Donnerstag, 27. April 1978

Sowjetunion - Staatspräsident in Prag ist geisteskrank (Teil 6)






















Mitte der siebziger Jahre war Ludvik Svoboda (*1895+1979) Staatspräsident der CSSR. Für viele seiner Landsleute war Svoboda eine Vaterfigur, der letzte Repräsentant des Prager Frühlings aus dem Jahre 1968. Den Sowjets war er deshalb seit langem ein Dorn im Auge. Im Auftrag des Geheimdienstes KGB reiste der Moskauer Chefpsychiater Georgij Morosow nach Prag, um dort Ludvik Svoboda auf seinen "Geisteszustand" zu untersuchen. Aufgrund dieses "Gutachtens" wurde Svoboda drei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit im Jahre 1975 zum Rücktritt gezwungen.

stern, Hamburg
27. April 1978

aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Die Patienten fürchteten ihn, die jungen Ärzte erschreckte er mit seiner herrischen Art, und selbst die altgedienten Professoren wagten kaum, in seiner Gegenwart ihre Meinung zu sagen: Georgij Wassil-jewitsch Morosow, 57, Direktor des "Serbskij-Instituts", ist ein machtsüchtiger Mensch. Seit 1957 leitet er diese höchste gerichts-psychiatrische Instanz in der Sowjet-union ganz im Sinne des Geheimdienstes KGB.

Professor Morosow hat keine Freunde im "Serbskij", die meisten Kollegen haben sein Chefzimmer nie betreten. Weshalb Morosow ausgerechnet mich des öfteren ins Vertrauen zog, ist mir nie ganz klar geworden. Er machte mich 1975 zu seinem jüngsten Abteilungsleiter und sorgte dafür, dass ich zum Sekretär des mächtigen sowjetischen Psychiaterverbandes avancierte.

An einem Januarmorgen 1977 ließ er mich zu sich rufen. Wie immer tat Morosow auch diesmal ganz geheimnis-voll: "Wir stehen vor einem der wichtigsten Kongresse der nächsten Jahre. Du musst mir helfen. Wir müssen den Kollegen in unseren sozialistischen Bruder-ländern erklären, wie sie sich gegenüber dem Westen zu ver-halten haben. Bereite alles vor, morgen fahren wir nach Berlin."

MISSBRAUCH DER PSYCHIATRIE

Ich wusste sofort, wovon Morosow sprach. Westliche Ärzte und die Presse in den USA, England sowie in der Bundesrepublik hatten unsere psychiatrischen Methoden heftig angegriffen. Besonders beunruhigt war Morosow, als in England ein Buch über die sowjetische Psycho-Politik von Sidney Bloch und Peter Reddaway angekündigt wurde. ("Dissidenten oder geisteskrank? Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion". Piper-Verlag, München 1978).

Mein Chef befürchtete nicht zu Unrecht, dass die Sowjetunion auf dem Weltkongress für Psychiatrie im September 1977 in Honolulu wegen "Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke" verurteilt werden würde.

Außerdem schien uns nicht einmal
sicher, ob wir uns in Honolulu auf die anderen Ostblock-Delegationen hundertprozentig verlassen könnten. Deshalb wollte Morosow, bevor es im Herbst in Honolulu losging, die Ostberliner Konferenz der führenden Ostblock-Psychiater dazu benutzen, seine Kollegen auf eine gemeinsame Linie festzulegen. Zwar stand die Tagung offiziell unter dem Generalthema "Vorbeugungsmaßnahmen gegen Alkoholismus und Drogenabhängigkeit". Doch intern war sie eine Generalprobe für Honolulu.

RICHTMIKROFONE UND WANZEN

Meine Aufgabe war es, tagsüber im Tagungshotel "Newa" und abends im Hotel "Stadt Berlin" am Alexanderplatz die Meinungen und Standpunkte der Konferenzteilnehmer unauffällig zu erkunden. Jeden Abend, so gegen 21. 30 Uhr, musste ich Morosow Bericht erstatten. Mein Chef bestand darauf, dass ich zum Rapport nie in seinem Zimmer oder in einem anderen Raum des Ostberliner Diplomaten-Hotels erschien. "Hier sind überall Wanzen und Richtmikrofone installiert", sagte Morosow. "Unsere Genossen aus der DDR sind so perfekt, die hören jeden ab."

Also trafen wir uns abends nach den Sitzungen vor dem Hotel, schlenderten durch die Ostberliner Innenstadt und diskutierten die Neuigkeiten. Die Situation war alles andere als erfreulich. Die rumänischen Delegierten waren gar nicht erst nach Ostberlin gekommen, obwohl sie ihre Teilnahme zugesagt haben. Und die Kollegen aus Polen und Ungarn machten in Gesprächen unter vier Augen keinen Hehl aus ihrer Kritik an unserem System der Zwangseinweisung in die psychiatrischen
Kliniken.

DER CHEFPSYCHIATER

Professor Morosow war außer sich. "Das wird persönliche Konsequenzen haben", sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wisse er schon ganz genau, wie die sozialistischen Bruderstaaten auf Vordermann zu bringen seien. Und in der Tat hatte Morosow die Mittel dazu, denn als "Serbskij"-Chef ist er einfluss-reicher als mancher ranghohe Politiker und Diplomat der UdSSR. Der Versuch in Ostberlin, untergeordnete Kollegen zu beeinflussen, gehörte zu den Ausnahmen. Gewöhnlich schwebt er nur in höheren Regionen. Eine Einladung, in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin einen Vortrag zu halten, ließ er einfach unbeant-wortet. "Für wen halten die mich eigentlich? Wenn ich über Psychiatrie berichte, fange ich unter dem Zentralkomitee gar nicht erst an."

Professor Morosow hat exzellente Verbindungen zu den mächtigsten Männern der Sowjetunion. Beim KGB-Chef Jurij Andropow geht er ein und aus. So wusste er schon Monate im voraus, dass sein Freund Konstantin Rusa-kow Sekretär des Zen-tralkomitees der KPdSU werden würde. Auch hat Morosow ganz offenkundig das unein-geschränkte Vertrauen des Politbüros besessen. Denn er wird immer wieder für Auslandsaufträge mit der höchsten Geheimhaltungs-stufe herangezogen. In Ostberlin erzählte er mir, als wir wieder einmal abends unsere Runde machten, von einem besonders brisanten Auftrag.

"PROBLEMFALL" SVOBODA

Ende 1974 war Morosow auf Befehl des Politbüros nach Prag gefahren. Er sollte den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvik Svoboda auf seinen Geisteszustand untersuchen. Svoboda, mit den höchsten sowjetischen Orden ausgezeichnet, war für die Prager Parteiführung und damit für Moskau zu einem Problemfall geworden. Der 79jährige Staatspräsident galt bei vielen Tschechen und Slowaken nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 in Prag als die letzte verbliebene Symbol-figur ihrer nationalen Souveränität und damit des Prager Frühlings.

Keine Frage, Morosows Gutachten fiel so aus, wie es die sowjetische Parteiführung erwartet hatte: "Stark fortschreitende Arteriosklerose mit Demenz-Erscheinungen"
(Demenz = ausgeprägter Abbau von Intelligenz bei Greisen). Auf Grund dieses Gutachtens wurde Ludvik Svoboda gezwungen zurückzutreten, obwohl seine Amtszeit erst im Jahre 1978 abgelaufen wäre. Ich war betroffen, mit welchem Zynismus Morosow mir diese Geschichte erzählte.

KRIEG GEWONNEN

Wenige Minuten später, so als sei nichts gewesen, plauderte mein Chef schon wieder wie ein Tourist über das ostdeutsche Wirtschaftswunder. Er war beeindruckt, wie viele Waren in den Schaufenstern auslagen. Zwei Mal zog ich mit ihm los, um zwanzig Zimmermannstifte für seinen Werkzeugkasten und fünf bunte Emaillen-töpfe einzukaufen. "So gut und billig bekomme ich diese Sachen in Moskau nicht, deshalb nehme ich gleich Vorrat mit", sagte er. Und etwas nachdenklich fügte er hinzu: "Den Krieg haben wir gewonnen, doch der Lebensstandard der Verlierer ist heute schon wieder viel höhe als bei uns. Na ja, wir Russen gewöhnen uns ja an alles."

Auf unseren Spaziergängen durch Ostberlin fiel mir auf, wie interessiert Morosow Westautos nachschaute. Ich fragte ihn, ob er sich nicht auch einmal einen schnellen, modernen Wagen anschaffen wolle. "Für unsere Straßen ist der robuste Wolga doch viel besser", antwortete er ein bisschen unwirsch. Meine Frage war ihm wohl zu direkt.

IN GEWOHNTER WEISE - DEVOT

Skeptisch waren wir nach Ostberlin gekommen, unzufrieden verließen wir die DDR-Hauptstadt. Denn nur die Bulgaren und die DDR-Vertreter hatten sich uns gegenüber in gewohnter Weise devot verhalten, keinen Widerspruch gewagt. So lieferte uns der DDR-Professor Kurt Seidel eine Handvoll Adressen von Psychiatern in der Schweiz und in Österreich, von denen er glaubte, Professor Morosow könne das Abstimmungsverhalten dieser westlichen Kollegen in Honolulu noch positiv beeinflussen.

Morosow wartete nicht lange und machte sich auf den Weg zu den Kollegen in Österreich und der Schweiz. Als er nach zehn Tagen heimkehrte, glaubte er gute Arbeit geleistet zu haben. "Für Honolulu ist alles noch offen", sagte er mir zuversichtlich. Er machte sich selber etwas vor, wie sich ein halbes Jahr später in Honolulu herausstellen sollte.

Mich beauftragte Morosow dann, ihm für den Weltkongress eine Expertise über die Psychiatrie in den westlichen Ländern zu erarbeiten. Besonderen Wert legte er auf Informationen über die Bestimmungen für Zwangseinweisungen und über die gesetzlichen Voraussetzungen für die Begutachtung von vermeintlich geistes-gestörten Patienten.

PSYCHIATER VERURTEILEN SOWJETUNION

Er hoffte, mit diesem Material bei den Diskussionen in Honolulu den Westen in die Defensive drängen zu können.

Aus der westlichen Presse habe ich dann erfahren - ich hatte mich zwei Monate vor dem Beginn des Kongresses in Honolulu in den Westen abgesetzt -, wie die sowjetische Delegation meine Materialien ins Plenum einbrachte, um die berechtigten Attacken zu neutralisieren. Delegationssprecher Dr. Eduard Babajan beklagte in leidenschaftlichen Statements das mangelhafte Niveau der psychia-trischen Versorgung in der westlichen Welt.

Doch Babajans Rhetorik brachte der sowjetischen Delegation nicht den erwünschten Erfolg. Der Weltkongress votierte für die amerikanische Resolution, in der "die missbräuchliche Anwendung psychiatrischen Wissens zum Zwecke der Unter- drückung abweichender Meinung" abgelehnt wird. Peinlicher war es für die Sowjetunion, dass dieser Antrag durchkam. Denn mit 90 zu 88 Stimmen prangerte die Generalversammlung den Missbrauch der Psychiatrie in einem bestimmten Land an - in der UdSSR. Zum ersten Mal wurde damit Moskau vor der Weltöffentlichkeit verurteilt, die Psychiatrie gegen die Interessen der Menschen einzusetzen.

Diese Grundsatzentscheidung hat im Westen viel zu wenig Beachtung gefunden. Die sowjetische Regierung nahm das Honolulu-Ergebnis immerhin so ernst, dass ihre großen Massenblätter nicht darüber berichten durften: lediglich einige medizinische Fachzeitschriften lobten, ohne auf die Ergebnisse einzugehen, die "sachliche Atmosphäre auf dem Weltkongress". Und sie machten ihren Lesern weis, die sowjetische Delegation hätte in Honolulu den Versuch einer Wiederbelebung des Kalten Krieges erfolgreich abgewehrt.

"BUNTE" PILLEN FÜR GESUNDE MENSCHEN

Natürlich werden die psychiatrischen Behandlungsmethoden und die sogenannten bunten Pillen (Psychopharmaka), wie sie in der Sowjetunion an der Tagesordnung sind, auch in den USA, der Bundesrepublik und allen anderen westlichen Ländern abgewandt und verabreicht. Nicht diese psychiatrischen Behandlungsmethoden sind verwerflich, sondern dass sie gegen gesunde Menschen angewandt werden, die den politischen Machthabern unbequem sind.

Schlimmer noch als die Behandlungsart empfinden viele Regimekritiker in den Kliniken der Sowjetunion, dass sie über ihre Situation im unklaren gelassen und damit systematisch verunsichert werden.

WIDERSTANDSKRAFT GEBROCHEN

Mit widersprüchlichen Informationen, die der Psychiater seinem Patienten ständig vermittelt, wird allmählich jede psychische Widerstandskraft gebrochen. Außerdem wechseln besonders geschulte Psychiater im Serbskiij-Institut häufig ihre Taktik. Mal zeigen sie Verständnis für die Situation des Dissidenten und bieten ihm sogar freundlich eine Zigarette an, und im nächsten Moment drohen sie unvermittelt mit der Einweisung in eine psychiatrische Sonderklinik.

In der Wissenschaft gibt es für diese Interaktions-Technik einen Fachausdruck: double-bind, die sogenannte Zweigleisigkeit. Diese "double-bind" verhindert, dass der Patient Abwehrmechanismen entwickelt, die er braucht, um sich eine Überlebensstrategie aufzubauen. Er weiß einfach nicht mehr, wo er ist, wann er eingeliefert wurde, wann er Besuch bekommt und wie viel Mal er bereits dieselbe Frage beantwortet hat. Oft wissen die Patienten nicht einmal mehr, an welchen Tagen sie untersucht werden.

PSYCHO-FOLTER

Diese subtile Psychofolter ist genau so schrecklich wie die körperliche Miss-handlungen, zu denen es - wie häufig auch in westlichen Anstalten - immer wieder kommt.

All das geschieht unter Staatsaufsicht. Um in der UdSSR in eine psychiatrische An-stalt eingewiesen zu werden, genügt es schon, wenn Arbeitskollegen oder Nachbarn das Verhalten eines Bekannten ungewöhnlich vorkommt. Unter dem Vorwand einer sozialen Gefährdung der Gesellschaft kann jeder zur Untersuchung bestellt werden, der sich nicht "normgerecht" verhält - und "normgerecht" heißt, nicht aus der Reihe tanzen und keine andere Meinung zu haben als die Partei, obwohl die sowjetische Verfassung jedem Bürger formal Meinungs- und Religions-freiheit garantiert.

Der zweite Weg, jemanden für seine Überzeugung in eine Nervenheilanstalt einzu-liefern, führt direkt über das Gesetz. Wer Agitation und Propaganda gegen die Politik der KPdSU verbreitet, wird nach sowjetischem Recht (Artikel 70 bzw. 190/1) als Staatsfeind angeklagt und in vielen Fällen dann von Richtern oder Staatsanwälten zur Begutachtung seines Geisteszustandes den Psychiatern ausgeliefert.

Ähnliche Rechtspraktiken bestehen in allen Ländern des Ostblocks. So genügt bei-spielsweise in der DDR der bloße Verdacht auf geistige Erkrankung zur Zwangs-einweisung in eine Klinik. Lediglich in Ungarn und in Polen sind die Bürger rechtlich vor derartigen Übergriffen der Staatsorgane geschützt. Dort reicht die Denunziation von Nachbarn nicht aus, um unliebsame Bürger in einer Anstalt verschwinden zu lassen.

OPPOSITION - STAATSVERRECHEN

Der entscheidende Unterschied zwischen Ost und West bleibt, dass in der Sowjet-union jede oppositionelle Meinung ein Staatsverbrechen ist, und dass die Psychiatrie dazu missbraucht wird, den Widerstand politisch Andersdenkender zu brechen.

Ich halte es deshalb für besonders bedenklich, ja sogar für gefährlich, wenn sich in der Bundesrepublik die Meinung durchsetzen sollte, die Terroristen hierzulande seien "psychiatrische Fälle", und man sollte sie, wenn sie verhaftet werden, einfach in eine Nervenheilanstalt einweisen, anstatt ihnen ordnungsgemäß den Prozess zu machen. Käme es eines Tages dazu, würde sich die Bundesrepublik in ihrer rechts-staatlichen Praxis kaum noch von der Sowjetunion unterscheiden.

3.000 FACHÄRZTE FÜR MILLIONEN KRANKE

Doch ich kann mir im Ernst nicht vorstellen, dass sich meine deutschen Kollegen dafür hergeben würden. Die Probleme der Psychiatrie in der Bundesrepublik liegen auf einem ganz anderen Gebiet. Die medizinische Versorgung der etwa eine Million Menschen, die der psychiatrischen Behandlung bedürfen, hat viele Mängel. Für die ambulante Betreuung dieser Patienten stehen insgesamt nur elf psycho-therapeu-tische Polikliniken und nicht mehr als 3.000 Fachärzte für Psychiatrie zur Ver-fügung. Auch die stationäre Versorgung in den Krankenhäusern ist dürftig. Auf 1.000 Einwohner kommen laut Statistik 1,6 Betten für psychisch Kranke (Schweden 3,5; Niederlande 2,9; Schweiz 2.7; Dänemark 2,3; Frankreich 2,3 Betten).

Das sind wenig ermutigende Zahlen in einem technisch und sozial hoch entwickelten Land wie der Bundesrepublik. Doch von wirklich guten und engagierten Medizinern können diese schwierigen Zustände auch als eine Herausforderung empfunden werden. Ich jedenfalls bin froh, nach meiner Flucht hier in der Bundesrepublik eine neue Aufgabe als Arzt gefunden zu haben.




































































































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