster. Die Scheiße steckt überall drin, bis ins letzte Detail. Aber das hat alles Modellcharakter in der Bundesrepublik. Die Politiker machen in Aufsichtsräten und Gesellschaften ihre Geschäfte, belügen die Bevölkeruung, weil sie die schlimmen Pannen in den Kernkraftwerken verheimlichen. Und wenn ich mir die Zeitungen angucke, dann weiß ich doch ganz genau, wir haben dpa oder AP. Das sind vorgefasste, ideologisch abgestimmte Nachrichten, die das ganze System untermauern. Das ist alles abgefuckt, soviel Unehrlichkeit, Mauschelei und Vorgaukelei. Und die Politiker stellen sich immer kackfrech hin und reden von Solidarität, Toleranz und Sozialstaat."
AUSWANDERN IN DIE HOFFNUNG
So wie Johannes denkt, sehen auch Harald, Gerry und Werner die deutsche Bundesrepublik. "Das ist doch die Wirklichkeit", sagt Gerry. Harald meint: "Über einige Jahre müssten regelmäßig Parteitage mit Tausenden von Leuten besetzt werden." Werner hat dazu keine Lust. "Das gibt nur Prügeleien mit den Bullen." Er will lieber auswandern. - "Auswandern in die Hoffnung", das sagt und wiederholt er immer wieder. Nur wohin, weiß er aber noch nicht: "mal seh'n".
DER STRAND VON TUNIX
Sie hauten nicht ins ferne asiatische Hinterland ab und besetzen auch keine Parteitage. Harald, Gerry, Johannes und Werner gingen gemeinsam an den "Strand von Tunix". Über 20.000 Jugendliche waren Anfang 1978 nach West-Berlin gekommen, um ihr Drei-Tage-Fest zu feiern. Ein Meeting der bundesdeutschen Subkultur, die mit Theater, Sketch, politischen Diskussionen, Rock und Beat, Reggae und Liebe sich als Gegenöffentlichkeit zur Gesellschaft präsentierte. "Uns lang's jetzt hier" -- "Wir hauen ab" -- "Und das wollen wir doch mal sehen", hießen ihre Parolen. Es war das erste Mal, dass sich die vier Donaueschinger aus ihrem Berliner Hinterhof-Dasein befreiten.
STADT-INDIANER UND CO.
Unter buntbemalten Stadtindianern, Feministinnen und Schwulen, Mescalero-Typen, Grünen und Roten "haben wir endlich gemerkt. dass wir überhaupt nicht allein sind", bemerkt Johannes. Harald glaubt: "Wir waren immer ein bisschen isoliert, und ich habe mich auch vereinsamt gefühlt. Eine Macke habe ich aber nicht. Dafür sind wir schon zu viele." Und Werner schwärmte von der U-Bahn, die er sonst gar nicht mochte: "Die war so proppenvoll mit irgendwelchen Typen. Das hat zum erstenmal Spaß gemacht. Dasa war alles so offe, man hat erzählt, gesungen und echt gelacht." Auf dem Tunix-Kongress gab's keine politischen Rezepte, da wurden auch keine langangelegten Strategien ausgetüftelt. Viel wichtiger war den meisten eine neuerlebe Gemeinsamkeit. Johannes stellte in diesem Moment nicht mehr sich selber infrage, "wir stellten endlich die Öffentlichkeit dorthin, wo sie längst hingehört, ins Kackquadrat. Für die Tageszeitung Welt war das Festival ein "Tummelplatz von Linksextremisten und ihren Sympathisanten, Randalierern und Chaoten". Harald, Gerry, Johannes und Werner hingegen fühlten sich in doppelter Hinsicht erleichtert. Ihre Heimatstadt Donaueschingen schien endgültig vergessen, und nun war es ihnen auch gelungen, aus dem schmorenden Saft der Wohngemeinschaft rauszukommn.
AUFBRUCH - ALLES WIRD ANDERS
Seither arbeiten sie in der alternativen Szene. Installateur Harald erneuert Waschbecken und Klos in Kneipen wie "Meisengeige" oder "Kiste Teeladen", legt Leitungen und repariert schrottreife Autos. Aus Tischler Werner wurde ein "Babysitter", weil die Mütter im "Frauenhaus-Zentrum für misshandelte Frauen und deren Kinder" Schichtdienst haben. Johannes, von dem seine Eltern in Donaueschingen träumten, er werde sich als Dr. jur. im Heimatörtchen niederlassen, fährt tagsüber den alternativen Wein in die makro-biotischen Läden; abends sitzt er im Taxi. Alternativle chauffiert er umsonst, Leuten aus dem Hotel Kempenski und anderen Nobelherbergen schlägt er's drauf. Nur Gerry, der die Pink-Floyd-Kassette drückte, als er mit Harald aus Donaueschingen abdampfte, macht noch den alten Striemel. Er hat noch seine Lohnsteuerkarte, hin und wieder schläft er drei Tage in einem durch oder ist mal für zwei bis drei Wochen ganz untergetaucht. - Den Marktplatz von Donaueschingen will keiner mehr wiedersehen.

Sonntag, 1. März 1981

Puma und Adidas - eine deutsche Provinz-Posse - Krieg der Tröpfe


































Hinter seiner putzigen Fassade durchlebt Herzogenaurach seit Jahrzehnten seine eigene Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Die beiden Sportartikel-Großfirmen adidas und puma haben das fränkische Nest in zwei unversöhnliche Lager gespalten
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Titanic, Frankfurt
März 1981
von Reimar Oltmanns


Hinter Butzenscheiben und Fachwerkfassaden, der altdeutschen Heimeligkeit, verstecken sich manche Misthaufen, die so niemand lüften mag. Zumindest im fränkischen Herzogenaurach, Kreis Erlangen-Höchststadt, nageln heute wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunentore, intoniert Gitarrist Günter Grube in der mit fünfzehn Alpenveilchen und fünf Flamingoblumen dekorierten Gaststätte im Turnerheim die altbekannte Volksweise "Es war im Böhmerwald, wo meine Wiege stand", beklagt sich Alfred Wachs vom Gartenbauverein über "die von Herzogenaurach kaum noch abwendbare Apokalypse, da wir bald sterben - allen voran die jüngere Generation, weil sie sich in Kellerbars unbehelligt totsäuft."

DEUTSCHE GEMÜTLICHKEIT

Herzogenaurach im Fränkischen hat dichtgemacht, vom Innenleben der Kleinstadt dringt nur spärlich etwas nach draußen. In sich gekehrt schlummern die Menschen vor sich hin. Nichts, so will es scheinen, kann die wohlerträumte Ordnung arg erschüttern. Alles hat hier seine Akkuratesse. Die eng verschlungenen Gassen glänzen wie blankgewienert, eingelassene Springbrunnen mit Gartenzwergen zieren den Rasen um die Einfamilienhäuser, von den beiden Kirchentürmen bimmelt's all' Viertelstund'. Zink und Messing sind allgegenwärtig. So mancher Tränensack triefte an diesem Ort schon vor Wohlbefinden - deutscher Gemütlichkeit.

Trotzdem ist Herzogenaurach mit keiner anderen gefühlsverklärten Provinz vergleichbar. Denn unter der beschaulichen Oberfläche durchlebt das Nest seit drei Jahrzehnten seine eigene Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Zwei unversöhnliche Lager stehen einander gegenüber. Der Aurachfluss, der die Kleinstadt spaltet, gilt als ihre "Demarkationslinie". Eine Provinzburleske, könnte man meinen, hießen die Erbfeinde nicht adidas und puma, eben jene internationalen Sportkonzerne, die sich in ihrem Heimatdorf einen Religionskrieg leisten - Streifen um Streifen, Stolle um Stolle. Diesseits des Aurachflusses produziert adidas mit 770 Mitarbeitern seinen Drei-Streifen-Sportschuhe, der Wasser, Licht und Wind symbolisieren soll; immerhin 40.000 Paare pro Tag. Jenseits ist puma zu Hause, der aggressive, unverwüstliche, um dessen federweiche Tatzen 550 Beschäftigte kümmern (5.000 täglich).

ADIDAS-FAHRER MIT PUMA-PACKERIN

Das Hüben und Drüben der Aurach hat über all die Jahre die eine Familiensippe von der anderen feinsäuberlich sortiert. In diesem 16.300 Einwohner zählenden Städtchen wäre es verpönt, wenn der Vater etwa bei puma am Reißbrett stünde und die Mutter bei adidas Schnürsenkel einzöge. Und es ist noch keine drei Jahre her, da machte eine Liebesgeschichte zwischen Pumanern und Adidaner in den Kneipen die Runde. Dem adidas-Verkaufsfahrer Reinhart Schäfer war das absonderliche Ansinnen gekommen, die puma-Packerin Anita Bechthold zu ehelichen. Die beiden Familien liefen Amok vor Angst um Ansehen und Arbeitsplatz, die Firmen drohten für den Fall der Heirat unverhohlen den Rausschmiss an. adidas-Reinhart und seine puma-Anita wanderten aus, wie man in Herzogenaurach zu berichten weiß.

Für Armin Dassler, den puma-Chef, "ist dieses verfluchte Familiensplittung in den Fabriken" so etwas wie Rassenschande. Keiner seiner Mitarbeiter würde es - gar in seiner gewichtigen Gegenwart - wagen, den Namen adidas auszusprechen. Im puma-Werk verständigte sich selbst der Betriebsrat darauf, von "denen da drüben" oder kurz von"Dingda" zu reden.

Als mich der 50jährige Dassler im Gasthof Schuh in Dondörflein zum Steinhäger-trinken einlud, konnte ich im Rahmen einer journalistischen Befragung natürlich nicht ausschließlich auf puma herumreiten. Mindestens drei Mal war es unvermeidlich, adidas auch akustisch wahrnehmbar zu benennen. Schließlich wechselte der Ex-Gladbacher Berti Vogts nicht von puma zu "Dingda". Auch ist Rainer Bonhof beim 1. FC Köln nicht der einzige puma-Spieler in einer bei "Dingda" unter Vertrag stehenden Mannschaft. Ferner trug ja selbst puma-Pressesprecher als aktiver Spieler von Schalke 04, Bayern München sowie in der Nationalelf keine "Dingda-Kicker", sondern die Konkurrenz-Schlappen.

VERSLEIN VOM SCHÄFERHUND

Der puma-Chef sitzt breit auf der Bank, mit seiner puma-Nadel am Revers. Neben ihm seine Public-Relations-Mitarbeiter. Der eine im puma-Schiedsrichterhemd, der andere in puma-Tenniskluft. Hinter der Theke zapft Bauer Schuh, ein Hobby-Gastronom, im puma-Trainingsanzug und puma-Turnschuhen, Bier, Mama Schuh, im weißen Küchenkittel und puma-Tretern, brät in der Küche für die Gäste Scheufele. Und Fräulein Schuh, die unverheiratete Tochter des Hauses, ist dafür abgestellt, dem puma-Chef in puma-T-Shirt, puma-Strümpfen und puma-Joggingschuhen regelmäßig den Steinhäger nachzukippen. Da versteht es sich dann von selbst, dass Mama Schuh den puma-Chef irgendwann nach Mitternacht mit einem vom Schäferhund abgewandelten Verslein liebevoll verabschiedet. "Werde auch du Mitglied im puma-Verein, denn in der Liebe zu puma erkennt man die Seele des Menschen."

Die Leute in dieser verstohlenen Gegend dulden keine Zwischentöne. Sie betrachten es als ihre ureigenste Verpflichtung, auch unaufgefordert Front zu beziehen. Zu bitter war einst die Armut, zu rasant der wirtschaftliche Aufstieg mit adidas und puma. Eine verquere Mischung aus untertänigem Bekenntnisdrang und dienstbeflissener Uniformiertheit sind die Spätfolgen.

Tatsächlich gleicht Herzogenaurach einem Olympiadorf im Fachwerklook. Schon morgens um 4 Uhr, wenn die Müllabfuhr die Straßen durchkämmt, tragen die Männer mit den weiß getreiften adidas-Blaumann. Gegen 7.30 Uhr strömen Kinderscharen zur Carl-Platz-Schule. Ganze Fußballmannschaften versammeln sich da im Vorhof. Statt Ranzen oder Jeansbeutel schultern die meisten ihre adidas- oder puma-Familientasche. Gemüsehändler Viktor Tourinaire von der hinteren Gasse öffnet um 8 Uhr seinen Laden - als puma-Trainer verkleidet. Um 9.30 Uhr fährt Lokalredakteur Ekkehardt Kubec in sein Blättchen. Sein Wagenaufkleber: "Puma macht's mit Qualität". Bereits um zehn Uhr treffen sich die ersten Arbeitslosen im Café Römer am Markt - ausnahmslos im Dress der elf Besten. Vis-à-vis liegt die Buchhandlung Jung. Schaufensterlang präsentiert der einzige Bücherladen am Ort Fußball-Fotobände von Welt- und Europameisterschaften. Nur Polizei und Feuer-wehr blieb das Elastik-Allerei bislang versagt - noch.

Ein Prototyp der Trainingsanzugskultur ist Heiner Kaltenhäuser, der langjährige Hausmeister vom Rathaus. Für den stets glattfrisierten Heiner bestehen keinerlei Zweifel, dass die adidas-Klamotten die schönsten, praktischsten und saubersten sind, die sich unsereins so vorstellen kann". Der Hausmeister Heiner beurteilt dies nicht zuletzt aus intimer Sicht seiner Mitbürger. Herzogenaurach sei nämlich die Stadt der versenkten Blicke. "Jeder achtet hier darauf, was für'n Schuhwerk du trägst." Immerhin habe ihm seine Mutter "als Baby adidas über die Muttermilch eingetrichtert".

SCHUHMARKE - EINE GESINNUNGSFRAGE

Für Kaltenhäuser und seine Freunde ist ihre adidas-Muttermilch auch eine politische Gesinnungsfrage. Denn hinter den drei Streifen gruppieren sich die Roten, hinter puma verstecken sich die Schwarzen der Stadt, die seit zehn Jahren den CSU-Bürgermeister Ort auf ihrer Seite wissen. Keine Kneipe, kein Geschäft, kein Hotel, das sich nicht in dieses selbst gestrickte Raster fügen ließe. Kaltenhäuser und Co. ("Wir sind die Sozis") verkehren nun mal nicht im puma-bevorzugten Auracher Hof oder in der "schwarzen" Krone. Tabus, die schon seit Jahrzehnten existieren und bisher niemand zu lockern trachtete. Statt dessen hocken die roten Adidianer wochentags in der "Kastanie", dreschen Schafskopf und lassen das Bier durchlaufen. Die Kastanie ähnelt einer fränkischen Wohnstube, die nur Stammkundschaft kennt. Wenn sich doch mal ein Auswärtiger über die Hemmschwelle wagt, wird es in der Kastanie schrecklich still.

Ganz anders am Wochenende. Dann heißt es high noon in Herzogenaurach. Der Stellvertreterkrieg zwischen puma und adidas, zwischen Roten und Schwarzen, erlebt Sonntag für Sonntag facettenreiche Varianten. Wie verwandelt marschieren Kaltenhäuser und Frauan den Stadtrand. Selbstverständlich in der obligaten Sonntagsausgeh-Uniform; schließlich hat jeder noch ein zweites Paar gute Turn-schuhe im Schrank. Mit viel Reißbrett-Geschick haben es die Stadtplaner verstanden, die Fußballplätze der beiden todverfeindeten Vereine keine 100 Meter Luftlinie auseinanderzulegen. Oben auf dem kleinen Hügel residiert der FC Herzogenaurach, der von puma gesponsorte Club, derzeit Kellerkind in der Bayernliga, der höchsten Amateurspielklasse. Unter quasi im Souterrain ist der Arbeitersportverein (ASV) zu Hause, von adidas gepäppelt und im oberen Drittel der Landesliga platziert.

RODEO AUF FUSSBALL-PLÄTZEN

Kein Sonntag vergeht in diesem Frankenstädtchen ohne Zwischenfälle, mal mehr, mal weniger spektakulär. Das letzte Spiel zwischen FC und ASV - damals kickten beide noch in derselben Klasse - war folgenschwer, puma säbelte adidas wiederum kappte in die Waden, puma seinerseits landete versteckte Nierenschläge. Bier- und Colaflaschen folgen übers Spielfeld, Sanitäter, Bahre, Krankenwagen.

Dessen ungeachtet machten sich puma-Kinder derweilen auf des Gegners Platz an der adidas-Familienloge, einer alten Gartenbank, zu schaffen. Prompt hauten adidas-Ordner puma-Kinder, puma-Väter gerieten in Rage und prügelten los - Rodeo in Herzogenaurach.

EIN "FÜHRER" IM VEREINSHAUS

Als an diesem Sonntag der Schlusspfiff die Anspannung abblies und das Spiel alle Beteiligten geschafft hatte, zog sich ein jeder in sein Vereinshaus zurück. Bei den Pumanern, den knappen Siegern, ließ der Konzern den Sekt auffahren. Im adidas-Haus traute sich kein Spieler zu den Fans. Vorn an der Theke allerdings keimte der Trotz. Eine abgedroschene Gestalt im Lodenkult, die so gar nicht zu den Roten passen will, gab da plötzlich den Takt an. Zahn heißt sie und wohnt in der Ansbacher Straße 2. Aber in Herzogenaurach kennt ihn jeder nur als "den Führer", weil sich der wirre Rentner für den Rest seines Lebens entschlossen hat, als Hitler-Imitator Ver- und Bewunderung zu erregen.

Bislang war Rentner Zahn "nur" in der nahe gelegenden US-Base als "Führer " aufgetreten. Vornehmlich verhökerte er das auf einem Porzellanteller eingebrannte Konterfei seines vermeintlichen Ebenbildes, las und dozierte aus der amerikanischen Ausgabe von "Mein Kampf" und ließ sich gemeinsam mit US-Soldaten ablichten; als Souvenir für die daheimgebliebenen Familien in Kentucky und Virginia. Zuletzt machte "Hitler-Zahn" von sich reden, als er zum Fasching US-Boys im Spalier antreten ließ und vor ihnen mit Führergruß auf- und abmarschierte.

Nun stand dieser Unhold nach der verlorenen Schlacht im ASV-Sportheim vorn an der Theke und suchte, biertrunkene ASV-Anhänger wieder aufzumuntern. "Aber eins, aber eins, das bleibt bestehen, der ASV wird niemals untergehen", grölte es durch den Saal. "Treu unser Herz, adidas unser Schuhwerk" - ein fränkischer Sonntag im ASV-Sportheim.

Am darauffolgenden Montag verfassten die Jusos eine Resolution, in der sie die bescheidene Frage aufwarfen, "was denn in dieser Stadt noch alles passieren muss, bevor die aufgehetzte Bevölkerung endlich begreift, dass der Konkurrenzkampf zwischen adidas und puma um die Weltmärkte gewiss nicht in Herzogenaurach auf dem Fußballplatz entschieden werde". Und im unverkennbaren Juso-Deutsch forderten die Junggenossen "eine sozialpsychologische Untersuchung dieser grotesken Situation". Nur ein Pauker und ein Pfarrer meldeten sich im kleineren Kreis noch zaghaft zu Wort. Gewerbeoberlehrer Hacker beklagte sich über "den Psychoterror, den er tagtäglich in der Schule verspüre. "Es ist einfach fürchterlich. Hasserfüllte Jugendliche bilden puma- und adidas-Banden und schlagen blindlings aufeinander ein, die Konzerne kassieren die Gelder, und die Erwachsenen hauen sich wie in der Steinzeit die Wurfschleuder um die Ohren." Pfarrer Sterzl indes mahnte umsichtig zur Besonnenheit, damit "der Familienhass nicht von der Bild-Zeitung unnötigerweise ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses gerückt wird." Von nun an war's auffallend still in Herzogenaurach.

"LASS JUCKEN KUMPEL"

Ich war auf der Suche nach den Urhebern dieser Diadochenkämpfe und landete zwangsläufig auf dem Friedhof. Unverhofft traf ich auf den beschwichtigenden Pfarrer Sterzl, jenen katholischen Priester, dem Bürger und sogar die Ortsbanken einen eminenten Einfluss nachsagen. So munkelt man beispielsweise in der Stadt, seiner diskreten Intervention sei es zuzuschreiben, dass der Kinofilm "Lass jucken, Kumpel" kurzerhand aus Herzogenaurach verbannt wurde. Ich bat den Pfarrer, mich doch zu den Gräbern der inzwischen legendären Dassler-Brüder zu begleiten.

Rudolf Dasslers Familiengrab (puma) liegt via-à-vis der Friedhofskapelle. Er war der ältere von beiden und starb bereits 1974. "Gottesfürchtige Menschen sind sie beide gewesen". verrät mir der Pfarrer, denn sie kamen aus einer bitterarmen Familie. Ihr Vater verdingte sich als Fabrikarbeiter, die Mutter rubbelte die Wäsche gutsituierter Bürger. Als 15jähriger Bub arbeitete Rudolf bereits in der "Fränkischen Schuhfabrik". Mitte der zwanziger Jahre begannen die beiden Brüder in der Schlappenschusterstadt Herzogenaurach mit der Produktion von Sportschuhen. Der erste Großauftrag kam vom heimatlichen Sportverein. Die beiden Brüder galten als unzertrennlich. Rudolf übernahm Organisation und Verkauf, Adolf bastelte an neuen Schuhkonstruktionen. Bereits 1928 belieferten die Brüder deutsche Olympiateilnehmer in Amsterdam mit Dassler-Produkten. 1936 rannte der vierfache Goldmedaillen-Gewinner Jesse Owens in Dassler-Sprintern.

BRUCH ODER KABALE UND HIEBE

Zwei Jahre nach Kriegsende kam es zum unwiderruflichen Bruch. Nach einem heftigen Streit stürmte Rudolf Dassler aus dem gemeinsamen Büro und gründete auf der anderen Seite der Aurach seine puma-Fabrik. Bruder Adolf nannte fortan seine Produkte adidas. Mit ihrer Trennung spaltete sich auch die Arbeiterschaft. Ein Großteil blieb bei adidas, der Rest zog zu puma.

Als Motive, die zum Zerwürfnis führten, mussten bislang die beiden Frauen der Dassler-Brüder herhalten, streitbare Hyänen angeblich, die prestigesüchtig ihre Männer zur Weißglut kitzelten. Von Kabele bis Hiebe - eine Story, die so intim und noch dazu schlüssig erscheint, vergräbt sie doch elegant jene unrühmlichen Tage, als in Deutschland noch Fußballschuhe aus braunem Leder geleimt wurden. Adolf Dassler produzierte Frontstiefel, Rudolf war Soldat. Sein Pech dürfte es gewesen sein, dass er für sich den Krieg schon früher als beendet erklärt hatte, sich nach Herzogen-aurach durchschlug und dort den Nazis in die Hände fiel. Er war bereits im Güter-waggon auf dem Weg ins KZ Dachau, als die Amerikaner ihn befreiten, aber ihrerseits den ihnen undurchsichtig erscheinenden Dassler ein Jahr im Internierungslager Hammelburg festhielten.

Zu jener Zeit dürfte sich Adolf Dassler wohl kaum um die Rehabilitierung seines Bruders gekümmert haben. Ein Foto zeigt Rudolf Dassler in den "schlimmsten Tagen meines Lebens" mit einer Büste unterm Arm. Er nannte es "mit dem Kopf unterm Arm und trotzdem ungebrochen".

Die beiden Brüder wechselten nie mehr ein Wort miteinander. Als Rudolf starb, ließ sein Bruder im Kommuniqué-Stil lediglich verlauten: "Aus Gründen der Pietät möchte die Familie Adolf Dassler zum Tod des Rudolf Dassler keinen Kommentar abgeben."

Mittlerweile bin ich mit Pfarrer Sterzl auf der anderen Seite des Friedhofs angelangt und stehen vor zwei Gruften breiten Adi-Dassler-Grab, dem größten in Herzogen-aurach. Er hat sich 1978 ins Jenseits verabschiedet. Geschäftlich konnte sich der adidas-Chef weitaus besser durchsetzen als sein puma-Bruder; nicht zuletzt aufgrund seiner engen Freundschaft zum früheren Bundestrainer Sepp Herberger, die ihm beim Deutschen Fußballbund eine Monopolstellung einbrachte. Schon seit Jahren ist adidas weltweit der Branchenführer. In Zahlen: Über 12.000 Beschäftigte, davon 2.500 in der Bundesrepublik, produzieren heute in 18 Ländern der Welt täglich über 200.000 Paar Sportschuhe. Hinzu kommen Spielbälle, Trikots, Trainingsanzüge, Badehosen. Der Umsatz beläuft sich auf weit über eine Milliarde Mark.

"ZEHNKÄMPFER GOTTES"

So mancher Fußballstar, plaudert der Pfarrer, habe er schon an das Dassler-Grab geführt, Beckenbauer, Overrath und Uwe Seeler. Bei Uwe Seeler fällt ihm sogleich ein Zitat des evangelischen Theologie-Professors Helmut Thielicke ein. Als "Uns Uwe" im Jahre 1961 für 1,5 Millionen Mark nach Italien wechseln wollte, habe dieser ja einen offenen Brief an Seeler gerichtet: "Wenn Sie dieser Versuchung widerstehen, dann wäre das ein leuchtendes Fanal, die Menschen zur Besinnung zu rufen." Pfarrer Sterzl, der wohl manchmal ein Witzchen macht und dabei ganz unschuldig lacht, sagt dies natürlich nicht ohne Hintergrund. Auch er wolle in Herzogenaurach über Jahre ein Fanal setzen und die beiden Dassler-Brüder miteinander versöhnen. Oft sei er sich vorgekommen wie "ein Zehnkämpfer Gottes". ("Aber zitieren Sie das bitte nicht!") Ich verabschiede mich von Pfarrer Sterzl an der Friedhofstreppe, die abwärts zur Straße führt. Als ich unten angekommen bin und mich noch einmal nach oben zu ihm umdrehe, entdecke ich, dass Pfarrer Sterzl tatsächlich ein Zehnkämpfer Gottes ist - er trägt puma-Turnschuhe.

ERBEN - NEUREICH UND KALT

Herzogenaurach in diesen Tagen. Die neureichen Erben der erdverwachsenen Schlapppenschuster von einst residieren heute im verborgenen. Hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt und für Fremde "off limits", grenzt ein groß flächtiger Park mit englischen Rasen an das adidas-Fabrikgelände. Dort reiht sich eine Villa an die andere. Der Familien-Clan hält auf Distanz zum Dorfpöbel, duldet der Weltruf doch nur den internationalen Zuschnitt. Da stattet der Präsident von Togo in Begleitung einer 52jährigen Delegation adidas einen Besuch ab. Ihm folgt der katholische Bischof von Peru. Franz Beckenbauer fliegt aus New York ein, auf einem adidas-Symposium diskutieren Sepp Maier und Cassius Clay die Frage, ob "die Spaßvögel im Sport aussterben" - natürlich live über Monitor. Maier in Herzogenaurach. Mohammad Ali in New York.

Wohl kein bei adidas unter Vertrag stehender Spitzensportler, der in Herzogen-aurach noch nicht vorgeführt wurde. Ob Uwe Seeler, Willi Holdorf, Werner von Moltke, Wolfgang Overrath, Fritz Walter, Jürgen Grabowski, Franz Beckenbauer, Michel Jazy, Mark Spitz oder Ilie Nastase - sie alle handelten im spanisch-rustikal gestylten adidas-Sporthotel (Baukosten: vier Millionen Mark) ihre Exklusiv-Werbe-Verträge aus. Beckenbauer jedenfalls kann nach seinem letzten Herzogenaurach-Trip mehr als zufrieden sein. Garantiert adidas doch nunmehr eine lebenslange Pauschale von jährlich 150.000 Mark.

EIN SCHULHEFT FÜR MEMOIREN

Da mag puma selbstverständlich nicht hintanstehen. John Aki Bua, Olympiasieger von 1972 im 400-Meter-Hürdenlauf, beglückt Herzogenaurach seit zwei Jahren. puma-Dassler ließ ihn aus Uganda einfliegen, "um der optischen Übermacht der Konkurrenz im Dorf etwas entgegenzusetzen". So gibt der verschüchterte "Vorzeige-Neger im Frankenland" brav seine Autogrammstunden. Sonst hockt er in der PR-Abteilung der Firma und schreibt mit dem Beistift in ein Leitz-Schulheft seine Memoiren.

Überhaupt nimmt puma-Dassler jede Milchkanne mit, wenn es darum geht, sich fett gedruckt in der Lokalpresse wiederzufinden. Mal besingt ihn Udo Jürgens zum Geburtstag, mal tanzt er mit "Frau Minister Ertl" Walzer. Dann steckt er sich "für sein Mäzenatentum die Goldene Ehrennadel seines mit 300.000 Mark verschuldeten Fußball-Klubs an. Und schließlich informiert sich der puma-Chef mit 25 Landwirten über die Schweinezucht in seiner Region. Die Schlagzeile am darauffolgenden Tag in den Nordbayerischen Nachrichten ist ihm gewiss: "puma-Dassler war vom kapitalen Zuchteber beeindruckt."

So erlebt die alte Fehde der verstorbenen Brüder heutzutage in der Lokalpresse eine verfeinerte Neuauflage. Alljährlich zur Faschingszeit äußern die Narren von Herzogenaurach "ihren Traum", der die beiden Firmen und damit die Stadt wiedervereinigen soll. "Endlich haben sich die Genossen für immer zusammen-geschlossen. Ja ihr Leut, das war nicht dumm, die Firma heißt jetzt adi-pum." Doch darauf sollte die Bevölkerung nicht erst warten. Ein Flug nach Taiwan könnte jedem den "Seelenfrieden" verschaffen. In den Hallen B und C der dortigen Sportartikel-fabriken produzieren adidas und puma gemeisam. Dort kostet eine Lohnminute nämlich nur 5 Pfennig.