Donnerstag, 20. April 1978

Sowjetunion - "Ich schäme mich, ein Psychiater zu sein" (Teil 5)



























stern, Hamburg
20. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Für viele mag es wie eine Übertreibung klingen: Wo immer ich als Gerichtspsychiater hinkam, wo immer ich Patienten begutachtete, der KGB war schon da und wartete auf mich. Selbst am Ende der Welt.

Die Provinzstadt Lesnoje liegt im Norden der Sowjet-union, fast zwei Tagesreisen mit dem Zug von Moskau entfernt. Im Dezember 1976 schickte mich das Mos-kauer "Serbskij-Institut" für Gerichtspsychiatrie in diese abgelegene Gegend. Ich hatte den Auftrag, die gerichts-psychiatrische Versorgung in diesem Landstrich zu überprüfen.

SCHAFTSTIEFEL, STERNE, TELLERMÜTZE

Schon am ersten Abend in Lesnoje bekam ich uner-warteten Besuch im Hotel. Gegen 22 Uhr - ich hatte mich gerade ins Bett gelegt - klopfte es an meine Tür. Vor mir stand ein etwa 45jähriger Mann. er grüßte knapp und ging mit einer Selbstverständlichkeit in mein Zimmer, als seien wir verabredet. Ich hatte ihn nie gesehen. Aber mir war klar, warum er sich nicht auszuweisen brauchte: Schaftstiefel, weite graue Hose, drei Sterne am Revers, Tellermütze mit breitem blauen Band - er trug die Uniform eines KGB-Offiziers.

In der Mitte meines Hotelzimmers blieb er stehen, drehte sich abrupt zu mir um und sagte ohne Um-schweife: "Genosse Novikov, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Sie kommen vom "Serbskij-Institut", und Sie können uns helfen, ein Problem zu lösen."

"PARANOIDE REFORM-IDEEN"

Ich erwiderte nichts und wartete ab. Der KGB-Offizier holte ein versilbertes Etui aus seiner Jackentasche, bot mir eine Zigarette an, nahm sich auch eine, zog den Rauch tief ein und kam dann zur Sache: "Unser Problem heißt Woronin. Der Mann wurde vor zwei Monaten wegen seiner paranoiden Reformideen in die psychiatrische Klinik von Lesnoje eingewiesen. Vom ersten Tag an hat er sich über alles beschwert und Patienten aufgehetzt. Sogar an das Zentralkomitee in Moskau hat er schon geschrieben. So einen gefähr-lichen Irren können wir hier nicht gebrauchen. Der darf nicht in einer normalen psychiatrischen Anstalt bleiben. Der muss in eine Sonderklinik eingewiesen werden. Dafür brauchen wir Ihr Gutachten."

Der KGB-Mann sah mich prüfend an. Ich schwieg. Eine Spur ungeduldiger fügte er hinzu: "Sie verstehen doch, was ich meine?" Ich nickte. Denn ich wusste, ich hatte keine andere Wahl. Der Rest war Routine. Der KGB-Offizier gab mir die Zimmer-nummer Woronins und nannte mir die Uhrzeit für die Exploration: Raum 308, Abteilung G, morgen zwölf Uhr.

KEIN KRANKER - EIN POLITISCHER FALL

Soviel ich auch überlegtem ich sah keine Möglichkeit, aus diesem Dilemma heraus-zukommen. Ich musste Igor Nikolaj Woronin untersuchen. Schon nach den ersten Minuten der Exploration war mir klar, dass dieser Mann kein Kranker war, sondern ein politischer Fall.

Der 36jährige Facharbeiter gehöre einer kleinen Bürgerrechtsbewegung an und hatte mit seinen Freunden Flugblätter gegen die "neue Ausbeuterklasse in der Sowjetunion" verteilt. Nach Artikel 190/1, der die "systematische Verbreitung antisowjetischer Hetzschriften" unter Androhung von Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verbietet, war er verhaftet worden. In der Gerichtsverhandlung gegen ihn verlangten die Richter dann ein psychiatrisches Gutachten und schickten ihn wegen des Verdachts auf Schizophrenie in die psychiatrische Klinik.

Ich konnte Woronin nicht gesundschreiben, weil ich wusste, was der KGB von mir erwartete. Ich sah nur eine Chance, mich persönlich aus der Sache heraus-zuhalten. Ich erklärte, der Fall sei medizinisch so schwerwiegend, dass der Patient auf jeden Fall im "Serbskij-Institut" in Moskau stationär behandelt werden müsse. Als ich von der Dienstreise heimgekehrt war, fertigte ich im Institut ein Zwischengutachten über Woronin an und überließ den Rest der Bürokratie. Ich sah Woronin nicht mehr wieder.

AUSREDEN ÜBER AUSREDEN ... ...

Ganz wohl war mir bei dieser Sache nicht zumute, und ich mache mir auch keine Illusionen darüber, was mit dem politischen Gefangenen Woronin geschehen sein wird. Einer meiner Kollegen vom "Serbskij-Institut" wird ihn nachexploriert haben, zum selben Ergebnis gekommen sein wie ich - und dann dennoch dem KGB die Einlieferung des Mannes in eine psychiatrische Sonderklinik ermöglicht haben. Ich hatte Woronin nicht geholfen, sondern die Verantwortung nur weiter-geschoben.

Die Entscheidung von Lesnoje war nicht mein erster Gewissenskonflikt, Ausreden waren bald aus meinem Berufsleben nicht mehr wegzudenken. Oft schämte ich mich, ein Arzt zu sein. Denn meine Ohnmacht, auf den Inspektionsreisen selbst die banalsten Unzuläng-lichkeiten zu beheben, wurde mir von Tag zu Tag bewusster. Fast alle Krankenhäuser waren total überbelegt, Medikamente fehlten überall, frisches Gemüse oder Fleisch waren oft über Monate nicht zu bekommen. Als mich in Lesnoje bei einem Inspektions-gang ein Kranker um Medizin anbettelte, weil er offensichtlich wusste, dass ich aus Moskau kam, wimmelte ich ihn mit einer Lüge ab: "Ich kann nichts für Sie tun. Ich bin von der Baukommission."

ENDE DER LOHNSKALA

Manchmal wünschte ich mir tatsächlich, ein einfacher Arbeiter in einer Brigade Mörtel zu mischen. Denn die Genossen Arbeiter können sich im Sowjetsystem weit-gehend aus der Politik heraushalten, und außerdem werden sie wirtschaftlich enorm bevorzugt. Für die westliche Welt ist es kaum vorstellbar, dass der Arzt in der UdSSR am untersten Ende der Lohnskala rangiert. Das durchschnittliche Monatsein-kommen eines Mediziners beträgt 104,50 Rubel (313,50 Mark). Ein Bauarbeiter verdient dagegen 185 Rubel (555 Mark) und ein Seemann 226 Rubel (678 Mark).

ÄRZTE VERHÖHNT

Gesellschaftliches Ansehen hängt auch in der Sowjet-union vom Geld ab; dementsprechend niedrig ist das soziale Prestige des Mediziners. Ich habe es oft erlebt, wie Facharbeiter, die zu einer obligatorischen Routine-Untersuchung geschickt wurden, ihre Ärzte verhöhnten. Mit Händen in den Hosentaschen standen sie vorm Doktor. "Wratschischka (Doktörchen), was willst du denn von mir? Mach schnell, ich habe nicht viel Zeit."

Aus vielen Gesprächen mit Kollegen weiß ich, dass eine große Zahl von Ärzten über ihren gesellschaftlichen Satus verbittert ist. Viele kommen auch mit ihrem Geld nicht aus, Die gekränkte Eitelkeit der Ärzte und ihre finanziellen Probleme sind die Hauptgründe dafür, dass es dem Innenministerium - und dem KGB - leicht gelingt Psychiater für ihre Zwecke in den Sonderkliniken einzuspannen. In diesen zwölf Aufbewahrungsanstalten für psychisch Kranke werden hoffnungslose Fälle abgeschoben - auch die politischen.

"SONDER-PSYCHIATER"

Wer sich bereit erklärt, in diesen Kliniken, die dem Innenministerium unterstehen, zu arbeiten, verdient ein Drittel mehr als die anderen Kollegen, hat 60 Tage Urlaub im Jahr und darf kostenlos alle sowjetischen Verkehrsmittel benutzen. Außerdem müssen die "Sonder-Psychiater" längst nicht so viel arbeiten wie die "normalen" Psychiater. Ihre Patienten sollen ja nicht mehr behandelt, sondern nur noch "ruhig-gestellt" werden.

Der Preis für diese privilegierte Psychiater-Klasse: Die Ärzte in den Sonderkliniken müssen die Uniform des Innenministeriums tragen, und sie haben überhaupt keinen Entscheidungsspielraum mehr. Was im Innenministerium und im Hauptquartier des KGB beschlossen wird, muss von ihnen sofort vollstreckt werden, Mit diesem Zwei-Klassen-System wird jegliche Solidarität unter den Ärzten verhindert. Diskussionen über die Reformen werden im Keim erstickt.

EID GEBROCHEN

Obwohl mir in den letzten Jahren immer klarer wurde, dass auch ich als Arzt im "Serbskij-Institut" von Politikern missbraucht wurde, kam für mich eine Anstellung in einer Sonderklinik nicht in Frage. Diese Ärzte brechen meiner Meinung nach ihren Eid als Mediziner. Sie verraten ihren Beruf.

Ich habe mich oft gefragt, ob das nicht jeder Psychiater tut. Denn eines zeigt die Geschichte der Psychiatrie: Dieser Zweig der Medizin ließ sich immer besonders gut für die Zwecke der Machthaber einspannen. Und das gilt nicht nur für die Sowjetunion und nicht nur für Diktaturen, Bis vor wenigen Jahren wurden in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik Homosexuelle für krank erklärt und psychiatrisch behandelt. Die Theorie, dass Homosexualität eine Krankheit sei, wurde von Kirche und Gesellschaft auch im Westen zur Unterdrückung jener Menschen eingesetzt, deren Sexualität der gesellschaftlichen Norm nicht entspricht. In der UdSSR, wo die Strafbarkeit der Homosexualität nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurde, griff die Partei 1934 auf die bürgerlichen Vorurteile von Moral und Sitte zurück - mit den strafrechtlichen Konsequenzen.

GRUNDWIDERSPRÜCHE

Überall in der Welt steht der Psychiater in einer außergewöhnlichen Konfliktsituation: Einerseits will er dem Patienten, der sich ihm anvertraut hat, helfen, andererseits wird er von einer Institution bezahlt, die bestimmte Ergebnisse erwartet - beispielsweise von einer Gesundheitsbehörde, einer Gefängnisverwaltung oder einer Armee. So muss ein Militärpsychiater die Kampfkraft der Truppe im Auge behalten und dabei jene Soldaten aussortierten, die den militärischen Anforderungen nicht genügen. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie dabei banale Disziplinarvergehen zu "seelischen Störungen" uminterpretiert werden können.

KAUM CHANCEN FÜR PATIENTEN

Dieser Grundwiderspruch hat in der Sowjetunion eine besondere Variante: Die Psychiatrie wird zum System der politischen Unterdrückung - zur Strafmedizin. Viele Ärzte machen es sich einfach. Weil sie wissen, welche Ergebnisse die Partei bei "politischen Fällen" von ihnen erwartet, machen sie die psychiatrische Untersuchung zum Verhör. Bei ihren Fangfragen hat der Patient keine Chance.

So schildert der Biologe Jewgenij Nikolajew in seinem heimlich angefertigten Gedächtnisprotokoll, wie er von meinem Kollegen Dr. Wladimir Dmitriewskij in der psychiatrischen Abteilung des Moskauer Kaschtschenko-Krankenhauses "behandelt" wurde. Auszüge aus der Vernehmung:

DIE VERNEHMUNG

Dmitriewskij: "Ich interessiere mich für Ihre Ansichten. Die Klinik, die Sie hier herschickte, hat mich von Ihren merkwürdigen Auffassungen über unsere Gesell-schaft informiert."

Nikolajew: "Was immer ich für Ansichten haben mag - das kann doch kein Grund für eine psychiatrische Untersuchung sein."

Dmitriewskij: "Wenn das so wäre, wären Síe nicht hier."

Nikolajew: "Sagen Sie mir doch einmal, wer mich überhaupt angezeigt hat. Sagen Sie mir, wem mein Verhalten unangenehm aufgefallen ist."

Dmitriewskij: "Es hat keine Klagen über Ihr Benehmen gegeben. Nicht Ihr Verhalten ist sozial gefährlich, es sind Ihre Ansichten."

Nikolajew: "Das kann ich nicht glauben. Was immer ich über diese Gesellschaft denke, sie wird sich nicht ändern. Wenn ich sie verdamme, wird sie nicht schlechter. Wenn ich sie lobe, wird sie nicht besser. Deshalb können meine Ansichten für diesen Staat gar nicht gefährlich sein."

Dmitriewskij: "Und das ziehen Sie vor - die Gesellschaft zu loben oder sie zu verdammen?"

Nikolajew: "Ich möchte gern bei meinem Prinzip bleiben, dass mich das nichts angeht."

Dmitriewskij: "Diese Haltung gegenüber der Gesellschaft stellt eine soziale Gefahr dar. Sie waren doch schon drei Mal über längere Zeit in psychiatrischen Anstalten. Sie sollten unsere Staatsmaschinerie kennen. Wir alle sind bestimmten Organen unterstellt. Und wenn wir eine Direktive erhalten, so sind wir verpflichtet, sie zu befolgen. Alexander Solschenizyn (Der Archipel Gulag, 1974) wurde wegen seiner politischen Auffassungen ausgewiesen. Doch Sie sind nicht so bekannt wie er. Sie wird man in eine psychiatrische Klinik sperren."

PERSONEN AUSTAUSCHBAR - METHODE BLEIBT

So geschah es. Nikolajew, dessen Gedächtnisprotokoll Freunde 1974 in den Westen schmuggelten, wurde in eine Sonderklinik eingeliefert. Keiner weiß, ob er noch lebt.

Die Personen sind austauschbar, die Methode bleibt dieselbe - auch wenn es um die Verfolgung von Christen geht. Der Fall des Gennadij Schimanow ist für mich ein Paradebeispiel, Der Moskauer Lehrer wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, weil er seine Nachbarn von der Existenz Jesus überzeugen wollte und deshalb von einem Spitzel beim KGB angeschwärzt worden war.

Der Psychiater Dr. Schafran redete Schimanow bei der Exploration ins Gewissen: "Ein Mensch, der sich so fanatisch für seine Religion einsetzt wie Sie, muss krank sein. Vielleicht bleiben Sie dabei sogar innerhalb des gesetzlichen Rahmens, aber faktisch schaden Sie dem Staat, indem Sie verlorene Schafe in den Schoss der Kirche zurückführen wollen."

MÄRTYRER-KRONE

Als Schimanow sich auf die sowjetische Verfassung berief, die jedem Bürger aus-drücklich Religionsfreiheit zusichert, wurde der Psychiater noch deutlicher: "Begreifen Sie denn nicht, dass sich der KGB den Teufel um die Gesetze schert? Sie werden vernichtet, unweigerlich. Sie sind nicht der einzige, aber das wird Ihnen nur ein geringer Trost sein. Es betrübt mich mitanzusehen, wie Sie sich eine Märtyrer-Krone flechten."

Schimanow kam glimpflich davon. Sein Fall wurde in allen Einzelheiten im Ausland bekannt, und nach einem dreiwöchigen Hungerstreik setzte man ihn auf Grund internationaler Proteste wieder auf freien Fuß.

PRAKTIKEN NORMAL UND ALLTÄGLICH

Wie sehr sich im Westen die Öffentlichkeit über solche Praktiken der sowjetischen Psychiatrie auch erregen mag, für den, der in der UdSSR aufgewachsen ist, erscheint dies alles normal, geradezu alltäglich. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Zweifel an der Staatsideologie ist in den Sowjetrepubliken so etwas Undenkbares, dass viele Bürger in der Tat glauben, einer müsse geistesgestört sein, der auf dem Roten Platz in Moskau Flugblätter verteilt oder in Leningrad für die Bürgerrechte demonstriert.

Zu tief sitzt obrigkeitsstaatliches Denken im Sowjetbürger. Es ist nicht nur die Angst vor dem Zugriff des KGB, der die Russen hindert, sich aufzulehnen, sondern viel häufiger ein durch ein durch Erziehung und durch Erfahrungen im Beruf geprägten Fatalismus, ja doch nichts ändern zu können.

Und dennoch gibt es immer Menschen, die sich über all diese "Vernunftsgründe" hinwegsetzen. Auch unter den sowjetischen Psychiatern sind einige couragierte Kollegen, die sich ohne Rücksicht auf ihre Person auflehnten und für ihre Über-zeugung hohe Gefängnisstrafen in Kauf nahmen. Einer von ihnen ist der Kiewer Psychiater Dr. Semjon Glusman, 32,

VERBANNUNG NACH SIBIRIEN

Seit über fünf Jahren sitzt Glusman im Straflager Nr. 35 nahe der Stadt Perm in den Bergen des Ural. Vor ihm liegen noch fast zwei Jahre Arbeitslager und weitere drei Jahre sibirische Verbannung. Ob er diese Jahre überstehen wird, ist mehr als zweifel-haft. Von Hungerstreiks geschwächt und von verschärften Haftbedingungen zer-mürbt, erlitt Glusman schon mehrere Herzattacken.

Dabei hatte Glusman eine außergewöhnliche Karriere als Psychiater vor sich. Mit 23 Jahren promovierte der Sohn eines jüdischen Medizin-Professors in Kiew. Auf den begabten Jungpsychiater wurde die Partei bald aufmerksam. Sie bot ihm eine Ver-trauensstellung als leitender Arzt in der Sonderklinik von Dnjepropetrowsk an. Doch Glusman lehnte ab. Er hatte gehört, dass gerade in dieser Klinik viele politische Fälle als "Geisteskranke" festgehalten werden. Die Partei reagierte repressiv: Glusman fand in der Ukraine keine Stellung als Psychiater mehr und jobbte schließlich als Notarzt in einer Unfallklinik in Kiew.

SOLSCHENYZINS "KREBSTATION"

Im März 1972 durchsuchten KGB-Beamte sein Haus und stellten oppositionelle Schriften sicher, darunter ein vervielfältigtes Rohmanuskript von Solschenyzins "Krebsstation". Zwei Monate später wurde Glusman verhaftet. In einem Prozess, zu dem die Öffentlichkeit nicht zugelassen war, verurteilte ihn ein Gericht in Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager und weiteren drei Jahren Verbannung - ein selbst für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich hartes Urteil.

Der wahre Grund für die hohe Strafe war die Rache des KGB an dem Psychiater. Denn Glusman hatte es nicht nur gewagt, eine von der Partei angebotene Stelle abzulehnen, er hatte es sogar gewagt, ein dem KGB höchst wichtiges Gutachten des "Serbskij-Instituts" zu widerlegen. Semjon Glusman und zwei Psychiater, deren Namen er nie verriet, analysierten die widersprüchlichen Expertisen über den Geisteszustand des Sowjet-Generals und Dissidenten Pjotr Grigorenko.

PROTEST GEGEN DAS SYSTEM

Ärzte in Taschkent hatten Grigorenko für gesund erklärt, der "Serbskij"-Psychiater von der 4. Abteilung hingegen beharrten darauf, dass der Bürgerrechtler geistes-krank sei (siehe stern Nr. 1/1978). Glusman schrieb in seiner Kollegen-Kritik, die er im Untergrund verteilen ließ: "Wir betrachten unser Papier nicht nur als einen Ver-such, die Wahrheit im Fall Grigorenko wiederherzustellen, sondern auch als professionellen Protest gegen das System. Psychiatrie ist ein Zweig der Medizin und nicht ein Zweig des Strafgesetzes. Die Praxis, politische Dissidenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verurteilen und sie in psychiatrische Kliniken zu stecken, darf nicht fortgesetzt werden. Die Ärzte, die wissentlich so unmenschlich handeln, sollten nach den Normen des internationalen und des sowjetischen Gesetzes verfolgt und bestraft werden."

DAS "PSYCHIATRISCHE HANDBUCH"

Im Arbeitslager von Perm traf Semjon Glusman auf den Regimekritiker Wladimir Bukowski, der inzwischen in den Westen abgeschoben worden ist. Mich hat zutiefst beeindruckt, was Bukowski zusammen mit Glusman im Lager zustande brachte. Nachts, wenn die Wärter ihren letzten Rundgang beendet hatten, schrieben sie im Schein einer Gaslaterne auf Zeitungsschnipseln einen der seltsamsten Führer der Weltgeschichte: das "Psychiatrische Handbuch für den Dissidenten". In dieser Schrift, die bald darauf in den Westen gelangte, gaben Glusman und Bukowski Verhaltenstipps an all diejenigen, die in die gleiche Lage kommen wie sie selbst - die vor Psychiaterkommissionen Rede und Antwort stehen müssen.

EINKREISEN, EINSCHÜCHTERN

These 1: "Denken Sie daran, der Psychiater wird versuchen Sie einzukreisen, Sie einzuschüchtern, Aussagen von Ihnen zu erpressen und bei der Zusammenstellung Ihres Dossiers die Untersuchungs-vorschriften gegen Sie auszuspielen. Besonders gefährlich ist dabei der Psychiater vom kleinbürgerlichen Typ. Seine Anpassungs-fähigkeit ist extrem ausgeprägt. Wenn Sie über surrealistische Kunst sprechen, wird er Sie fragen: 'Können Pferde denn wirklich fliegen?' Bei der modernen Poesie wird er die Reime vermissen. Wir raten Ihnen, mit einem solchen Psychiater nicht über abstrakte Dinge wie Philosophie zu diskutieren. Versuchen Sie, sich seinem Niveau anzupassen. Bedenken Sie: Er hält Sie wirklich für geistesgestört, denn sein wichtigstes Argument ist: 'Sie hatten doch eine Wohnung, eine Familie, einen Beruf. Warum zum Teufel haben Sie das getan?' "

These 2: "Denken Sie daran, Sie sind niemals in der Lage, der Kommission zu beweisen, dass Sie Opfer von Tricks und Provokationen geworden sind. Wenn Sie darauf bestehen, werden die Psychiater ihrer Diagnose noch hinzufügen: 'Leidet an Verfolgungswahn!' Versuchen Sie nicht, entsprechend Ihrer persönlichen Erfahrung zu argumentieren, sondern berufen Sie sich auf anerkannte Autoritäten und literarische Quellen. So vermeiden Sie, dass in Ihrem Gutachten der Begriff 'Über-schätzung der eigenen Ideen' auftaucht."

These 3: "Denken Sie daran, alles in Ihrem Leben war normal. Die Schwangerschaft Ihrer Mutter und Ihre Geburt sind planmäßig verlaufen. Sie haben rechtzeitig gelernt, sich aufzusetzen, zu gehen und Mama zu sagen. Sie haben niemals gern allein gespielt, waren nie Schlafwandler und sind so gern oder ungern zur Schule gegangen wie jeder andere. Sie haben sich für das andere Geschlecht in der Pubertät zu interessieren begonnen, und Ihre Sexualität hat auch später nicht den Rahmen des Anständigen gesprengt. Je normaler Ihr Leben und Ihre Herkunft erscheinen, desto schwieriger wird es Ihrem Psychiater fallen, Ihnen anormales Verhalten und frühzeitige Anzeichen von Geisteskrankheit zu unterstellen."

These 4: "Denken Sie daran, Sie müssen die wahren Motive für Ihr oppositionelles Verhalten verschweigen. Am besten ist, Sie sagen: 'Ich wollte einfach berühmt werden.' - 'Ich habe nicht an so schwerwiegende Folgen gedacht.' - 'Ich habe nicht mitgekriegt, dass ich zu weit gegangen bin.' Diese Argumentation mag Ihnen unwürdig vorkommen, und sie ist sicher unerfreulich. Tatsache ist: Sie wird Sie bei Ihrem Psychiater ins beste Licht rücken."

Ich habe noch nirgendwo eine so präzise und zutreffende Darstellung über die Denk- und Verhaltensweise der im Auftrage des KGB arbeitenden Psychiater gelesen wie in diesem "Handbuch". So nützlich diese Ratschläge auch sind. Bukowski und Grigorenko dämpften übertriebene Erwartungen: "Von dem Gewissen der Ärzte ist leider wenig zu erhoffen."













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