Freitag, 21. September 1979

Einwanderung: Wir wollen Deutsche werden


























Weltweit sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts 190 Millionen Menschen als Auswanderer unterwegs. Rund drei Millionen standen schon in den siebziger Jahren Schlange für einen deutschen Pass. Durch verschärftes Asyl- und Aufenthaltsrecht in Europa wird der Weg mühsam - demütigend.

ZEITmagazin, Hamburg
vom 21. September 1979
von Reimar Oltmanns

Die 15jährige Jasmina kauert im Sessel und liest die Partitur von Rachmaninows zweiten Klavierkonzert. Derweil blättert ihre Mutter Anastasia in vergilbten Dokumenten. Beide sind ein wenig nervös. Eine Dame vom Jugendamt Berlin-Charlottenburg hat sich zum Hausbesuch angesagt.

Für Mutter und Tochter geht es darum, dass die Behörden-Visite positiv ausfällt. Nur dann können sie erreichen, was für Bundesbürger selbstverständlich ist: deutscher Nationalität zu sein.

Obwohl die Dame vom Jugendamt die Akten der Samssulis kennt, lässt sie sich nochmals ausführlich die beiden Lebenswege erzählen. Schließlich komme es ja auch auf den "persönlichen Eindruck" an, bemerkt sie dezent.

FLÜCHTENDE PARTISANEN

Die 39jährige Anastasia Samssuli wurde in Griechenland geboren. Während der Bürgerkriegswirren im Jahre 1948 nahmen flüchtende Partisanen das damals neunjährige Mädchen mit über die Grenze nach Bulgarien. Anastasia wuchs mit Exilgriechen in Sofia auf und bestand dort ihr Abitur. In der DDR ließ sie sich 1964 zur medizinisch-technischen Assistentin ausbilden. Im selben Jahr wurde Jasmina in Potsdam geboren. Sie ist das Kind einer kurzfristigen, da offiziell unerwünschten Liaison zwischen ihrer Mutter und einem nigerianischen Studenten, der sich schon bald nach der Geburt nach Afrika abgesetzt hatte und seither nichts mehr von sich hören ließ. Als die Griechin Samssuli gedrängt wurde, DDR-Bürgerin zu werden, blieb sie nach einer Urlaubsreise im Westen.

Seit acht Jahren leben Anastasia und ihre Tochter Jasmina nunmehr in West-Berlin. Die Mutter arbeitet in einer Krebs-Klinik, Jasmina geht auf das humanistische Goethe-Gymnasium, spielt Klavier, paukt Mathematik und Latein. Die Samssulis sprechen akzentfreies Deutsch. sie zählen Deutsche zu ihren Freunden, die Mutter könnte sich "gar keinen besseren Job wünschen", die Tochter will nach bestandenem Abitur Mathematik und Musik studieren.

UNEHELICH UND SCHWARZ NOCH DAZU

Dennoch sind die Samssulis für die Behörden eine Rarität. Die Mutter ist eine Weiße, ihre Tochter eine Farbige, die Mutter eine Griechin ohne Papiere ihres Landes, die Tochter staatenlos. So ziemlich alle gängigen Vorurteile treffen auf die beiden zu. Heimatlos und aus dem Osten, unehelich und schwarz noch dazu. "Kommunistische Weltenbummler mit einem bundesdeutschen Fremdenpass", spottet Jasmina.

Sie möchte "dieses unerträgliche Stigma" endlich verlieren. Sie möchte wie jeder Bundesbürger ohne Visum durch Westeuropa reisen können, nicht an jeder Grenze durchsucht werden, nicht immer das Geraune einer wartenden Touristenschlange ertragen müssen - nicht selten mit dem Zusatz: Wann es denn endlich weiterginge oder ob die Schwarze immer noch nicht wüsste, was ein gültiger Ausweis sei. Dass Kinder ihr auf der Straße "Kaba, Kaba" nachrufen, daran hat sie sich mittlerweile gewöhnt, ebenso an die stereotype Frage, ob sie überhaupt Deutsch spräche.

Doch die Fürsorgerin interessierte sich mehr für das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. "Verstehen Sie sich eigentlich?" fragt sie prüfend. Immerhin sei das Zusammenleben ja nicht so einfach. "Ja, wenn Sie das meinen", antwortete Frau Samssuli, "wegen der unterschiedlichen Hautfarbe gibt es zwischen uns keine Probleme." Zwar habe sich Jasmina als Siebenjährige einmal gewünscht, so weiß wie ihre Spielgefährtinnen zu sein. "Da habe ich dem Kind gesagt", fährt die Mutter fort, "die Weißen sehen doch so krank und käsig aus. Braun ist viel gesünder und schöner. Nicht umsonst liegen so viele Leute am Strand." Seither existiert dieses Thema nicht mehr bei ihnen.

SCHNÜFFELEI BEIM NACHBARN

Die Sozialarbeiterin scheint nach der einstündigen Unterhaltung zufrieden, schaut flüchtig durch die Wohnung, bleibt kurz vor Jasminas Bücherregal stehen, lässt sich noch die eine oder andere Lektüre zeigen und verabschiedet sich behördengerecht: höflich, aber distanziert. Als sich die Haustür hinter der Besucherin geschlossen habe, so erzählt Anastasia Samssuli später, habe sie erst einmal durchgeatmet und gedacht: "Gott sei Dank, dass meine Tochter keine Micky-Mouse-Hefte liest."

Drei Wochen später lässt das Vormundschaftsgericht der Mutter die "Bestallungs-urkunde" zustellen. Das bedeutet , dass sie auch als angehende Deutsche weiterhin für ihre Tochter das Sorgerecht wahrnehmen darf. Der erste Schritt zur Einbürgerung ist gemeistert. Der zweite folgt prompt. Vom Ausländeramt meldet sich ein Herr zur Wohnungsinspektion an. Aber der hagere Mann um die vierzig will gar nichts vom Interieur wissen. Er notiert sich lieber die Namen der Nachbarn und fragt, ob sie alle Deutsche seien. Da dem so ist, drängt sich für ihn das Problem auf, ob mit den beiden nicht ab und zu das Temperament durchginge, ob sie im Haus nicht die Ruhe empfindlich stören würden. Unangenehm berührt, aber beherrscht genug, entgegnet Frau Samssuli, er könne sich ja bei den deutschen Anwohnern erkundigen. Das habe er ohnehin vor, sagt der Beamte trocken.

LOBPUDELEI AUF DEUTSCHLAND

Wie die zu den Deutschen stünden, ist sein nächster Fragenkomplex. Und Frau Samssuli erklärt. "So ein Land wie die Bundesrepublik gibt es kein zweites Mal. Wer hier etwas leistet, der kommt auch voran." Dabei zeigt sie auf ihren kleinen Balkon , den sie mit Topfpflanzen und einem üppigen Gladiolenstrauß geschmückt hat. Einmal, so erzählt sie, sei Jasmina weinend von einer Ferienreise aus Brasilien heimgekehrt. Dort wären die Menschen weitaus offener und herzlicher als in Deutschland, habe ihre Tochter berichtet. Aber sie habe dem Mädchen damals gesagt, was sie jetzt vor dem Behördenvertreter wiederholt. "Jasmina, wenn du einen guten und zuverlässigen Freund brauchst, dann werden die Südländer nicht da sein. Die Deutschen fressen zwar viel in sich hinein, aber auf sie ist Verlass."

Eine Meinung, der sich der Herr vom Ausländereamt mit einem stummen Nicken anschließt. Jedenfalls ist für ihn damit die Frage "Hinwendung zum Deutschtum", wie er es formulierte, positiv beantwortet.

Einige Monate darauf bekamen Anastasia und Jasmina Samssuli von der Aus-länder-Behörde ihre Einbürgerungszusicherung; Deutsche werden sie aller Voraus-sicht nach schon im nächsten Jahr.

PEINLICHE BEFRAGUNGEN

Hausbesuche wie bei den Samssulis, dazu peinlich-penetrante Bürokraten-Fragen über Nachbarn und Nation, provozieren bei der Einbürgerungsprozedur nicht selten schwülstige Auslassungen über vermeintlich hervorragende deutsche Eigenschaften. Nur zu genau wissen assimilierte Ausländer, dass sie mit einem antrainierten deutschen Über-Ich vor Behördenvertretern den Weg des geringsten Widerstands gehen und damit ihre Chancen erhöhen, Deutsche zu werden. Denn einen Rechts-anspruch auf Einbürgerung in die Bundesrepublik haben nur ehemalige Volks-deutsche und in der Nazi-Zeit emigrierte jüdische Mitbürger. Ausländer hingegen - ob aus Übersee oder aus den EU-Staaten - sind letzt endlich auf das Wohlwollen der Verwaltung angewiesen. In jedem Fall haben Inspektoren und Amtsmänner einen gesetzlich konzedierten "Ermessensspielraum". In jedem einzelnen Fall können sie ein mangelndes <öffentliches Interesse> des Staates an diesem oder jenem Bewerber geltend machen.

UNBESCHOLTENER LEBENSWANDEL

Wer dennoch Deutscher werden will, muss als Junggeselle mindestens zehn, als Verheirateter fünf Jahre im Lande leben, dazu müssen vorschriftsgemäß die "freiwillig Hinwendung zu Deutschland, Grundkenntnisse unserer staatlichen Ordnung und ein Bekenntis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung" verbürgt sein. Ferner muss der Aspirant die Sprache beherrschen, "wie dies von Personen seines Lebenskreises erwartet wird". Weitere Kriterien nach den Einbürgerungsrichtlinien sind wirtschaftlich geordnete Verhältnisse und ein "unbescholtener Lebenswandel". Danach sind Alkoholiker, Heroinsüchtige, Playboys mit unehelichen Kindern, aber auch Arbeitslose und Kommunisten von vornherein chancenlos.

Tatsächlich hat die Bundesrepublik wenig Interesse, immer mehr Ausländer mit dem für sie begehrten grünen Reisepass auszustatten. Ähnlich wie die meisten kontinen-tal-europäischen Staaten betonte auch das Bonner Innenministerium in seinen Einbürgerungsrichtlinien vom 2. Februar 1978 zum wiederholten Male: "Die Bundes-republik Deutschland ist kein Einwanderungsland; sie strebt an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch Einbürgerung zu vermehren." Allenfalls dürfe von einem gesprochen werden, "die in der Regel nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt aus eigenem Entschluss in ihre Heimat zurückkehren".

Dennoch kam die sozial-liberale Regierung nicht umhin, im November 1981 eine Gesetzesvorlage ausarbeiten zu lassen. Danach sollen

o Kinder ausländischer Arbeitnehmer, die älter als 16 Jahre sind, die Einreise grundsätzlich untersagt werden;

0 die Nachzugerlaubnis für Familienangehörige vom Nachweis einer angemessenen Wohnung abhängig gemacht werden;

0 Jungvermählte aus der Türkei nur noch dann einreisen dürfen, wenn der Ehepartner in der Bundesrepublik eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und einen Arbeitsplatz hat;

o der Familienachzug dann nicht erlaubt werden, wenn sich der Ausländer zu Aus- und Fortbildungszwecken in der Bundesrepublik aufhält.

o Lediglich Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren soll die lang ersehnte Ein-bürgerung erleichtert werden. Sie müssten allerdings schon acht Jahre in der Bundesrepublik leben und sich ohne Murren zur Bundeswehr einziehen lassen.

EINWANDERUNGSLAND

Trotz solcher Deklarationen und restriktiven Gesetzesvorlagen ist aus der Bundes-republik längst ein Einwanderungsland geworden. Seit Kriegsende haben es über 200.000 Ausländer verstanden, Bundesbürger zu werden. Dabei tauchen politische Umsiedler, ehemalige Volksdeutsche und DDR-Flüchtlinge in dieser Statistik gar nicht auf. Und neuerdings, von der Öffentlichkeit kaum registriert, strebt ein Heer von Gastarbeitern und politisch Verfolgten die Einbürgerung an. Anfang der achtziger Jahre, so vermuten Experten in den Ausländerbehörden, werde auf die Bundesrepublik eine neue Antragsflut zuschwappen.

Allein von den 4,6 Millionen Gastarbeitern wollen nach Schätzungen von Heinz Kühn (1912-1992), ehemaliger Bundesbeauftragter für Ausländerfragen und früherer nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, etwa drei Millionen in der Bundes-republik bleiben.

Bereits heute leben mehr als sechzig Prozent der Ausländer länger als fünf Jahre in diesem Land; damit haben sie nach dem noch geltenden Recht einen Anspruch auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Heinz Kühn: "Gewiss sind wir kein Ein-wanderungsland im Sinne von Kanada, Australien oder Brasilien. Aber für die aus den Anwerbeländer sind wir ein Einwanderungsland, auf jeden Fall für die junge Generation."

So sieht es auch die FDP-Politikerin Liselotte Funke, die nunmehr als Kühn-Nach-folgerin die Bundesregierung in Sachen Ausländer berät. Sie will entgegen den Vorstellungen der CDU/CSU und ebenfalls der Bundesregíerung das Aufenthalts-recht für Ausländer , damit den Betroffenen endlich eine Lebens-planung ermöglicht werden Denn die allermeisten könnten nicht mehr in ihre Heimat zurück - sei es aus politischen Gründen oder einfach deshalb, weil es in ihren Ursprungsländern auch in Zukunft nicht genügend Arbeit gibt.

ASYLANTRÄGE

Auch die Anzahl der Asylanträge ist innerhalb von zwölf Monaten sprunghaft gestiegen. Im Jahre 1978 wurden 33.136 Asylbewerber notiert, 1977 waren es lediglich 16.419. Den einsamen Rekord hält bislang das Jahr 1980 - über 108.000 Ausländer suchten in der Bundesrepublik eine neue Bleibe. Kommen sie nun aus Pakistan, Chile, Argentinien oder Vietnam - heimatlos sind sie allemal, und für die meisten dürfte es nur eine Frage des Wartens sein, bis ihr Einbürgerungsbegehren erfüllt wird.

Für Manfred Sog, Regierungsdirektor im Hamburger Ausländeramt, geht es bei den Bewerbern "oft um eine endgültige Absicherung dessen, was sie hier schon erreicht haben". Viele seien mit deutschen Frauen verheiratet und hätten es beruflich zu etwas gebracht. Da reiche ihnen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr, die von der Behörde jederzeit widerrufen werden könnte.

So wollten 1978 nach Schätzungen der Ämter über 100.000 Ausländer Bundesbürger werden. Zwei Jahre später waren es bereits 150.000. Zwei Drittel fielen wegen der restriktiven Einwanderungspolitik durch. Aber die Bevölkerung wuchs 1978 wieder um die Einwohnerzahl einer Kleinstadt - nämlich um 31.500 Neu-Deutsche. Die Wege zu der erwünschten Einbürgerung sind freilich lang , beschwerlich - allzu oft auch demütigend.

"ZUFRIEDEN JAUCHZET GROSS UND KLEIN ... ..."


Der 47jährige Apotheker Chahedi zeigt nicht ohne Stolz die erst kürzlich ausgestellte Einbürgerungszusicherung der Behörde. Überhaupt ist er stolz darauf, was er in der Bundesrepublik bisher geleistet hat. Der Ausblick von seiner großräumigen Terrasse im vierten Stock eines Penthouse an der Ostseeküste von Scharbeutz hat die Qualität einer Ansichtskarte. Abends schauen der melancholische Chahedi und seine blonde Frau Eva oft aufs Meer, wo Motorjachten ankern. "Für mich", sagt Chahedi auf der Terrasse, "ist Deutschland mein Heimatland. Ich bin deutscher als es manche Deutsche je sein können," Unaufgefordert, als wolle er einen Ulk machen, zitiert er aus Goethes Osterspaziergang: "Zufrieden jauchzet groß und klein, hier bin ich Mensch, hier darf ich sein."


Dabei waren die 18 Jahre, die er in der Bundesrepublik lebt, alles andere als ein Spaziergang. Das belegen Leitz-Ordner in Sachen Einbürgerung, die sich in seinem Bücherregal neben Heinrich Bölls "Katharina Blum" und der John O'Haras "Träume auf der Terrasse" stapeln.


AM OPIUM VERRECKEN


Als Iraz Chahedi 1962 auf dem Frankfurter Flughafen landete, hatte er gerade fünf Jahre als Forstingenieur im Wüstengebiet 2.000 Kilometer süd-westlich von Teheran gearbeitet - eine Strafversetzung durch den iranischen Geheimdienst, weil Chahedi dem Schah-Regime als "Sicherheitsrisiko" galt. Der Apotheker heute: "Ich wollte in der Wüste nicht stumpfsinnig werden, ich wollte nicht wie viele meiner Freunde in Teheran am Opium verrecken. Ich wollte in ein Land mit Zukunft." In der Bundesrepublik glaubte er es gefunden zu haben. Ein Sparkassen-Werbespruch aus den fünfziger Jahren wurde zu seinem Leitmotiv. "Haste was, biste was."


Chahedi wiederholte sein Abitur und beendete nach vier Jahren sein Pharmazie-Studium in Kiel. In seiner Freizeit sortierte er auf dem Fischmarkt Kisten, las in Häusern Gas ab oder half in Apotheken. Schon 1971 , Chahedi hatte sein Examen als approbierter Apotheker bestanden, wollten ihn die deutschen Behörden in den Iran abschieben. Denn nach dem Entwicklungshilfeabkommen zwischen beiden Ländern müssen die an den bundesdeutschen Universitäten ausgebildeten Iraner die er-worbene Qualifikation in ihrem eigenen Land einbringen. Chahedi weigerte sich jedoch zurückzukehren. Er war der Meinung, "ein Land, das mir nichts gegeben hat, nicht einmal en Stipendium, ist für mich keine Heimat mehr".


Mit der tatkräftigen Unterstützung des Plöner CDU-Kreisvorsitzenden Wolf-Dieter Krause - auch er Apotheker - gelang es Chahedi, seine Aufenthaltsdauer zwei Mal um zwei Jahre zu verlängern. Doch sein Wunsch, in dieser Zeit als approbierter Apotheker selbstständig arbeiten zu können, blieb Illusion. Lediglich als "Helfer" bekam er eine Arbeitserlaubnis. Sie kam ihm einem "Berufsverbot" gleich. "Das ist doch genauso, als wenn ein Arzt im Krankenhaus zum Pfleger degradiert wird."


VON AGENTEN BEWUSSTLOS GEPRÜGELT


Dennoch verkaufte er beim Apotheker Krause fleißig Tropfen und Tinkturen. Um seine für 1975 angekündigte Ausweisung zu unterlaufen, hatte er bereits 1974 einen Asylantrag gestellt. Darin machte er geltend, ein politisch Verfolgter zu sein, der in der Nationalen Jugendbewegung des früheren sozialistischen Ministerpräsidenten Mossadegh gekämpft habe.


Er sei ein Mann, der 1961 vom Geheimdienst verhaftet und drei Mal bewusstlos geschlagen worden sei, den die Teheraner Presse gar als flüchtig vermeldet habe. Ein Mitarbeiter des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), der ihn daraufhin im Schleswig-Holsteinischen besuchte, riet Chahedi dringend ab, auf seinem Antrag zu bestehen. Sein Gesuch hätte ohnehin wenig Chancen, zudem würde der persische Geheimdienst SAVAK kontinuierlich über Asylbegehren seiner Landsleute unter-richtet. Chahedi ließ sich nicht beirren, aber sein Antrag wurde abgelehnt, und die Behörden forderten ihn 1975 auf, unverzüglich die Bundesrepublik zu verlassen.


ZWECK-EHE FÜR KRAUSES APOTHEKE


Doch Chahedi ("Ich bin ein Löwe") wäre nicht Chahedi, hätte er nicht eine neue Variante parat gehabt. Kurzerhand ging er mit einer Helferin aus der Krause-Apotheke eine Ehe ein und präsentierte die Heiratsurkunde dem Plöner Kreis-ordnungsamt. Der Ordnungsbeamte zu Chahedi: "Was wollt ihr denn eigentlich hier, warum geh ihr nicht nach Hause. Ihr wollt doch nur unsere Mädchen kaputtmachen." Chahedi zum Ordnungsbeamten: "Das machen die Belgier und Franzosen wohl nicht. Nein, die machen eure Mädchen glücklich." Die neue Aufent-haltsgenehmigung jedenfalls war ihm sicher, die eingegangene Vernunftehe, "die größte psychische Belastung in meinem Leben".


Dessen ungeachtet schien Iraz Chahedis Aufstieg in der Provinz unaufhaltsam. Sein Chef Krause versprach ihm eine Beteiligung am Umsatz, Chahedi orderte einen Ford Mustang in den USA, seine Tweedanzüge ließ er sich an Hamburg maßschneidern - denn das Stangengeschäft war für ihn seither passé. Bei der Kölner Kreditbank bekam er sogar ein 100.000-Mark-Darlehen zu einer Verzinsung von 9,5 Prozent, die erste Eigentumswohnung war gekauft. Parallel beantragte er seine Eindeutschung, sein Chef trat mit einem Kameraden aus der schlagenden Verbindung in Plön als Bürge auf.


NÖTE - ERKLÄRUNGSNÖTE


Doch die Weltläufigkeit nahm in der norddeutschen Provinz jäh ein Ende, als Apotheker Krause sich nicht mehr erklären konnte oder wollte, woher sein Mitarbeiter das ganze Geld nehme. Krause hegte den Verdacht, dass sein Kompagnon Scheine aus der Drogerie- und Apothekenkasse verschwinden lasse. Gefängnis und Abschiebung drohte er ihm an, und einen Einblick in Chahedis Konten forderte er. Schließlich habe er, der Plöner Vize-CDU-Kreisvorsitzende, für ihn gebürgt, damit er überhaupt Deutscher werden könne. Nach elfjähriger Zu-sammenarbeit trafen sich die Freunde von einst vor dem Arbeitsgericht wieder. Dazu Chahedi: "Die Sachlage war klar. Er sah in mir neuerdings einen Konkurrenten. Er wollte verhindern, dass ich deutscher Staatsbürger werde und mich selbstständig mache. Denn siebzig Prozent seiner Kunden wären zu mir gekommen. Krause kümmerte sich fast nur um seine Politik, in der Apotheke war er kaum zu sehen."


Wolf-Dieter Krause, der derartige Motive bestritt, zeigte Chahedi bei der Staatsan-waltschaft in Kiel wegen Unterschlagung an, zog die Bürgschaft zurück, seine Mitarbeiterin, die mit Chahedi die Ehe eingegangen war, löste flugs das Bündnis auf. Kurzum: Iraz Chahedi sah sich gezwungen, wieder dort anzufangen, wo er 1973 kurz vor seiner Ausweisung aufgehört hatte. Er besorgte sich zwei neue Bürgen - diesmal einen Oberstleutnant a.D. und einen Präsidenten der Oberpostdirektion a.D. - heiratete zum zweiten Mal ("Endlich meine Liebe") und wartete acht Monate auf das Ermittlungsergebnis, bis die Staatsanwaltschaft das Verfahren (Az:52Js65/78) ohne großes Aufheben einstellte. Weitere vier Monate vergingen, ehe sich das Kieler Innenministerium nun endgültig entschließen konnte, dem unbescholtenen Chahedi die Einbürgerungszusicherung auszuhändigen.


VOM "EHRBAREN DEUTSCHEN"


Oft genug kommen politische Motive ins Spiel, wenn Beamte mit einem Einbürger-ungsfall ihre Vorstellung von "ehrbaren Deutschen" verknüpfen - natürlich paragrafentreu.


In Berlin lehnten sowohl der Innensenator als auch die XI. Kammer des Ver-waltungsgerichts 1977 die Einbürgerung des Engländern Alan Posener, 30, ab. Der Pädagoge, Sohn des Architekturhistorikers Julius Posener, wurde 1949 in England geboren, wohin sein Vater 1933 wegen "rassischer Verfolgung" emigriert war. Als die Poseners 1962 nach Berlin umsiedelten, ließ sich der Vater wieder einbürgern. Der gleiche Antrag wurde freilich abgewiesen, als ihn der Sohn stellte. Da nützte es auch nichts, dass Posener junior ein deutsches Domizil vorweisen konnte, mit einer Deutschen über fünf Jahre verheiratet ist und sein erstes Staatsexamen "mit Auszeichnung" an einer deutschen Universität bestanden hat.


Der Grund für den Negativ-Bescheid: Nach dem noch geltenden "Reichs- und Staats-angehörigkeitsgesetz", das im wesentlichen aus dem Jahre 1913 stammt, müssen Ausländer "einen unbescholtenen Lebenswandel" nachweisen können. Posener,nach eigenen Bekunden parteiloser Maoist, ist jedoch wegen KPD-naher Aktivitäten zu zwei Bagatellstrafen von jeweils 300 Mark verurteilt worden. So hatte er mit einer Spraydose an eine Berliner AEG-Mauer den Satz gesprüht: "Weg mit dem Staats-schutzgesetz gegen die KPD." Das Verwaltungsgericht meinte, derlei Grafitti-Malereien seien "Ausdruck einer gewissen Gesinnung, die zu Straftaten führt".


JAHRE UM EINBÜRGERUNG GEBANGT


In Frankfurt am Main musste der von den Nationalsozialisten verfolgte Schall-plattenhändler Peter Philipp Gingold mit seiner Familie sechs Jahre um seine Einbürgerung bangen. Gingold, jüdischer Kommunist, hatte in Frankfurt aktiv in der Widerstandsbewegung gegen die Nazis gekämpft. Nach langen Auseinander-setzungen bekam er schließlich 1974 von der VI. Kammer des Frankfurter Verwaltungsgerichts sein Anrecht zugesprochen, Deutscher sein zu dürfen. Das Bundesinnenministerium hatte zuvor eine Einbürgerung mit dem Hinweis strikt abgelehnt, sie setze "ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grund-ordnung unserem Staate gegenüber" voraus. Im Falle Gingold lasse es "sich mindestens nicht ausschließen", dass dieses Engagement fehle. Ein "staatliches Interesse" an der Aufnahme Gingolds und seiner Familie "in den deutschen Staats-verband kann nicht bejaht werden", entschieden die Hausjuristen aus dem Bonner Ministerium.


DEUTSCHER PASS IM FALL HABSBURG


Dagegen bejahte die bayerische Landesregierung in München außerordentlich lebhaft die Einbürger des Otto von Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers. Dass des Strauß-Kabinett dabei gegen die gültige Rechtsverordnung verstieß, wonach die bayerische Landesregierung sowohl beim Bundesinnen-ministerium als auch beim Auswärtigen Amt hätte um Zustimmung nachsuchen müssen (Paragraf 3 der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit vom 5. Februar 1934), war im Fall Habsburg offensichtlich unerheblich. Auch Habsburgs Einstellung zur "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" erschien den CSU-Ministern offenbar makellos. Dabei machte der Neu-Deutsche nicht nur von sich reden, als er den Friedensnobelpreis auch für den früheren ugandischen Massen-mörder Idi Amin forderte, weil Willy Brandt und Henry Kissinger diese Aus-zeichnung erhalten hätten. Er empfahl der bundesdeutschen Bevölkerung gar eine "Diktatur auf Zeit". Im Falle einer terroristischen Erpressung mit einer "Atombombe aus der Waschküche", so von Habsburg, müsse "alle Macht ohne Verzug auf neun Monate an eine einzige Person übertragen" werden. Und weiter: "Dieser Mann sollte, nur für die Zeit des Notstands, das Recht haben, sämtliche Gesetze zu suspen-dieren ... ... Mit dem Staatsnotstand tritt automatisch er an die Stelle des Kanzlers." Nur so könne den Terroristen deutlich gemacht werden, dass im entscheidenden Moment "nur ein einziger Finger am Abzug sein wird". Im Münchner Landtag, lobte der frühere bayerische Innenminister Alfred Streibl die Notstandsphilosophie der "Kaiserlichen Hoheit". Seine Überlegungen hätten doch gerade zum Ziel, die Ver-fassungsordnung zu erhalten.


EINBÜRGERUNG AUF BAYERISCH


Einbürgerung auf bayerisch ist ohnehin nicht mit dem Rest der Republik vergleich-bar. Das zeigt sich, wenn bayerische Behörden bei Ausländern "Kenntnisse der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland" abfragen. Original-Ton aus dem Donau-Ries-Kreis nach einem Fragebogen:


o "Geben Sie wenigstens die erste Verszeile der bayerischen Nationalhymne an."


o "Wissen Sie, welche Tage der Freistaat Bayern als solche der Arbeitsruhe gesetzlich geschützt hat?"


o "Woran ist ein deutscher Volkszugehöriger zu erkennen?


o "Nennen Sie die deutschen Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Nachbar-Staaten fielen."


ERINNERUNGEN AN MANFRED BIELER


Da wundert's eigentlich niemanden, wenn ein deutscher Schriftsteller beim Landratsamt in Hinterpfaffenhofen von einem Amtmann nach einem zweistündigem Gespräch gefragt wird: "Sagen Sie mal, woher kommt es, dass Sie so gut Deutsch daherreden?" Gemeint ist Manfred Bieler (1934 - 2002) - "Maria Morzek", "Der Mädchenkrieg", "Der Kanal"), der sich nach seiner Flucht aus Prag im August 1968 um die deutschen Staatsbürgerschaft bemühte. Er war ein Deutscher ohne deutschen Pass.


Der DDR-Bürger Bieler war 1967 nach Prag übergesiedelt, um seine Frau Marcella heiraten zu können. Zehn Monate konnte er in der CSSR ein Tschechoslowake sein, dann war er nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Deutschland - im bundesdeutschen Hinterpfaffenhofen. "Ja, da haben Sie halt Pech, wenn Sie mal Deutscher waren, jetzt sind Sie eben Tschechoslowake", murmelte der Amtmann vor sich hin.


DEUTSCH-DIKTAT


Fünf Jahre sollte er auf die deutsche Staatsangehörigkeit warten, seine tschechische Frau zehn Jahre. Und für die Einbürgerung ist das Deutsch-Diktat zwingende Voraussetzung; auch für einen deutschen Schriftsteller. Um sich wenigstens dieser Peinlichkeit zu entziehen, brachte der Bestseller-Autor dem Herrn vom Amt einige seiner Werke mit. So diktierte eine Sekretärin lediglich Bielers Frau eine kurze Passage - aus einem Münchner Boulevard-Blatt.


Konzilianter gaben sich die Beamten erst, als Druck von oben kam. Im Jahre 1971 erhielt Manfred Bieler nämlich den bayerischen Förderungspreis für Literatur - eine Auszeichnung, die nur an Deutsche verliehen werden kann. Ähnlich wie die CSSR-Eishockey-Spieler, die nur mit einem deutschen Personalausweis in der deutschen Nationalmannschaft spielberechtigt sind, wurde Bieler im Hauruck-Verfahren zum Deutschen gemacht.


Allerdings blieben die bayerischen Beamten in Sachen Volksverseuchung penibel. Prag hin, Literatur her - erst als "ein Löffelchen der Bielerschen Exkremente" (Bieler) im Gesundheitsamt analysiert worden war, durfte der Familie die Einbürgerungs-urkunde ausgehändigt werden. Damals hatte Manfred Bieler "einen gelinden Schock", heute erheitert ihn die Episode nur noch. Damals war die Bundesrepublik für ihn auch noch ein "fremdes Land", heute ist er wenigstens in München heimisch geworden.


Heimat, hat ihm einmal ein Freund gesagt, sei für ihn dort, wo er einen Stuhl finde. Für Bieler könnte die in San Franzisko, Paris, Venedig, Rom, oder auch wieder Prag sein.


STILLSTAND SEIT JAHRZEHNTEN


Für die bundesdeutschen Gastarbeiterkinder steht dieser Stuhl auf den Hinterhöfen von Berlin-Kreuzberg, in den Getto-Verliesen des Ruhrgebietes und in Hamburg-Altona. Über 500.000 sind in Deutschland geboren sprechen die Sprache des Landes, aber kaum die ihrer Väter, über 900.000 gehen hier zur Schule und wollen, wenn möglich, einen Beruf erlernen, nur Deutsche können sie nach dem bisherigen Ausländerrecht schwerlich - noch immer nicht werden. Stillstand seit Jahrzehnten. Das Abstammungsprinzip, wonach in der Bundesrepublik Deutsche von Nicht-Deutschen unterschieden werden, steht ihnen im Wege: Wer keinen deutschen Vater und keine deutsche Mutter hat, ist Ausländer ohne sonderliche Rechte.


WIDERSTAND


Aber es regt sich Widerstand. Für den türkischen Lyriker Aras Ören ("Was will Niyazi in der Naunynstraße", "Deutschland, ein türkisches Märchen") sollen die Gastarbeiter "nicht ihre Haare blond färben, um hier bleiben zu können". Die Deutschen müssten sich vielmehr damit abfinden, dass, sozial und historisch betrachtet, keine Arbeitskraft an ihren geografischen Ausgangspunkt zurückkehrt. Ören, der in Berlin lebt und dort auch bleiben will, sieht bei der zweiten Gastarbeiter-generation kein Sprachproblem mehr, dafür aber tief greifende Identitätsschwierig-keiten.


STAATSZUGEHÖRIGKEIT - PER POSTKARTE


Hier liegt ein sozialer Sprengsatz, den das Bundeskriminalamt (BKA) schon vorsorglich untersuchen lässt, Ein geheim gehaltenes Forschungsinstitut einer deutschen Universität soll die "Entstehungsbedingungen erfragen und analysieren. Dabei interessiert vor allem die Frage, warum manche Gastarbeiter-Jugendliche "sich zu kriminellen Banden zusammenschließen. Denn solche "Gangs, so die Vermutung der BKA-Kriminologen, könnten der Ausgangspunkt für eine Mafia in der Bundes-republik sein.


Dass es zu solchen Entwicklungen kommt, möchte der einstige "Gastarbeiter-Beauf-tragte" Heinz Kühn durch eine Revision des Ausländergesetzes verhindern: Per Postkarte, so verlangt der SPD-Politiker, sollen in der Bundesrepublik geborene Ausländer ihre deutsche Staatsangehörigkeit abrufen können. Denn zur viel zitierten Integration gehöre zunächst einmal die rechtliche Gleichstellung mit deutschen Kindern und damit auch die Gewissheit, zu diesem Land zu gehören.


Wird also der Weg zu einem deutschen Ausweis wenigstens für die Kinder der Gast-arbeiter kürzer? Bisherige Erfahrungen stimmen wenig optimistisch. Und wie sagte noch Bert Brecht: "Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leicht-innigste Art. Ein Pass niemals."









































































































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