Donnerstag, 13. April 1978

Sowjetunion - Der Leidensweg des Generalmajors Pjotr Grigorenko (4)




stern
, Hamburg
13. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns


Dr. Jouri Novikov ist der führ
ende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er erlebte jahrelang, wie seine Kollegen im Auftrage des KGB Bürgerrechtler in Irrenhäuser verbannten. Besonders infam behandelten KGB-Psychiater den früheren Generalmajor Pjotr Grigorenko (*1908+1987).


Andere rissen sich darum, mir waren sie ein Gräuel: die Überlandfahrten in die Provinz. Aber diese Inspektions-reisen zur Kontrolle psychiatrischer Kliniken gehörten zu meinen Pflichten als Abteilungsleiter im "Serbskij"-Institut, der obersten Instanz für Gerichtspsychiatrie in der Sowjetunion. Meine Stippvisiten liefen fast immer nach demselben Schema ab. Begrüßung durch das örtliche Partei-Komitee am Bahnhof. Abendessen mit dem Anstaltsleiter im Hotel, meist floss der Wodka reichlich. Am nächsten Morgen Rundgang durch die Anstalt - altvertraute Bilder, immer dieselben Klagen: Zu viele Patienten, zu wenig Betten, fehlende Medika-mente. Für die Inspektion des "Kollegen aus Moskau", wie sie mich nannten, war nicht einmal der Flur geschrubbt, geschweige die Toilette gereinigt worden.
MISERE ANGEPRANGERT - OHNE BESSERUNG
Ich schrieb seitenlange Berichte, prangerte die Miss-stände an, machte konkrete Vorschläge für das Ge-sundheitsministerium. Professor Georgij Wassil-jewitsch Morosow, Direktor des "Serbskij"-Instituts, sprach mich einmal auf diese Berichte an: "Jouri, du kannst ruhig ein paar Seiten weglassen. Die Russen gewöhnen sich an alles. Die da draußen an ihren Notstand, die im Ministerium an die Beschwerden." Auch ich stumpft ab. Ich musste es als unumstößliche Tatsache hinnehmen: Je weiter die Klinik von Moskau entfernt war, desto katastrophaler war die medizinische Versorgen. Daran änderten auch die Fünf-Jahres-Pläne des Ministerrats nichts, die der Medizin Vorrang ein-räumten und die Bettenzahl in allen psychiatrischen Krankenhäusern in den letzten fünfzehn Jahren von 220.000 auf das Doppelte erhöhen sollten.
GELD VERSICKERTE
Das Geld aus Moskau versickerte auf dem Weg in die Provinz. Für die örtlichen Parteikomitees gab es immer etwas, was noch dringender war. Auf der Strecke blieben die Krankenhaus-Neubauten. So zum Beispiel in der Provinzstadt Karkaralinsk in Kasachstan, wo in einer feierlichen Zeremonie 1975 zwar der Grundstein gelegt wurde, wo aber bis heute noch nicht einmal die Außenmauern hochgezogen worden sind. Bei psychia-trischen Sonderkliniken allerdings gibt es keine Neubau-probleme. Diese Aufbewahrungsanstalten, von denen es zwölf in der Sowjetunion gibt, sind fast ausnahmslos in alten Gefängnissen untergebracht. Hinter Stacheldraht und dicken Mauern sitzen Patienten, die auch nach westlichen Maßstäben geisteskrank sind und die man nicht mehr frei herumlaufen lassen kann. Es werden in diesen Sonderkliniken aber auch politische Dissidenten als "Geisteskranke" interniert, obwohl sie geistig gesund sind.
FÜR PSYCHIATER ZUTRITT VERWEHRT
Die Psychiater des "Serbskij"-Instituts dürfen den Gerichten zwar die Einweisung von Patienten in die Sonderkliniken empfehlen, ihnen selbst ist der Zutritt zu den Anstalten jedoch verwehrt. Diese Psycho-Sonder-kliniken sind die geheimnisvollsten Krankenhäuser der Sowjetunion. Sie sind auch die einzigen, die nicht dem Gesundheitsministerium, sondern den mächtigen Bonzen vom Innenministerium unterstehen. Und die sind Spezialisten, wenn es darum geht, Leute aus dem Verkehr zu ziehen und von der Umwelt zu isolieren.
SCHAUPLATZ MINSK
Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum gerade mir die Gelegenheit gegeben wurde, die psychiatrische Sonderklinik in Minsk besuchen zu dürfen. Jedenfalls rief mich während einer Inspektionsreise durch Weißrussland eines Abends der Direktor der Minsker Sonderklinik an und lud mich für den nächsten Morgen ein. Es war im November 1973. Morgens gegen 10 Uhr holte mich ein schwarzer Moskwitsch vom Hotel ab, ein Chauffeur brachte mich in die Stadtmitte zum Unter-suchungsgefängnis, auf dessen Gelände sich die Sonder-klinik befindet. Der Lagerkomplex war unüberschaubar. Eine vier Meter hohe Backsteinmauer, zwischen zwei Wachtürmen ein Tor. Über der Einfahrt, für jeden unübersehbar, stand in riesigen Lettern der Glaubens-satz der Klinik geschrieben: "Obratno na swobodu s tschistoi sowestju" - Zurück in die Freiheit nur mit reinem Gewissen.
KALASCHNIKOWS, SCHÄFERHUNDE
Ausweiskontrolle am schweren Stahlschiebetor. Zwei Soldaten, Kalaschnikows auf dem Rücken. Scharfe Schäferhund, die an ihrer Laufleine zerrten. Wagen-durchsuchung, Leibesvisitation. Der Moskwitsch hielt auf einem lehmigen Vorhof. Am Haupteingang wartete schon ein Direktor, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Er war ein älterer Arzt, 60 Jahre etwa, mit einem rötlich-runden Gesicht. Er leitete die Sonder-klinik seit zwei Jahren - ohne vorher psychiatrische Erfahrung gesammelt zu haben. Er war Hautarzt, hatte sich frühzeitig um die Partei verdient gemacht und durfte sich hier am Ende seiner Laufbahn als Direktor noch seine Pension aufbessern.
KRANKENZIMMER - VERROTTETE LÖCHER
Auf dem ersten Flur, den wir passieren, hing ein gerahmter Spruch an der grauen Kalkwand: "Trud - uniwersalnoje sredstwon narodnogo wospitanija" - Arbeit ist ein universelles Mittel zur Erziehung des Volkes. - Das erste Krankenzimmer, das ich zu sehen kriegte, war ein ziemlich verrottetes Loch. In dem 16 Quadratmeter kleinen Raum waren acht Betten zusammengepfercht, je zwei übereinander. Aber nicht jeder Kranke hatte seine eigene Liege. Einige kauerten auf den Ritzen zwischen den Bettkanten. Die meisten lagen völlig phlegmatisch da, vollgepumpt mit Psycho-pharmaka, die Gesichter leer und ausdrucklos. Ein Jugendlicher, dessen bekleckerter Anstaltspyjama keine Knöpfe mehr hatte, machte sich gleich an den Wärter ran. "Ich hab' noch Tabak", flüsterte er. "Du kannst ihn haben, wenn du mich aufs Klo lässt." Der Wärter schlug wortlos die Tür zu.
AUFS KLO GEHEN ZU DÜRFEN ... ...
Vom Direktor erfuhr ich später, dass es in der psychia-trischen Sonderklinik Minsk ein Privileg ist, aufs Klo gehen zu dürfen. Denn nur zwei Mal am Tag, um 10 Uhr morgens und um 18 Uhr abends, sieht die Anstalts-ordnung einen "Gang zur Verrichtung der Notdurft" vor. Ziffer 3 dieser Verordnung stellt es ins eigene Ermessen der Wärter, weitere Toilettengänge zu gestatten. Diese Vergünstigung lassen sie sich honorieren: mit Tabak, Süßigkeiten, Obst - Mitbringsel von Angehörigen, die einmal im Monat die Patienten besuchen dürfen. Der Gang zur Toilette ist ein Stück Freiheit, nach der jeder Kranke sich sehnt. Dieser Ort - ein kreisrundes Loch, mit zwei Wasserhähnen in der Wand - ist die einzige private Zuflucht in der Klinik. Drei Minuten erlauben die Wärter, die selbst gedrehte Zigarette oder die gestopfte Pfeife zu rauchen. Sonst, und das wird strikt einge-halten, darf nirgends im Hospital gepafft werden.
AUFSTIEG - VOM "SEKI" ZUM WÄRTER
Nach dem Rundgang saß ich beim Chef im Zimmer und trank Tee. Dann erzählte er mir, wer die Wärter sind. Ihre Vergangenheit haben die meisten nicht auf den Sanitätsschulen, sondern als "Seki" (Kriminelle Häft-linge) gemeistert. Ihre Delikte waren Mord, Verge-waltigung, schwerer Raub. Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag der Verwaltung und des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen, vor allem politische und religiöse Häftlinge. Dafür wurden sie belohnt. In Psycho-Kliniken, wie hier in Minsk, ge-nießen sie als Krankenwärter im weißen Kittel nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg". Sie beuten die Kranken aus - auch sexuell.
SEXUELLE AUSBEUTUNG
Wer keinen Besuch bekommt und infolgedessen keine Zigaretten als Tauschobjekt anbieten kann, hat nur eine Chance, sich bei den Wärtern beliebt zu machen: Er muss sich prostituieren. Je nach Lust und Laune holen sich manche Krankenwärter vor allem jüngere Männer aus den Zimmern heraus und treiben es mit ihnen in ihren Diensträumen. Wie viele Menschen in der Sonder-klinik von Minsk schon in die Intensivstation gekommen sind, wollte der Direktor mir nicht sagen. Er gab jedoch zu, die Verpflegung sei so schlecht, dass die Wider-standskräfte der Patienten sich im Laufe der Zeit auf ein Minimum reduzierten. Die Hauptmahlzeit besteht meist aus einem Teller Kohlsuppe. Morgens und abends gibt es einen Löffel Hafergrütze, ab und zu eine kleine Kar-toffel mit Gemüse. Die einseitige und mangelhafte Ernährung erreicht niemals die vorgeschriebenen 1.300 Kalorien am Tag. Patienten, die sich beschweren wollen, bekommen weder Kugelschreiber noch Papier. Denn schon diese Dinge werden in den staatlichen Aufbe-wahrungsanstalten wie Minsk als Sicherheitsrisiko betrachtet.
DOPPELTES KONTROLL-SYSTEM
Das Innenministerium hat für Psycho-Sonderkliniken eine doppelte Hierarchie, ein doppelte Kontrollsystem aufgebaut. Da sind einmal der Chefarzt, die Abteilungs-leiter, die behandelnden Psychiater - alles vom Innen-ministerium ausgesuchte Mediziner. Und da sind auf der anderen Seite die Funktionäre des Innenmini-steriums in Uniform: der Oberverwalter der Klinik, gleichberechtigt mit dem Chef-arzt, der Hausverwalter, die Aufseher. Auf der untersten Stufe der Leiter steht der Wärter. Seine Vorgesetzten sind die Aufseher, die keiner-lei medizinische Kenntnisse haben. Auf diese Weise wird das Misstrauen geschürt, einer bespitzelt den anderen.
KEIN MUT - NUR MISSMUT
Als ich mich vom Direktor der Sonder-klinik in Minsk verabschiedet hatte, fragte ich mich, warum er mit trotz seines Missmutes so viel erzählte. Vielleicht, um meine Reaktion zu testen. Vielleicht hatten sie mich in Moskau schon für eine höhere Aufgabe in einer Sonder-klinik vorgesehen. Vielleicht sollte ich sogar Nachfolger des Direktors in Minsk werden. Albträume plagten mich in dieser Nacht. Ich hatte noch nicht einmal den Mut gehabt, den Direktor nach "politischen Fällen" zu fragen. Nach meinen Erfahrungswerten kann man annehmen, dass jeder zehnte Patient in einer Sonderklinik wegen "paranoider Reformideen", wegen "mangelnder Anpassungsfähigkeit an seine soziale Umgebung", wegen "Überschätzung seiner Person" eingewiesen wird. Für Minsk heißt das: etwa 30 politische Gefangene, für die Sowjet-union insgesamt 350. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge, wohl an die 10.000 sind in Arbeitslagern interniert.
TÄUSCHUNG WESTLICHER PSYCHIATER
Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass KP-Chef Leonid Breschnew (1964-1982) in der Außenpolitik für Entspannung sorgte und in der Innenpolitik die Re-pression verschärfte. Mein politischer Verstand wurde erst richtig geweckt, als ich 1973 selbst eine wichtige Rolle bei der bewussten Täuschung westlicher Psychiater und Journalisten spielen sollte. - Am 14. Oktober 1973 gegen zwei Uhr nachmittags rief mich mein Chef, Professor Morosow, zu sich ins Büro. Er war seltsam nervös. "Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ministerium bekommen. Morgen müssen wir deutsche Journalisten im "Serbskij"-Institut herumführen, und wenn die danach fragen, müssen wir ihnen sogar einige Krankenakten zeigen. Ich brauche dich als Übersetzer."
SINNESWANDEL
Ich fragte mich, was dieser Sinneswandel im Mini-sterium zu bedeuten habe. Schon einen Tag vorher waren der englische Psychiater Dr. Denis Leigh und sein schwedischer Kollege Dr. Carlo Perres in unserem Institut und hatten anschließend die psychiatrische Klinik in Troizkoje besichtigt. Das hatte es noch nicht gegeben, dass westliche Ärzte eine unserer Psycho-Kliniken be-suchen durften. Diese neue KGB-Politik konnte nur einen Grund haben: der zunehmenden westlichen Kritik an der russischen Psychiatrie offensiv entgegen zu wirken. Und nun auch noch westdeutsche Journalisten! Am nächsten Morgen lernte ich die stern-Journalisten Robert Lebeck und Klaus Lempke kennen. Sie waren schon bei Morosow im Zimmer, als ich dazukam. Die Atmosphäre war gelockert, es gab Kaffee, Konfekt und Kekse. Das Chefzimmer, sonst chaotisch-unordentlich, war aufgeräumt wie selten. Morosow spielte souverän seine Rolle.
WESTDEUTSCHE JOURNALISTEN
Ich übersetzte: "Kein Bürger der Sowjetunion darf verurteilt werden, wenn er geisteskrank ist ... Der Patient hat das Recht, einen Gutachter abzulehnen ... Berichte über Zwangseinweisungen angeblicher poli-tischer Dissidenten muss ich schlicht als Verleumdung bezeichnen ...". - Doch die westdeutschen Journalisten begnügten sich nicht mit solchen Glaubensbekennt-nisse. Sie wollten General Pjotr Grigorenko sehen, den das "Serbskij"-Institut mehrmals für unzurechnungs-fähig erklärt hatte. Auf diese Bitte, das merkte ich Morosow an, hatte er schon gewartet. Er war keinesfalls verblüfft und sagte: "Wir werden Sie anrufen." - Am nächsten Morgen ließ er die Journalisten wieder ins "Serbskij"-Institut kommen und begrüßte sie mit der Bemerkung: "Ich habe mir überlegt, wenn ich Ihre Zweifel ausräumen will, muss ich Ihnen Handfestes bieten." Mit diesen Worten überreichte er den beiden be-deutungsvoll eine Handvoll vergilbter Blätter: die Kran-kengeschichte des ehemaligen damals siebzigjährigen Generalmajors Pjotr Grigorenko.
EINE FÄLSCHUNG
Mit war klar: Das kann nur eine Fälschung sein. Denn nicht einmal ich als Oberarzt, geschweige denn andere Professoren des Instituts, hatten bis dahin eine Krank-heitsgeschichte aus der vierten Abteilung ge-sehen, in der Grigorenko untersucht worden war. Als der Foto-graf die Blätter ablichtete, und ich den Text übersetzte, bestätigte sich meine Vermutung: Grigorenkos Krankengeschichte mit all ihren Symptomen war teilweise wörtlich aus dem "Handbuch der Psychiatrie" abgeschrieben und mit persönlichen Lebensdaten des Generals vermengt. Die Erklärung seiner Wahnvorstellung kennt jeder Student aus-wendig. Über diese Manipulation konnten auch die vergilbten Formulare nicht hinwegtäuschen, die nicht einmal aus dem "Serbskij"-Institut stammten. Die stern-Reporter, die als erste westliche Journalisten in unserem Institut waren, hatten nicht den Hauch einer Chance, die KGB-Fälschung zu durchschauen. Zumindest ist ihnen eines geglückt: Am nächsten Tag konnten Robert Lebeck für einen Augenblick Grigorenko in seiner Zelle in der psychiatrischen Klinik in Troikoje sehen, die 62 Kilo-meter von Moskau entfernt ist.
AUS DER SOWJETUNION FLIEHEN
Ich habe selber Jahre gebraucht, ehe ich begriff, wie die sowjetische Psychiatrie zu politischen Zwecken miss-braucht wird. Der Besuch der westdeutschen Jour-nalisten war für mich ein Schlüsselerlebnis, aus dem ich die Konsequenzen zog: Seit Oktober 1973 stand mein Entschluss fest, bei der ersten Gelegenheit aus der Sowjetunion zu fliehen. Ich bemühte mich, so viel wie möglich über das Schicksal der Dissidenten zu erfahren, die in psychiatrischen Kliniken festgehalten wurden.
GESETZE GEBROCHEN, LÜGEN AUFGETISCHT
Am Schicksal des Generals Pjotr Grigorenko lässt sich am besten verdeutlichen, wie der KGB Gesetze bricht, wie Zeugen in Gerichtsverfahren zu Lügen gezwungen werden, und wie gesunde Menschen mit Hilfe von Medi-kamenten gequält werden. Meine Recherchen in der Sowjetunion und die Materialien, die ich im Westen vor-fand, ergeben zusammen ein lückenloses Bild. Hier der Fall des Pjotr Grigorenko:
KARRIERE DES PJOTR GRIGORENKO
General Grigorenko war ein Held der Sowjetunion. Mit 32 Jahren wurde der Sohn armer ukrainischer Bauern Offizier. Er kämpfte an der Westfront gegen die Deut-schen und wurde zwei Mal verwundet. Anschließend nahm er an dem Krieg gegen Japan teil. Grigorenko wurde zwei Mal verwundet, erhielt den Lenin-Orden, die zwei Orden des Roten Banners und den Roten Stern. 1959 avancierte er zum General. Gleichzeitig übernahm Grigorenko einen Lehrstuhl an der Frunse-Militär-akademie in Moskau. Er veröffentlichte 67 wissen-schaftliche Arbeiten.
TIEFER FALL
Grigorenkos Karriere endete abrupt, als er auf einer Parteikonferenz im September 1961 in Moskau den damaligen KP-Chef Chruschtschow scharf angriff. Er warf ihm vor, dass noch immer nicht, wie Chrusch-tschow es auf dem XX. Parteitag 1956 versprochen hatte, die stalinistischen Funktionäre ihrer Ämter ent-hoben worden waren, und er forderte außer-dem, die hohen Gehälter der Parteisekretäre zu reduzieren und Schluss zu machen mit den Repressalien gegen reform-freudige Kommunisten. Grigorenko, selbst ein über-zeugter Kommunist, glaubte, mit legalen Mitteln eine Demokratisierung der Partei und Gesellschaft erreichen zu können. Sein Auftreten auf der Partei-konferenz hatte schwerwiegende Folgen. Auf Betreiben Chruschtschows wurde der General aus dem Militär-dienst entlassen und verlor seinen Lehrstuhl.
WARUM GIBT'S NICHT GENÜGEND BROT ?
Vorerst blieb Pjotr Grigorenko noch ungebrochen. Im Herbst 1963 organisierte er einen Freundeskreis und gründete eine politische Arbeitsgemeinschaft mit dem Namen "Kampfbund für die Wiederherstellung des Leninismus". Auf dem Vorplatz des Kasaner Bahnhofs in Moskau verteilte er Flugblätter mit der provozierenden Frage: "Warum gibt es bei uns nicht genügend Brot?" Damit war Grigorenkos Weg in die psychiatrische Klinik vorgezeichnet. Am 1. Februar 1964 verhaftete der KGB Grigorenko und seine Freunde. Grundlage war Artikel 70 des sowjetischen Strafgesetzbuches: "Wer Agitation oder Propaganda betreibt, um den sowjetischen Staat zu schwächen oder zu unterwandern oder, in besonderem, gefährliche Verbrechen gegen diesen Staat zu begehen, wer zu demselben Zweck gefälschte Nachrichten in Umlauf bringt, anfertigt oder für sich behält, oder Schriften dieses Inhalts besitzt, soll mit einer Freiheits-strafe zwischen sechs Monaten und sieben Jahren belegt werden."
GRIGORENKO: GEISTESKRANK
Nur einige Wochen verbrachte Grigorenko im Moskauer Lubjanka-Gefängnis. Am 12. März 1964 verlegte ihn die Staatsanwaltschaft ins "Serbskij"-Institut, um ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Die Kommission unter Leistung des Klinikchefs Professor G.W. Morosow kam zu dem Ergebnis, der ehemalige General sei für seine Taten nicht verantwortlich und benötige eine Behandlung in einer psychiatrischen Sonderklinik. In dem "Serbskij"-Gutachten heißt es: "Grigorenkos psychologische Situation charak-terisieren seine reformistischen Ideen, insbesondere seine Vorstellungen von der Neu-Organi-sation des Staatsapparates. Diese Ideen sind verbunden mit einer Überschätzung seiner Person, die messianische Aus-maße angenommen hat. Er berichtete von seinen Erfahrungen mit ausgeprägten Emotionen und war unerschütterlich von seinen Handlungen überzeugt." Das Gericht hielt sich an Morosows Maxime: "Warum sollen wir uns mit politischen Prozessen plagen, wo wir doch psychiatrische Sonderkliniken haben!" Und schickte Grigorenko in die Leningrader Sonderklinik für Geisteskranke.
GRIGORENKO: DEGRADIERT
Um Grigorenko zum Schweigen zu bringen, brachen Richter, Staatsanwälte und die Partei das sowjetische Recht. Kein Rechtsanwalt durfte den Generalmajor vertei-digen, er selbst durfte am Prozess nicht teil-nehmen, und nicht einmal das Urteil durfte er lesen. Zwei Wochen nach seiner Klinik-Einweisung warf ihn das Zentral-komitee der KPdSU aus der Partei, stufte ihn rechtswidrig vom General zum ein-fachen Soldaten zurück und strich ihm rechtswidrig seine Pension. Nach dem Gesetz stehen einem Militärangehörigen, der geisteskrank wird, die vollen Pensionsbezüge seines letzten Dienstgrades zu. Im März 1965 musste sich Grigorenko noch einmal untersuchen lassen. Die Ärzte in Leningrad bestätigten die "Serbskij"-Diagnose, hielten aber eine stationäre Behandlung nicht mehr länger für nötig. Grigorenko kam unter der Auflage frei, sich in regelmäßigen Abständen in der psychiatrischen Klinik in Leningrad zu melden.
GEGEN EINMÄRSCHE DER SOWJETS
Grigorenko bewies bald, dass er alles anders als geistes-krank war. Unerschrocken wie eh und je engagierte er sich noch stärker und wurde einer der führenden Bürgerrechtler in der Sowjetunion. Am Grab des Schriftstellers Alexej Kosterin, der sich vor allem für die nationalen Minderheiten eingesetzt hatte, hielt Grigorenko eine leiden-schaftliche Rede für die "wahre leninistische Demokratie und für die Entlarvung des Totalitarismus, der sich hinter der Maske der soge-nannten Sowjet-Demokratie verbirgt". Mit Flug-blättern demonstrierte er gegen den Einmarsch der Sowjets in der CSSR. Als Grigorenko im Mai 1969 in Taschkent, wohin er von Moskau fuhr, vor Gericht für die unter-drückten Krimtataren starkmachen wollte, wurde er abermals verhaftet.
PERSÖNLICHE ÜBERZEUGUNGEN
Der KGB beauftragte Professor Fjodor Detengow, den Chefpsychiater der Usbe-kischen Republik, ein Gut-achten anzufertigen. Doch das fiel ganz anders aus, als es der Geheimdienst erwartet hatte: "Grigorenkos Handlungen basieren auf seinen persönlichen Über-zeugungen und haben keine krankhaften und hyste-rischen Züge. Seine intellektuellen Fähigkeiten sind ausgeprägt, er hat sich in seiner Umgebung als Führer und Erzieher etabliert. Es gibt keinen Zweifel an Grigorenkos geistiger Normalität. Eine Behandlung in einer Klinik hätte schwerwiegende negative Folgen für den Patienten und würde seinen körperlichen Gesund-heitszustand ver-schlechtern."
GESCHLAGEN, GEWÜRGT
Mit dieser positiven Diagnose wollte sich der KGB nicht abfinden. Wieder musste das "Serbksij"-Institut ran. Zwei Wochen nach der Taschkenter Begutachtung flog der KGB den U-Häftling nach Moskau zurück. Die Gutachter-Kommission unter Leitung von Morosow und des Chefs der politischen Abteilung vier, Lunz, ent-täuschten ihre Abtraggeber nicht. Sie formulierte, was von ihr erwartet wurde: "Die Reformideen Grigorenkos haben einen widerspenstigen Charakter angenommen und beherrschen sein Denken vollständig. Eine paranoide Entwicklung seiner Persönlichkeit hat stattgefunden. Deshalb kann sich die Kommission der Empfehlung des Taschkenter Gutachtens nicht an-schließen und rät dringend , den Patienten in eine psychia-trische Sonderklinik einzuweisen." - Zwischen dem Gutachten der Psychiater von Tschkent und dem der Psychiater des "Serbskij"-Instituts lagen nur vier Wochen.
DREI JAHRE SONDERKLINIK
Natürlich setzte sich das "Serbskij"-Institut mit seinem Gutachten durch. Pjotr Grigorenko wurde im Februar 1970 in Taschkent von einem Gericht für unzu-rechnungsfähig erklärt und in die psychiatrische Sonderklinik Tschernjachowsk eingeliefert. Über drei Jahre blieb er dort. Grigorenko musste sich die Zelle mit einem Mörder teilen. In seinem Tagebuch schildert der die Methoden seiner Wärter: "Sie zwingen mir Essen auf, sie schlagen mich, sie würgen mich. Sie drehen mir den Arm um, prügeln absichtlich auf mein verletztes Bein ... ... Dann stecken sie mich in eine Zwangsjacke. Ich wehre mich, so lange die Kräfte reichen. Sehr oft breche ich unter furchtbaren Herzschmerzen zu-sammen. Die Wärter versprachen, mich nicht weiter zu quälen, wenn ich meine Reformideen widerriefe. Ich sagte ihnen: Über-zeugungen sind nicht wie Hand-schuhe. Man kann sie nicht jeden Tag wechseln."
EIN GEBROCHENER MANN
Man braucht nicht im "Serbskij"-Institut gearbeitet zu haben, man braucht nicht einmal Psychiater zu sein, um zu ermessen, dass Grigorenko trotz aller Standhaftig-keit nach drei Jahren Sonderklinik ein gebrochener Mann war. Erst als der KGB glaubte, der Ex-General sei für die Sowjetunion keine Gefahr mehr, und als der internationale Druck für seine Freilassung immer stärker wurde, verlegte man Grigorenko in eine normale psychiatrische Klinik - nach Troizkoje. Dort durften ihn 1973 dann auch die ersten westlichen Psychiater, der Engländer Leigh und der Schwede Perres, besuchen. Grigorenko sagte ihnen, es ginge ihm jetzt besser. Die Ärzte konnten ihn jedoch nicht untersuchen, weil sie nur eine zehnminütige Ge-sprächserlaubnis hatten. Leigh und Perres weigerten sich deshalb, über Grigorenkos Gesundheitszustand ein Urteil abzugeben. Doch in Moskau wurde das Schweigen der westlichen Ärzte als Zustimmung gewertet. Die Nachrichtenagentur Tass schrieb: "Die Professoren bezeugen, dass der frühere General Grigorenko tatsächlich krank ist, und sie bestätigen damit die Diagnose ihrer sowjetischen Kollegen."
GESCHENK IN SACHEN MENSCHENRECHTE
Am 24. Juni 1974 wurde Pjotr Gigorenko überraschend entlassen. Das geschah zwei Tage vor dem Staatsbesuch des US-Präsidenten Richard Nixon (1969-1974); ge-wissermaßen ein Gastgeschenk in Sachen Menschen-rechte. Anfang Dezember 1977 - ich lebte bereits ein halbes Jahr in der Bundesrepulblik, las ich erstaunt in der Zeitung, dass Grigorenko eine auf sechs Monate befristete Ausreisegenehmigung in die USA erhalten hat. Mit seiner Frau Sinaida flog er nach New York, um seinen Stiefsohn zu besuchen und sich einer Prostata-Operation zu unterziehen. Wie ich inzwischen hörte, hat er sie gut überstanden.
EIN PÄCKCHEN HEIMAT-ERDE
Als Grigorenkos Freunde den General und seine Frau im Dezember auf dem Moskauer Flughafen verabschiedeten, haben sie ihm ein kleines Päckchen Heimaterde in die Hand gedrückt. Sie befürchteten, dass Pjotr Grigorenko sowjetischen Boden nicht wieder betreten darf.
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Nachtrag - Pjotr Grigorenko ist im Alter von 79 Jahren 1987 in seinem New Yorker Exil gestorben. Die sowjetische Staatsbürgerschaft ist dem früheren Generalmajor der Roten Armee und russischen Bürgerrechtler bereits im Jahre 1979 aberkannt worden. Die Urkaine - seine Heimat - hat er nicht mehr wieder gesehen.