Donnerstag, 1. Mai 1980

Reimar Oltmanns: " ... wo es im Leben langgeht " Jugend in den achtziger Jahren. Das Wunschbild der Medien (Teil II)


Die Erleichterung über die angeblich so stabile Jugend, wie sie von Demoskopen ermittelt und von den Massenmedien vermittelt wird, basiert auf besonders "selektivem" Wahrnehmungsvermögen. Die Beispiele sprechen für sich.

Vorwärts, Bonn
01. Mai 1980

Aber die "deutsche Jugend" wäre nicht die "deutsche Jugend", hätte sie nicht schon in früheren Jahren eine der althergebrachten Lebensweisheiten einsichtig erkannt. Dieses herauszufinden blieb allerdings dem Hamburger Kehrmann-Institut vorbehalten: So sind 75,8 Prozent der 15- bis 25jährigen der Meinung: "Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder muss sich im Leben durchsetzen." Wo sich jeder selbst der Nächste ist, wo Leistungswille als unveräußerliche Wertmaßstäbe dominieren, da ist es auch nur logisch, dass die "deutsche Jugend" nicht vor aktuellen "Engpässen" kapituliert.

Da mögen die Leute so viel unken, wie sie wollen. Bild am Sonntag behauptet lapidar: "74 Prozent kennen keine Schulangst." Die Schlagzeile: "Schulstress! Das ist doch übertrieben!" Wenn es schon mit dem Schulstress nicht stimmt, dann kann es mit dem Numerus clausus auch nicht weit her sein. Die Welt resümiert gelassen: "Nur 19 Prozent wollen für seine Abschaffung demonstrieren, 32 Prozent würden sich ihnen vielleicht anschließen, 46 Prozent jedoch nicht." Ähnlich verhält es sich auch mit der Angst vor Arbeitslosigkeit. Das Kehrmann-Institut ergründete: Nur 6,1 Prozent der Jugendlichen haben große Angst, 24,6 Prozent fürchten sich zwar davor, ohne Job oder Ausbildung zu sein, aber 42,9 Prozent sind auch in dieser Hinsicht sorglos.

JUGEND NACH MASS ... ...

All diese Zahlen lassen nach vorherrschender Interpretation nur die Aussage zu - eine Jugend nach Maß, eine Bilderbuch-Jugend. Keimfrei, klug, karrierebewusst. Was tatsächlich bei derartigen Untersuchungen zum Vorschein kommt, ist mehr als fragwürdig, Ein angeblicher Prototyp, den es nur auf dem Papier gibt, wird in prozentualen Größenordnungen vorgeführt. Der aus irgendwelchen Häufigkeitsberechnungen resultierende "Mittelwert" macht die Jugend aus, mit Daten und Fakten scheinbar für jedermann nachzuprüfen. Ein zweifelhaftes Unternehmen, das kaum brauchbare Ansätze liefert, auch nur teilweise die tiefgreifenden Veränderungen und den nachfolgenden Stimmungswandel zu erfassen.

... ... UND ALS SOLCHE IST NICHT GEFRAGT

Aber die Demoskopen entdeckten noch eine ganz andere Jugend. Die Generation der "lov's in the air", die Nischen für Gefühl, Romantik und Unwiderstehlichkeit; untersucht auf dem Niveau solcher Schlagergrößen wie Roy Black (*1943+1991) oder Heino, selbst wenn sich die Stars heute Maffei oder Travolta nennen. Gemeint ist ebenfalls die Vermarktung von Emotion und Kitsch in den abgesteckten Bahnen. In diesem Demoskopen-Metier gibt's natürlich kein "Herzflimmern" zwischen Mutter und Sohn, kein "Messer im Kopf" und erst recht kein "Deutschland im Herbst" (Spielfilm über den RAF-Terrorismus, 1978). Alles ganz anders, dozieren Umfrageexperten und wühlen in ihrem Zahlenwust schon wieder nach Prozenten, als seien sie der Weisheit letzter Schluss. "Von einer romantischen Hochzeit träumen sogar 77,4 Prozent der Mädchen und 57,4 Prozent der Jungen". errechneten die Kehrmann-Leute.

Am Image einer Jugend polieren, in der sich jeder wiederfinden kann - die Schallplatten-LP-Produzenten, die "take offs" der Werbeagenturen, die Textilbranche - am allerwenigsten aber die Jugendlichen selber.

PSEUDO-MILIEU - JETSET-ÄRA

Um die geht es auch nicht primär, obwohl dieser Eindruck vordergründig aufrechterhalten wird. Das Pseudo-Milieu der Stars, des Disco-Glimmers, der Jetset-Ära, der permanenten Suggestionen, das Unerreichbare erreichbar erscheinen zu lassen, ist eine alte Erfindung der Wettbewerbswirtschaft. Zum einen spielt dabei die Kaufkraft der Jugendlichen eine Rolle, zum anderen - und das ist wesentlicher - fungieren sie als Vehikel der Wachstumsgesellschaft. Deren Grundkoordinaten - Dynamik, Frische, Erfolg, Status und Zukunft - müssen mit neuen Impulsen in eine oft schon gesättigte, ausgelaugte und ermattete Erwachsenenwelt eingespeichert werden.

Der Gießener Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst Eberhard Richter schrieb im Jahre 1979 in seinem Buch "Der Gotteskomplex": "Die Menschen richten sich so her, wie die Wirtschaft ihre Ware ausstattet: gefällig, attraktiv, zum Gebrauch ermunternd ... Das rücksichtslose System der Wettbewerbswirtschaft fragt nicht mehr danach, wie es in den Menschen innen aussieht. Wichtig ist nur, ob sie brauchbar sind, was man mit ihnen machen kann. Gut verwertbar ist aber nur, wer fit ist. Also muss man immerfort fit sein oder zumindest sich so geben, als wenn man es wäre."

"MIDLIFE-CHRISIS"

In diesem Aktionsradius bewegt sich mehrheitlich die Berichterstattung der Massenmedien; von einigen positiven Rundfunksendungen und Reportagen einmal abgesehen: Artikel, die spezifische Jugendprobleme aus der Perspektive der Sechzehnjährigen darstellen, bleiben Mangelware. Nachholfbedarf. Der Faktor Jugend
wird als Image-Produkt für den Leser gehandelt. Er muss für jeden herbeigeredeten modernistischen Trend herhalten. Es ist ein folgenschwerer Trugschluss, anzunehmen, die Jugend als solche sei gefragt. Sie soll vielmehr die künstliche Interaktionsspirale zwischen ausgedachten, künstlich erzeugten Bedürfnissen und abgeschlafften, ermatteten Vierzigern in der "Midlife-crisis" in Gang halten. Das allein macht die Jugendlichen als Promotor für den Wirtschaftskreislauf unentbehrlich.

MONOPOL ÜBER JUGENDDATEN

Nur so ist es auch verständlich, warum die Großkonzerne beinahe ein Monopol über sämtliche Jugenddaten besitzen, warum hauptsächlich sie die demoskopischen Institute befragen, warum ihre Fakten, die vorher fein säuberlich sortiert und zensiert werden, weitgehend die öffentliche Diskussion beherrschen. Es ist eine traurige Tatsache, dass das Bonner Jugend- und Familienministerium als Grundlagenmaterial nicht viel mehr anzubieten hat als die Jugendstudie '76 der Werbeagentur McCann.

Dass ein großer Teil junger Leute aus dieser Gesellschaft ausgestiegen ist oder in naher Zukunft wegkippt, dass die Selbstmordrate exorbitant in die Höhe schnellt, das Ausmaß der Drogenabhängigkeit - das alles wird von den maßgeblichen Kräften hartnäckig ignoriert. Täten sie es nicht, müssten sich manche Politiker, Chefredakteure und Manager öffentlich eingestehen, in welch labilem Zustand sich die Bundesrepblik Deutschland befindet. So laboriert man oberflächlich an Symptomen herum und lässt die Ursachen weitgehend außer acht. Statt dessen wird die Fassadenkultur aufrecht erhalten, man spricht vom "sozialen Mief", wenn es um Benachteiligung geht und stempelt Aussteiger zu Versagern, die es halt nicht gepackt haben, sich durchzusetzen. So einfach ist das. Horst Eberhard Richter bemerkt dazu:
"Wer sich aus dem Party-Rummel zurückzieht und sich mehr in sich selbst vertieft, hat Mühe , nicht in schlechten Ruf zu geraten. Die Flucht in den geselligen Betrieb ist das sozial Erwünschte. Die introvertierte Beschäftigung mit den eigenen Problemen wird als die eigentliche Flucht umgedeutet und missbilligt. Denn sie verunsichert die anderen, welche ihr Verleugnungssystem attackiert sehen. Die Verweigerung des Mitspielens wird nur dann verziehen, wenn man hört, dass der Betreffende zum Psychiater geht."

DAVID BOWIE + MARLON BRANDO

Wie in dieser Gesellschaft mitgespielt werden soll, belegen die Massenmedien tagtäglich aufs neue. Typische Kostproben, die durch x-beliebige Beispiele immerfort ergänzt werden könnten: " ... Im Pöseldorfer 'Nach Acht' geht's erst richtig los. Hier ist man nicht alternativ, sondern attraktiv. Und trinkt nicht Bier, sondern Bourbon oder Gin-Tonic. Man quatscht nicht, man plaudert. Angestrebt wird die Synthese von David Bowie und Marlon Brando. Hier wirken die Kräuterjungen wie Fossile aus der Vorzeit. Man trägt knielang und morbide - aber mit Stil." (stern)

" In den winterlichen Straßen der großen Städte eilen junge Männer in Jeansmänteln zu ihren Rendezvous - in der Hand eine einzelne Rose. Die jungen Mädchen nehmen sie lächelnd in Empfang und sind stolz, dabei gesehen zu werden. Bekenntnis zur Zärtlichkeit - ein neues Bewusstsein. In den Aufgängen der Volkshochschule stauen sich nach Feierabend Schlangen junger Amateurmusiker, die mit ihren Kontrabässen und Tellos in die Musikzimmer drängen. 'Schubert, Brahms und Hadyn'. sagt der Musikdozent. 'sind bei den jungen Leuten beliebt wie früher die Beatles!' ... Sabine Köhn, Schülerin am Hamburger Helene-Lange-Gymnasium, ist bildhübsch. Ein Mädchen wie von David Hamilton fotografiert, mit seidig glänzenden braunen Haaren und einer zierlichen Figur. Sie sitzt im knappen blaßrose Chiffonkleid, das weit um ihre Beine schwingt, in einem Lokal. Es ist das sorglose Lachen der Jugend." (Hörzu)

OPPORTUNISTEN UND ANGEPASSTEN

Solch eine Jugend ist die willkommende und hofierte. Sie setzt die ökonomischen Gesetzmäßigkeit nicht außer Kraft, rüttelt an keinem politischen Fundament, stellt keinerlei lästige Fragen. Ja, meint Quick, "bei allem Respekt" vor den Schriftstellern Heinrich Böll (*1917+1985) und Günter Grass - aber in der Einschätzung der Jugendlichen haben sie sich geirrt. Heinrich Böll befürchtete: "Wir sehen eine Generation von Eingeschüchterten, Opportunisten und Angepassten groß werden." Günter Grass registrierte eine Jugend, die "kritiklose Anpassung an bestehende Verhältnisse als staatsbürgerliche Tugend" erscheinen lässt. - "Und eines ist ja wohl gewiss: Diese jungen Menschen haben unser Vertrauen verdient ..." kommentierte der Chefreporter der Bild am Sonntag, Jürgen Bungert, seine Serie. Schließlich hatte er sich nicht nur von Meinungsumfragen, sondern auch "vor Ort" überzeugen lassen: "Wir saßen in einem Lokal, aßen Steaks, tranken Bier und diskutierten. Es war eine jener Diskussionen, an die man sich gern wieder erinnert ... Sechzehnjährige, die klare Vorstellungen davon hatten, wo es im Leben langgeht ..."