Donnerstag, 30. März 1978

Sowjetunion: Wer verrückt ist, bestimmt die Partei - Teil (2)



















stern,
Hamburg
30. März 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Dr. Jouri Novikov ist der erste führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er was dabei, als seine Kollegen Bürgerrechtler in Irrenhäuser verbannten. Er erlebte jahrelang aus nächster Nähe, was im Auftrag der Partei und auf Befehl des Geheimdienstes KGB hinter den Mauern der berüchtigten Sonderkliniken geschieht.

Ich habe mich oft gefragt, wie meine Kollegen im "Serbskij"-Institut meine Flucht in den Westen erklären würden. Zunächst wird mein Verschwinden auf Unverständnis gestoßen sein - insbesondere bei den jüngeren Ärzten. Für sie war ich ein Karriere-Vorbild, eine Art Musterschüler des Institutsdirektors Morosow. Mit 27 Jahren kam ich als junger Assistenzarzt zum Serbskij-Institut, drei Jahre später promovierte ich zum Dr. med. Wenige Monate darauf stieg ich zum Oberarzt auf und leitete schon mit 32 Jahren eine der sechs Abteilungen dieser Klinik.

LINIENTREUER ARZT

Auch meine Abteilungsleiter-Kollegen, die fast alle zwanzig Jahre älter als ich waren, werden so schnell keine plausible Antwort auf meine Flucht gefunden haben. Für sie war ich immer - darin bestand kein Zweifel - ein linientreuer Arzt, der die sowjetische Variante der Psychiatrie überzeugend vertrat, der noch in seiner Freizeit marxistisch-leninistische Seminare an der Universität belegte, der als Geschäftsführer des sow-jetischen Allunionsverbandes für Psychiatrie und Neurologie eine wichtige Funktion hatte.

Mit allem hätten meine Kollegen wahrscheinlich gerechnet - Universitätslaufbahn, Übernahme einer eigenen Klinik, Versetzung ins Gesundheitsministerium - nur mit einem nicht: mit meiner Flucht.

Auf ihre Ratlosigkeit werden die "Serbskij"-Ärzte nur eine medizinische Antwort gefunden haben. Genauso schnell wie bei den politischen Dissidenten Wladimir Bukowski, Leonid Pljuschtsch und Piotr Grigorenko wären sie dabei, mit Geisteskrankheit zu bescheinigen. Könnten sie mich heute untersuchen, dann würde das Krankheitsbild des "Patienten" Dr. med. Jouri Novikov, so aussehen:

"KRANKHEITS-BILD" DES DR. MED. NOVIKOV

"Kann sich gut an Kindheitserlebnisse erinnern (exaktes Gedächtnis ist bei Schizophrenie besonders ausgeprägt). Nach Aussagen seiner Eltern ist er sehr begabt, hat aber extreme Kontaktschwächen gegenüber Gleichaltrigen ( autistische Tendenzen). Gute Schulleistungen, aber schwache Elternbindung und frühzeitige Selbstständigkeit (pseudonormale Pubertätskrise). Rasche Entwick-lung des Geschlechtstriebes (jugendliche Promiskuität).

"Exzellente Leistungen als Student und besonderes Interesse für weltfremde Bücher und Schriftsteller wie Ionesco, Beckett und Kafka (erste Symptome für Ver-änderung von Denkvorgängen).

WELTFREMDE BÜCHER

"Fängt an, selbst Theaterstücke zu schreiben. Ehe-schließung mit Ausländerin (DDR), besonderes Interesse für Psychiatrie, gleichzeitig Versuch, den Beruf zu wechseln. Dabei von Kommilitonen weitgehend isoliert (starke soziale Instabilität, Vertiefung der autistischen Tendenzen). Gegenüber Mitarbeitern des "Serbskij"-Instituts verschlossen. Nach Mitteilung des Staats-sicherheitsdienstes KGB mangelndes politisches Engage-ment (starker Negativismus gegenüber der Realität). Bewusste Karriere-Entwicklung, dabei aber auffallendes Desinteresse für pragmatische Seiten des Lebens. Lebt trotz hoher Einkünfte mit seiner zweiten Frau in einer Kommunal-wohnung und teilt sich mit zwölf Menschen ein Bad.

FLUCHT AUS DER REALITÄT

"Weitere Entwicklung: Setzt sich bei seiner ersten Auslandsreise im Juni 1977 von Helsinki in den Westen ab.

Psychischer Befund: Es besteht - gemäß der anam-nestischen Daten - ein pathologischer (psychotischer) Drang aus der Realität zu flüchten.

Diagnose: Pseudopsychopathische Schizophrenie. Wegen Überschätzung der eigenen Person, mangelnder Anpassungsfähigkeit an die Umwelt und sozialer Ge-fährlichkeit für Staat und Gesellschaft wird die Ein-weisung in die psychiatrische Sonderklinik Dnje-propetrowsk empfohlen.

Gezeichnet: Professor Dr. med. habil. Georgij Wassiljewitsch Morosow. Direktor des 'Serbskij'-Instituts, Mitglied der Akademie der Medizinischen Wissenschaften."

FOLGENSCHWERE SPRACHFLOSKELN

So und nicht anders würden mich meine ehemaligen Kollegen begutachten, und so würde mich mein früherer Chef, Professor Morosow, als Geisteskranken hinter den Anstaltsmauern verschwinden lassen - wenn sie mich heute in der Sowjetunion zu fassen kriegten. Ich weiß, wie man solche Gutachten formuliert. Ich habe sechs Jahre im "Serbskij"-Institut für Gerichtspsychiatrie in Moskau gearbeitet und mehr als 200 Diagnosen gestellt. Ich kenne die Sprachfloskeln auswendig. Mit der Begutachtung politischer Fälle hatte ich dagegen nie etwas zu tun. Lange wusste ich nicht einmal, dass es in dem Institut eine Abteilung 4 gibt, die nur dazu da ist, politisch Anders-denkende iim Auftrag des KGB als Irre abzustempeln.

MOSKAU - WELTOFFENE STADT

Als ich im Winter 1971 im "Serbskij"-Institut als Assistenzarzt anfing, war ich optimistisch: Meine niederdrückenden Erlebnisse als Praktikant n der verrotteten Krankenhaus-Baracke von Leningrad hatte ich überwunden, meinen gescheiterten Ausbruch in die DDR und meine erste Ehe hatte ich verdrängt. Moskau war eine Stadt, die mir weltoffen schien und die mich faszinierte. Hier glaubte ich, den Platz gefunden zu haben, wo ich meinen Doktor machen und mich auf eine Universitäts-laufbahn vorbereiten konnte - unbehelligt von Partei und Politik.

Meine zweite Frau Galina hatte ich es zu verdanken, dass ich in Moskau so schnell Fuß fasste, Wir hatten uns im Herbst 1970 bei Bekannten in Leningrad kennenge-lernt. Bereits Anfang 1971 heirateten wir und mieteten uns eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung am Standrand von Moskau. Galina arbeitete als Französischlehrerin an einem Gymnasium. Auf einer Feier in Moskau lernten wir einen Oberarzt aus dem "Serbskij"-Institut kennen, der mich bei Professor Morosow empfahl.

Das "Serbskij"-Institut liegt on der Kropotkin-Gasse 23, einer schmalen Straße im Zentrum von Moskau. Der finstere Gebäudekomplex überragt die anderen Häuser des Viertels. Eine drei Meter hohe, graugelbe Mauer riegelt die Klinik hermetisch von der Außenwelt ab.

Es war ein nasskalter Januarmorgen, an dem ich zum ersten Mal die Kropotkin-Gasse entlangging. Einen Moment dachte ich, ich hätte mich verirrt. Auf einem Hof sah ich Kinder laut lachen und Fangen spielen. Unmittelbar neben dem "Serbskij"-Institut liegt eine internationale Schule, in der Töchter und Söhne von aus-
ländischen Diplomaten unterrichtet werden.

Und noch etwas fiel mir bei meinem ersten Gang durch die Kropotkin-Gasse auf. Zwei Limousinen mit ver-gitterten Fenstern, die wir im Volksmund schwarze Raben nennen. Autos mit KGB-Nummern. Das schwere massiv-eiserne Tor zum Hospital öffnete sich. Die Wagen passierten.

KLINIK - TRUTZBURG DES MITTELALTERS

"Serbskij" gleicht eher einer mittelalterlichen Trutzburg als einer Klinik. Das Gebäude steht, wie meine Kollegen mit später erzählten, auf dem Gelände, das im 16. Jahr-hundert Iwan dem Schrecklichen als Richtplatz diente. Hier ließ er seine Gegner reihenweise beseitigen.

Ein bewaffneter Feldwebel in Uniform des Innen-ministeriums - ich erinnere mich noch, dass er ein blaues Band an seiner Mütze hatte - fragte mich un-wirsch nach meinem Ausweis, und zu wem ich denn eigentlich wollte. Ich sagte, zu Professor Freierow. Weil ich noch keine Klinik-Karte hatte, musste mich der Professor pesönlich abholen. Wir gingen über einen kleinen Vorhof, ließen auf der linken Seite den Ver-waltungstrakt liegen und betraten dann das Hauptge-bäude, dessen Fenster mit Panzerglas geschützt sind. Auf den Fluren musste schon seit Wochen nicht mehr sauber gemacht worden sein. Spinnweben hingen in den Fensterkreuzen. In der Eingangshalle stand ein alter Nussbaumtisch, das Polster der Besuchersessel war zerschlissen.

"STALINS ERBEN"

Im Arbeitszimmer meines neuen Chefs sah es nicht viel besser aus als sonst in der Klinik. Sein Büro war über-raschend klein. Das mit beigem Kunstleder bezogene Sofa war abgewetzt, der Linoleumboden stumpf. An der schmutzig grauen Kalkwand hing ein Bild von Iwan P. Pawlow, dem Vater der russischen Physiologie. Rechts daneben stand im Bücherbord neben psychiatrischer Fachliteratur ein Band mit dem Titel "Stalins Erben". Der Wasserhahn über dem vergilbten Waschbecken tropfte.

Professor Oskar Jewgenijewitsch Freierow, Ab-teilungsleiter der 6. Klinischen Station, war ein grauhaariger Mittsechziger, der Ruhe und Besonnenheit ausstrahlte, "Wenn Sie Menschen helfen wollen, sind Sie hier richtig", sagte er. "Denn wir sind die einzigen, die psychisch Kranke von der Strafverfolgung befreien können." Später habe ich mich oft gefragt, ob das zynisch gemeint war.

KUR VON DER TRUNKSUCHT

Nur einmal sah ich Professor Freierow seine Ruhe verlieren: an einem Mittwoch im Juni 1973. Ich war gerade ins Institut gekommen und hatte meine Sachen in mein Fach gelegt. Da hörte ich Freierow im Neben-zimmer toben. Erregt stampfte er mit dem Fuß auf. Dann stand er plötzlich in der Tür und winkte mich zu sich herein. "Schauen Sie sich das an", schrie er mit hochrotem Kopf und zeigte auf ein tropfendes Rinnsal an der Decke.

"Schon wieder ein Wasserrohrbruch?" fragte ich.

EIN MINISTER - BRESCHNEWS SOHN

"Ach was! Das ist der Urin von dem Breschnew-Sohn! Seit 30 Jahren bin ich jetzt hier und habe noch nie eine eigene Toilette gehabt. Seit 30 Jahren lässt die Partei dieses Institut verkommen und gibt uns nicht einmal das Geld für die nötigsten sanitären Anlagen. Und für so einen dahergelaufenen Alkoholiker wird plötzlich eine Privatstation eingerichtet."

Zwei Tage hatte es nur gedauert, bis eine Baubrigade aus dem Bibliotheksraum im dritten Stock ein komfortables Krankenzimmer hergerichtet hatte mit Bad und Einbauschränken und mit einer Toilette, die von Anfang an defekt war. Die Bücher wurden in den Keller geschafft. die Bibliothekarin bekam Urlaub, und die Doktoranden sollten zu Hause arbeiten. Und das alles für den 40jährigen späteren Vize-Außenhandels-Minister Jurij Breschnew. Der Sohn des allmächtigen KP-Chefs Leonid Breschnjew (1906-1982) )musste sich in der Abgeschiedenheit des "Serbskij"-Instituts einer dreiwöchigen Kur unterziehen. Durch seine Trunksucht hatte er sogar schon im Ausland Aufsehen erregt.

ÄRZTE-STAB FÜR SOHNEMANN

Ein ganzer Stab von Ärzten stand ständig zur Ver-fügung, drei Krankenschwestern betreuten ihn rund um die Uhr. Sie hatten alle strikte Anweisung, den Namen ihres prominenten Patienten geheim zu halten und ihn vor den Blicken des Personals abzuschirmen. Für einen Moment beobachtete ich ihn einmal auf dem Hof und dachte: Das kann doch wohl nicht sein - jetzt ist es schon so weit, dass wir den Genossen Generalsekretär be-handeln müssen. Sohn Jurij sieht seinem Vater verblüffend ähnlich.

Die Sonderaktion für Breschnew junior war aber auch die einzige bauliche Er-neuerung, die während meiner sechs Jahre im "Serbskij"-Institut vorgenommen wurde. Man kann sich kaum vorstellen, unter welchen Verhält-nissen wir arbeiten mussten. Ich teilte mir mit zehn Kollegen ein etwas vierzig Quadratmeter großes Zimmer, in dem wir nicht nur unsere Schreibarbeiten erledigen, sondern auch unsere Patienten zu unter-suchen hatten. Sekretärinnen hatten wir keine, die Berichte schrieben wir selber. In einem Klassenzimmer hätte es nicht disziplinierter zugehen können, und wie in einem Klassenzimmer verhielten wir uns immer, wenn der Professor den Raum betrat, standen wir auf. Und wenn einer von uns morgens später kam als zehn Uhr wurde sein Name auf einer Liste notiert, die der Professor bei der Institutsversammlung vor allen Kollegen verlas.

In dieser räumlichen Enge war eine gründliche Unter-suchung so gut wie unmöglich. Wie sollte auch ein vernünftiges Gespräch zustande kommen, wenn zehn Psychiater mit zehn Kranken so dich zusammenhocken? Oft kam ich deshalb morgens schon ein oder zwei Stunden früher, um mich in Ruhe mit besonders komplizierten Patienten unterhalten zu können. Tagsüber stellte ich manchmal meine Fragen an die Patienten auf dem schmalen Flur, wohin ich mir aus dem Arbeitszimmer einen Schemel mitnahm. Der einzige freie Fleck auf dem Gang war keine zwei Meter von der Toilette entfernt. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Jeder, der mussten, griff sich eine "Prawda" vom Zeitungsstapel neben der Toilettentür: denn Papier ist knapp und teuer in der Sowjetunion.

PAMIR-ZEIT

In der Nachmittagsstunde zwischen drei und vier Uhr wurden wir eingenebelt. Denn war "Pamir-Zeit", für viele der Höhepunkt des Tages. Der Dunst der billigsten russischen Zigarettenmarken zog über den Gang. Ich habe es nie verstanden, warum die Kranken am Tag nur eine Stunde und dann ausgerechnet nur vor dem Klo rauchen durften.

Die meisten meiner Patienten waren Diebe oder kleine Gauner, aber auch Schwerverbrecher und Mörder waren dabei: Ihr abnormes Verhalten bei der Tat oder während des Prozesses hatte Richter, Staatsanwälte oder Verteidiger aufmerksam gemacht. Sie schalteten unser Institut, die höchste psychiatrische Instanz in der UdSSR, ein und wollten ein Gutachten. Rechtliche Grundlage ihres Vorgehens ist das Strafgesetz der Russischen Föderativen SSR. Im Artikel 11 heißt es: "Eine Person soll sich nicht mehr für ihre Straftat verantworten müssen, wenn sie eine sozial gefährliche Handlung im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen hat."

Allein die Beurteilung des "Serbskij"-Instituts ent-scheidet darüber, ob der Straftäter als "Schuld-fähiger" im Arbeitslager landet oder ob er als Geisteskranker für "schuld-unfähig" erklärt wird. Die "Serbskij"-Psychiater haben zwei Möglichkeiten, wenn sie sich für schuldunfähig entscheiden: Sie können ihre Patienten entweder in ein "einfaches" psychiatrisches Hospital oder in eine Sonderklinik einwiesen. Wer nach ärztlicher Meinung absolut unheilbar ist - und dazu gehören oft auch die "für die Gesellschaft besonders gefährlichen Regimekritiker" -, wandert auf unbestimmte Zeit in eine der zwölf Sonderkliniken. Bewaffnete Wachen, meterhohe Mauern schirmen diese Sonderkliniken von der Außenwelt ab.

SCHWARZ-WEISS-RASTER

Das Dilemma: Unsere Gesetze kennen nur ein Schwarz-Weiß-Raster. Die Psychiater können nicht auf "ver-minderte Schuldfähigkeit" plädieren, wie das ihre Kollegen im Westen tun. Mir ist klar, dass die Grenzen zwischen Geisteskrankheit und voller Zurechnungs-fähigkeit fließend sind.

Nach maximal 35 Tagen muss ein Gutachten fertig sein. Ausnahmen behält sich die sowjetische Bürokratie vor. Die 35 Tage können auf Antrag der Ärzte vom Innen-ministerium - und damit vom KGB - beliebig verlängert werden.

NUR EIN BRUCHTEIL DER PARTEI-WILLKÜR

Kaum in einem anderen Land klaffen, meiner Meinung Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit so weit auseinander wie in der UdSSR. - Strafgesetzbuch-Paragrafen, die dem Land nach außen hin den Anschein von Rechtsstaatlichkeit geben, werden Tag für Tag von Staatsorganen gebrochen. Die über prominente Dissidenten erstellten Gutachten, die im Westen veröffentlicht worden sind, bilden nur einen Bruchteil der Partei-Willkür. Es sind gerade die Alltagsfälle, an denen sich die Abhängigkeit der Psychiater von der Staatsmacht zeigen: Mediziner als Erfüllungsgehilfen der Politik.

Das Schicksal des 20jährigen Igor Bokow ist mir sehr nahegegangen. Der Zimmer-mannsgehilfe hatte den Sohn des Parteisekretärs in der ukrainischen Hauptstadt Kiew erstochen. Es war eine Eifersuchtstat. Der Sohn des Parteisekretärs hatte Bukow sein Mädchen ausgespannt.

LATENTE SCHIZOPHRENIE

Bei der ersten Gerichtsverhandlung redete Bokow so zusammenhanglos daher, dass sein Verteidiger ein psychiatrisches Gutachten anforderte. Verblüffend schnell kamen die lokalen Psychiater zu der Diagnose: kerngesund und schuldfähig. Der Fall landete auf meinem Schreibtisch, weil dem Verteidiger die Exploration meiner Kollegen in Kiew zu oberflächlich erschien. Er forderte ein Zweitgutachten vom "Serbskij"-Institut an.

Wir untersuchten Igor Bokow in Moskau gründlich. Kein Zweifel: Bokow litt unter einer latenten Schizophrenie. Es war geradezu ein klassischer Fall für Schuldunfähig-keit. Wir hatten unsere Gutachten schon getippt, als uns Instituts-Chef Professor Morosow in sein Zimmer bestellte und eine erneute Untersuchung des Patienten anordnete. Wir waren ziemlich überrascht, denn für uns alle war die Diagnose klar.

Als ich einen Tag später im Moskauer Gesundheits-ministerium etwas zu erledigen hatte, wurden mir die Zusammenhänge durch einen Zufall klar. Auf dem Schreib-tisch der Referentin für Psychiatrie, Frau Dr. Zoja Serebrejakowa, sah ich einen Brief vom Vater des Ermordeten liegen. Der Parteisekretär aus Kiew protestierte in diesem Schreiben schärfstens dagegen, dass der Täter ohne Strafe davonkommen sollte. Bokow sei nie und nimmer ein Geisteskranker. Einen Durchschlag seines Briefes hatte er auch an das Zentralkomitee der KPdSU geschickt. Dessen ungeachtet kamen meine Kollegen aus einer anderen "Serbskij"-Ab-teilung, die von der Intervention nichts wussten, zum selben Ergebnis wie wir.

KEINE CHANCE AUF NORMALES LEBEN

Drei Monate später rief mich ein Kiewer Richter an, der über den Fall entscheiden sollte. Wir kannten uns von früher. Er schilderte mir seine verzwickte Lage: "Was soll ich nur machen, die Partei setzt mich unter Druck, den Jungen ins Arbeitslager zu schicken, und Ihre Gutachten stehen dagegen. Am besten Sie kommen noch einmal hierher und untersuchen den Täter im Beisein des Gerichts."

SONDERKLINIKEN SCHLIMMER ALS ARBEITSLAGER

Mir blieb nichts anderes übrig, ich fuhr nach Kiew und plädierte für die Einweisung in eine normale psychia-rische Klinik. Das Urteil war fatal. Der Richter versuchte es allen recht zu machen - den Medizinern und dem Parteisekretär, der Rache suchte. Er schickte Bokow in eine Sonderklinik. Diese Sonderkliniken sind schlimmer als Arbeitslager. Den Insassen wird medizinisch nicht mehr geholfen, sie werden nur noch mit Beruhigungs-mitteln betäubt. Im Gegensatz zum Arbeitslager ist die Internierung in der Sonderklinik oft unbefristet: die Patienten haben kaum eine Chance, ins normales Leben zurückzukehren.

IM EILVERFAHREN DURCHGEPAUKT

Es kam selten vor, dass sich "Serbskij"-Psychiater den "Empfehlungen" der Partei-Oberen widersetzten. Das Schicksal des Patienten entschied sich jeweils zwischen 10 und 15 Uhr. Dann tagte die große Kommission, die aus dem vortragenden Oberarzt, dem leitenden Professor und den Kollegen der Abteilungen bestand. Einvernehm-lichkeit war das Gebot der Stunde. Im Eilverfahren wurden die Fälle durch-gepaukt, manchmal in ein paar Minuten.

Als Professor Freierow einmal bei einer meiner Diag-nosen völlig anderer Meinung war als ich, ließ er den Patienten in den Sitzungsraum holen: "Guten Tag, wie geht es Ihnen heute?" Und: "Welchen Tag haben wir eigentlich?" Zwei absolut belanglose Fragen, die der Patient völlig korrekt beantwortete. Ich fragte mich, welchen Auf-schluss dieses kurzes Fragespiel über den geistigen Zustand dieses Kranken geben sollte. Doch Freierow belehrte mich: "Wenn Sie dreißig Jahre hier wären, würden Sie auch begreifen, dass dieser Mann unheilbar paranoid ist. Aber bitte, wenn Sie anderer Ansicht sind, brauchen Sie das Gutachten ja nicht zu unterschreiben!"

KEINE UNTERSCHRIFT UNTER "GUTACHTEN"

Das tat ich auch nicht. Denn für mich litt der Kranke nur unter vorübergehenden psychotischen Zuständen. An meiner Stelle unterschrieb ein Kollege, der gar nichts mit dem Fall zu tun hatte: Abweichende Meinungen zu einem Gutachten sind in der Sowjetunion witzlos. Professor Danill R. Lunz, Leiter der vierten Abteilung des "Serbskij"-Instituts, hatte für solche Fälle den Spruch parat: "Wenn ich sage, jemand ist schizophren, dann ist er es - oder wollen Sie meine Berufserfahrung anzweifeln?"

Eine Wochen später kam der Kollege, der für mich das strittige Gutachten unter-schrieben hatte, kleinlaut zu mir. Er sollte als Gutachter vor Gericht erscheinen und seine "Diagnose" den Richtern erläutern. Dabei wusste er noch nicht einmal den Namen des Patienten. Verleger bat er mich um die Akten.

OHNE SELBSTZENSUR NUR NACHTEILE

Ein zweites Mal wagte ich es nicht, die Unterschrift zu verweigern. Ob das Gutachten stimmte oder nicht, das war für mich nicht mehr ausschlaggebend. Die Nachteile, die sich aus abweichenden Meinungen ergaben, waren viel gravierender: Freierow, der schließlich mein Doktorvater war, ließ mich wochenlang links liegen. Ich kam mit meiner Arbeit nicht voran, und meine Kollegen begannen ungeniert, an meiner Qualifikation als Arzt zu zweifeln. Kein junger Kollege, der etwas werden will, kann sich in diesem System der Selbstzensur entziehen.

AUF ETAGEN EIN FELDWEBEL

Aber auch die Professoren hatten in der Klinik nur eine begrenzte Macht. Die wahren Herren des "Serbskij" sind die Offiziere aus dem Innenministerium. Bewaffnete Soldaten kontrollieren das Institut.

Auf jedem Stockwerk sitzt ein Feldwebel, dessen Dienst-zimmer größer und kom-fortabler ist als die Professoren-räume. Die unteren Dienstgrade bewachen Tag und Nacht die Zellen der Patienten.

SCHLÄGEREIEN

Und wie sie die Insassen bewachen! Oft kommt es zu Schlägereien. Als ein Kranker einmal nachts trotz der starken Beruhigungsmittel laut vor sich hinsang, knöpfte sich ein Wärter das hilflose Opfer vor und drosch auf den Patienten ein. Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass zwei Rippen gebrochen waren. Ich meldete diesen Fall der Instituts-Leitung. Nichts geschah. Dann sprach ich Professor Feierow noch einmal auf den brutalen Übergriff des Wachmanns an. "Ich weiß von diesem Fall", sagte er. "Und ich finde das genauso verheerend wie Sie. Aber ändern können wir nichts. Den Wärtern ist alles erlaubt. Hauptsache es herrschen im Institut Ruhe und Ordnung."

Spätestens seit diesem Vorfall gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass das "Serbskij"-Institut vom Pförtner bis zum Professor, von der Putzfrau bis zum Personal-chef vom Innenministerium kontrolliert wird - und damit auch vom KGB. Es ist schon grotesk: Das Hospital untersteht ausgerechnet den Leuten, deren Hauptaufgabe es ist, für die "innere Sicherheit" der Sowjetunion zu sorgen. Das Gesundheitsministerium, offiziell für "Serbskij" zuständig, hat in Wirklichkeit nichts zu sagen, es darf lediglich die Arbeitsverträge aushändigen.

JEDER KÖNNTE EIN KGB-SPITZEL SEIN

Weil jeder Kollege befürchtet, der andere könnte ein KGB-Spitzel sein, gehen sich die Ärzte aus dem Weg, wo sie nur können. Besonders schlimm war es mit den Kollegen der Abteilung vier. Sie verhielten sich genauso unnahbar wie das Wachpersonal. Mittags in der Kantine traten sie als geschlossene Gruppe zum Essen an, ließen nie einen von uns an ihren Tisch und marschierten nach dem Kaffee gemeinsam wieder auf ihr Stockwerk. Es war unmöglich, mit ihnen ein paar harmlose Worte zu wechseln, ganz zu schweigen von einem Gespräch von Arzt zu Arzt.

Ich merkte bald: Es gab ein Geheimnis um die vierte Abteilung. Und naiv, wie ich in meiner Anfangszeit 1971 im Institut war, fragte ich eines Tages Professor Freierow geradeheraus: "Was machen die eigentlich in der Vierten? Man sieht sie kaum, keiner redet mit ihnen und nie wird dort einer eingeliefert ..."

Freierow unterbrach mich, fasste mich an die Schulter und sagte: "Die vierte Abteilung ist kein Thema für uns." Dann schaute er sich um, ob auch die Tür zu ist und fügte etwas leiser hinzu: "Da sitzen unheilbar Kranke. Leute, die unsere Gesellschaft reformieren wollen."


























Donnerstag, 23. März 1978

Sowjetunion - Psychiatrie als Strafmedizin im Serbskij-Institut - (Teil 1)














stern, Hamburg
23. März 1978
aufgezeichnet
von Erich Follath
und Reimar Oltmanns

Zuerst sagt Dr. Jouri Novikov, wollte er nur untertauchen und dachte gar nicht daran, über seine Erlebnisse zu berichten: Zu groß war seine Angst vor der Rache des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Doch je länger Novikov im Westen lebte, desto klarer wurde ihm, dass er nicht schweigen durfte. Er war der erste führende Psychiater, dem - im Juli letzten Jahres - die Flucht aus der Sowjetunion gelangt. Als die STERN-Reporter Erich Follath und Reimar Oltmanns den Flüchtling trafen, berichtete Novikov nur stockend von seinen Erlebnissen. Es folgen monatelang Gespräche, bei denen sich Autoren und Flüchtling näherkamen. So ent-standen 60 Stunden Tonprotokoll. Heute arbeitet Novikov als Psychiater in der Bundesrepublik. Sein Bericht ist ein Dokument, das Zweifel beseitigt: Moskau wird künftig nicht mehr leugnen können, dass die Psychiatrie in der Sowjetunion - vornehmlich in den siebziger Jahren - als Strafmedizin wurde. - Zeitdokumente, Zeitzeugen, Zeitgeschichte




Plötzlich tat er mir leid, Georgij Wassiljewitsch Morosow war der Mann, dem ich fast meine Karriere verdankte. "Nun trink noch einem mit", sagte Morosow, schenkte mir eine Teetasse armenischen Kognak ein und setzte sich auf den Platz neben mich im Zugabteil. "Jouri, wenn du so weitermachst, kannst du eines Tages mein Nachfolger werden."

Professor Georgij Wassiljewitsch Morosow ist der einflussreichste Psychiater in der Sowjetunion (gegründet 1921, aufgelöst 1991). Er konnte nicht wissen, dass ich ihn wenige Tage später bitter enttäuschen und mich in den Westen absetzen werde - und zwar für immer.

PARTEI-ELITE MIT SONDERAUSWEIS

Es war am 15. Juni 1977, als meine Flucht begann. Der Nachtexpress von Moskau nach Helsinki war pünktlich um 22.20 Uhr vom Gleis 5 des Leningrader Bahnhofs ausgelaufen (seit 1991 Sankt Petersburg). Morosow und ich sollten die Sowjetunion auf dem Psychiatrie Kongress in der finnischen Hauptstadt Helsinki vertreten.
Thema: Selbstmord und Verbeugungsmaßnahmen. Es war meine erste Reise in ein Land außerhalb des Ostblocks.

Selten hatte ich Morosow so gut gelaunt gesehen. Aus seinem kleinen brauen Koffer holte er ein mt Bindfaden verschnürtes Fresspaket, klappte den Tisch des Zugabteils hoch und lud mich zum Abendessen ein. Morosow hatte sich vor der Abfahrt mit Delikatessen eingedeckt, die normale Sowjetbürger nie zu sehen kriegen, geschweige denn zu kaufen: Kavier vom Kaspischen Meer, frische Orangen aus Marokko und Schweizer Schokolade. Morosow hatte wieder in einem der Läden eingekauft, in denen nur Partei-Elite mit Sonderausweis bedient wird.

Je leerer die Flasche wurde, desto mehr ging Morosow aus sich heraus und plauderte mit mir über Krankheitsgeschichten, die in der sachlichen Alltagsatmosphäre des Serbskij-Instituts tabu sind. Dieses Moskauer Institut für Gerichtspsychiatrie hat Regimekritiker Wladimir Bukowski, Pjotr Grigorenko, Leoinid Pljuschtsch und Viktor Fainberg auf ihren Geisteszustand untersucht - und für verrückt erklärt. Seit zwanzig Jahren leitet Professor Morosow dieses Hospital, in den letzten zwei Jahren war ich einer seiner sechs Abteilungsleiter.

"POLITISCHE WAHN-IDEEN"

Der Dissident Wladimir Bukowski, der im Dezember 1976 in der Schweiz gegen den in Chile eingesperrten KP-Chef Luis Corvalan ausgetauscht wurde, hatte über ein Jahrzehnt in Arbeitslagern und Irrenhäusern zugebracht. Schon 1963 lieferte der KGB ihn in das Serbskij-Institut ein. "Bukowskis Untersuchung", sagte Morosow, "hat nur 25 Sekunden gedauert. Erfahrene Psychiater sehen doch sofort, was mit so einem los ist. Schleichende Schizophrenie, die nur in einer geschlossenen Spezial-klinik behandelt werden kann. Die Gesellschaft muss vor Leuten mit politischen Wahnideen geschützt werden."

"Acht Jahre später haben sie ihn doch wieder für gesund erklärt", warf ich ein. Morosow erwiderte: "Ja schon. Wir wollten nach der Kritik im Westen keinen weiteren Ärger mehr haben. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass Bukowski schizophren ist."

PROTOTYP DER SOWJET-GESELLSCHAFT

Als ich meinen Chef so daherreden hörte, konnte ich nicht mehr verstehen, wieso ich meine berufliche Laufbahn an seiner Seite gesucht hatte. Morosow war ein Mann, der die Geschäfte der Partei besorgt. Ein Prototyp der Sowjetgesellschaft: konser-vativer Kammgarnanzug, blau gepunktete Krawatte, akkurat zurückgekämmtes Haar. Er ist ein Mann, der sich immer anpasst, der Abweichungen nicht duldet. Lange Haare, Jeans-Anzüge und Begeisterung für Rock-Musik sind für den russischen Chefpsychiater deutliche Hinweise auf krankhaftes Verhalten.

Das gilt erst recht für politische Ideen, die von der offiziellen Parteilinie abweichen. "Paranoide Reformvorstellungen", "krankhafte Überschätzung der eigenen Person", "Unfähigkeit, sich in die Gesellschaft einzufügen" - das sind die klassischen Symp-tome, die das Serbskij-Institut bei politisch Andersdenkenden feststellt, und sie
damit für Jahre, manchmal sogar für Jahrzehnte hinter den Mauern psychiatrischer Sonderkliniken verschwinden lässt. Eine Wissenschaft, deren wichtigste Aufgabe vor allem darin bestehen sollte, seelisch Kranke wieder in die Gesellschaft zurückzu-führen, wird in der UdSSR dazu missbraucht, gesunde Menschen von der Gesellschaft zu isolieren - nur, weil diese Menschen den Machthabern unbequem sind.

VOM CIA FINANZIERT

Georgij Wassiljewitsch Morosow kann sich nicht vorstellen, dass es in der Sowjet-union etwas zu reformieren gibt. Für ihn werden Dissidenten von den westlichen Geheimdiensten gesteuert. Sein Paradebeispiel ist der Historiker Andrej Amalrik, den Moskau im Jahre 1976 in den Westen abschob. "Der war noch keine vier Wochen in Holland, da fuhr er schon einen Wagen und fing an, sich ein Haus zu bauen. Das war doch der Dank des amerikanischen Geheimdienstes CIA", sagte Morosow.

VOM KGB FASZINIERT

Geheimdienste faszinieren den Chefpsychiater. Jeder Arzt im Serbskij-Institut weiß, dass Morosow bei politisch heiklen Fällen seine Anweisungen direkt vom Komitee für Staatssicherheit (KGB) bekommt. Er kennt KGB-Chef Jurij Andropow (1914-1984) persönlich und geht in der Zentrale am Dserschinskij-Platz ein und aus. Er kann sich berechtigte Hoffnungen machen, bald zum Gesundheitsminister der Sowjetunion aufzusteigen.

Und dennoch: Eine Spur von Unsicherheit konnte selbst Morosow nie verbergen. Sein Misstrauen ist chronisch. Nach drei Stunden Zugfahrt beugte er sich auf einmal vor und fragte mich ganz unvermittelt: "Jetzt kannst du es ja ruhig zugeben, Jouri, Du hast doch für die Staatssicherheit Berichte über mich abliefert. Du warst auf mich angesetzt!"

Ich sah es ihm an: Noch im selben Moment, in der er seine Befürchtung aussprach, wollt er sie gerne wieder zurücknehmen. Einen Augenblick hatte er offensichtlich die Kontrolle über sich verloren. Aber jetzt war wieder da, der Polizist, der in ihm sitzt und pfeift. Schnell wechselten wir das Thema. Um zwei Uhr morgens war die Kognak-Flasche leer. Müde und abgespannt ging ich in mein Schlafwagenabteil.

KEIN DISSIDENT

Auf der engen Liege wälzte ich mich stundenlang hin und her. Immer wieder schossen mir die Gedanken durch den Kopf. Ich bin kein Dissident. Ich bin kein Kämpfer. Aber ich habe ein Recht auf eine eigene Meinung. Ich habe es satt, linien-treu zu sein.

Jahrelang versuchte ich, ein guter Arzt zu sein. Aus der Politik wollte ich mich raus-halten. Und doch hat es mich immer wieder eingeholt. Schon 1961, ich war gerade 18 Jahre alt, wollte der KGB aus mir einen Spitzel machen. Kaum dachte ich, sie hätten es wieder aufgegeben, waren sie wieder da. Je erfolgreicher ich wurde, desto wichtiger wurde ich für sie, desto penetranter hefteten sie sich an meine Fersen und redeten auf mich ein. Und dann sollte ich auch noch Kollegen ausspionieren.

KOLLEGEN AUSSPIONIEREN

Es war im Dezember 1975. In Moskau tagte der internationale Kongress für Psychiatrie und Neurologie. Ich hatte den Auftrag, den prominenten Psychiater Kalle Achte zu betreuen. Kurz vorher rief mich ein KGB-Offizier namens Boris an und befahl mir, ich müsse jede Äußerung von Professor Achte notieren und ihn in privaten Gesprächen aushorchen. Sinn des Kontaktes: Der KGB erwartete, so erklärte mir Boris, von Professor Achte eine positive Stellungnahme zur sowjetischen Psychiatrie. In einem "Prawda"-Interview sollte der international anerkannte Professor den russischen Ärzten ihre hohe Qualifikation und ihre absolute Integrität bescheinigen. Denn im Westen werde zu viel davon geredet, dass russische Psychiater Dissidenten in Irrenhäuser einsperrten.

Ich erklärte, ich würde mein Bestes tun. Doch versprechen könne ich nichts. Als KGB-Agent Boris mich zum Rapport bestellte, log ich ihm vor, ich hätte trotz aller Bemühungen Achte nicht dazu bringen können, irgend etwas von Belang zu äußern.

LENINGRAD - HEIMATSTADT

Gegen fünf Uhr muss ich in meinem Schlafwagen dann doch eingeschlafen sein. Ein Ruck riss mich hoch. Bremsen quietschten, Dampf zischte. Verstört zog ich den Fenstervorhang zur Seite und sah, wie der Zug im Leningrader Hauptbahnhof zum Halten kam. Leningrad ist meine Heimatstadt, hier bin ich geboren, hier wuchs ich auf. Und mir wurde in diesem Moment bewusst, dass ich dieses miefige Monstrum von einem Bahnhof nun zum letzten Mal sah. Ich kann nicht sagen, ob mir der Abschied schwerfiel oder nicht. Ich war weder optimistisch noch traurig. Ich war einfach leer.

PSYCHIATER-KONGRESS IN HELSINKI

Nach achtzehn Stunden Bahnfahrt erreichten wir Helsinki. Ich war erstaunt, dass man uns privat untergebracht hatte; Morosow und ich schliefen beide bei einem finnischen Kollegen, der uns in sein Haus mit Sauna, mehreren Bädern und Terrassen eingeladen hatte. Den Luxus genoss ich, aber für meinen Fluchtplan war das alles andere als vorteilhaft. Ich war praktisch Tag und Nacht unter Morosows Kontrolle.

Meine Flucht hatte ich für den letzten Kongresstag vorgesehen. Ich durfte niemanden misstrauisch machen und musste meinem Chef das Gefühl vermitteln, dass ich mich in den acht Kongresstagen nicht nur für die Vorträge und Diskussionen, sondern auch für die Sehenswürdigkeiten Helsinkis interessierte. Nur so war es möglich, die entscheidenden Stunden meiner Flucht vorzubereiten. Denn am 23. Juni 1977 musste ich mich von der sowjetischen Delegation entfernen können, ohne dass Morosow gleich Verdacht schöpfte und die Polizei informierte. Was ich brauchte, waren drei Stunden Vorsprung.

HAFENKNEIPE - BACHKANTATE

Deshalb setzte ich mich schon gleich am ersten Kongresstag für drei Stunden ab. Ich schlenderte durch die Stadt, trank in einer Hafenkneipe zwei Bier und ging in eine katholische Kirche. Sie war völlig leer. Ein Organist spielte eine Bach-Kantate. Pünktlich, wie ich es angekündigt hatte, meldete ich mich bei Morosow zurück.

Der Kongress selbst lief vor meinen Augen ab wie ein Film. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit Schweizer und österreichischen Kollegen über die Zuwachsraten bei Selbstmorden in Europa diskutierte und anschließend gar nicht mehr wusste, was ich gesagt habe.

Der Schlusstag sollte der Höhepunkt der internationalen Tagung sein. Die Finnen luden für 20 Uhr zu einem Abschlussbankett ein. Morosow legte großen Wert auf meine Anwesenheit, ich sollte für ihn dolmetschen. Ich versprach es ihm. Es war gegen 17 Uhr, als ich mich von Morosow zu meinem gewohnten Stadtbummel verabschiedete.

FLUCHT NACH SCHWEDEN

Ich nahm mir ein Taxi und fuhr zum Hotel "Intercontinental", wo ich an der Bar den Mann traf, den ich noch nie vorher gesehen hatte, dessen Namen ich nicht wusste und der mich in die Freiheit bringen sollte. Er chauffierte mich zum Hafen, wo die Fähre nach Schweden schon wartete. Einzelheiten meiner Flucht werde ich hier nicht preisgeben. Ich möchte den Fluchtweg nicht verraten, und ich will meine Helfer nicht gefährden.

Vier Jahre hatte ich auf diesen entscheidenden Moment hingearbeitet. Bis zur letzten Sekunde zitterte ich: Klappt es oder klappt es nicht? Muss ich für fünfzehn Jahre ins Arbeitslager nach Sibirien oder kann ich ein neues Leben im Westen beginnen? Denn eines war mir klar, wenn die finnische Polizei mich erwischte, würde sie mich an die Sowjetunion ausliefern. Erst als ich mit meinem Fluchthelfer auf hoher See war, kam ich zur Ruhe.

Es gab keinen Menschen, den ich in der Sowjetunion von meiner Flucht informiert hatte. Galina, meine zweite Frau, von der ich in Moskau getrennt lebte, ahnte nichts. Auch meine Eltern nicht. Sicherlich würde der KGB sie ausfragen. Aber sie haben nichts zu befürchten. Denn schon seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich kaum noch Kontakt zu meiner Mutter und zu meinem Vater.

VON DER UKRAINE BIS USBEKISTAN

Meine Eltern hatten sich früh auseinandergelebt. Seit 1951 waren sie oft Tausende von Kilometern getrennt. Eine unvorsichtige Bemerkung meines Vaters während einer Parteiveranstaltung -"Wie oft sollen wir denn noch den Genossen Stalin loben?" - gab den Ausschlag für die Zerrüttung meiner Familie. Mein Vater, ein Neurologe, wurde gegen seinen Willen als Militärarzt zur Roten Armee verpflichtet. Meine Mutter zog es vor, in Leningrad zu bleiben und dort als Psychotherapeutin zu arbeiten. Ich wäre gern bei meiner Mutter geblieben, aber mein Vater ließ das nicht zu. Er nahm mich mit von einem Dienstort zum anderen, von der Ukraine bis Usbekistan, von der Krim bis zu den Karpaten.

Für mich war es immer ganz selbstverständlich, dass ich Arzt werden wollte wie mein Vater. "In diesem Beruf kannst du noch am meisten tun für die Menschen und hast die größte Chance, dich aus der Politik herauszuhalten", sagte er mir, als ich 1960 mit siebzehn Jahren mein Abitur bestand. Mit Elan stürzte ich mich ins Medizinstudium.

AUSWENDIGLERNEN VON LENIN-SPRÜCHEN


Die Vorlesungen machten mir großen Spaß. Ich konnte nur nicht verstehen, warum ich ein Sechstel meiner Studienzeit mit Dingen zubringen musste, die so gar nichts mit Medizin zu tun haben - den politischen Seminaren. Das Nachbeten von Partei-tags-Beschlüssen, das stupide Auswendiglernen von Leninsprüchen ging mir auf die Nerven. Und frühzeitig widerten mich Kommilitonen an, die ihre mangelnden Fach-kenntnisse durch Übereifer in den politischen Schulungskursen wettzumachen suchten. Aber mit Lenin allein werden sie in den Krankenhäusern nicht weit kommen - dort steht der Patient im Mittelpunkt nicht die Partei. Dachte ich.

Wie naiv ich doch war! Während meines Medizinstudiums hatte ich begonnen, mich besonders für Psychiatrie zu interessieren. Nach dem achten Semester - das war 1965 - meldete ich mich deshalb zu einem fachbezogenen Praktikum. Ein Tag als Hospi-tant im Leningrader Krankenhaus Nr. 3, Abteilung Psychiatrie, zerstörte in mir jede Illusion.

SCHRECKEN DER ZAREN-ZEIT

Das Krankenhaus erinnerte an die Schrecken der Zaren-Zeit, wie ich sie in Büchern kennengelernt hatte. Die psychiatrische Abteilung war in einer baufälligen Baracke untergebracht. Der Boden war morsch und voller Schimmel. Die schrottreife Zentral-heizung funktionierte fast nie. Regen tropfte in die Krankenzimmer. Die Tapete war abgeblättert.

Auf den schmalen Fluren schlichen geisterhaft blasse Figuren umher, aus den Zimmern gellten Schreie. In der Holzbaracke gab es mehr Patienten als Betten. Auf zwei zusammengeschobenen Lagern lagen drei, manchmal vier Kranke. Einige wanden sich vor Qualen, andere, mit Psychopharmaka vollgepumpt, starrten teil-nahmslos an die Decke. Alle trugen verwaschene und ausgefranste Anstaltspyjamas.

Den Einheitsbrei aus Kartoffeln und Steckrüben konnte man nur mit Ekel essen. Das wussten auch die Verwandten der Patienten, die einmal in der Woche kommen und Verpflegung mitbringen durften. Doch was nutzte das schon? Meistens klauten Krankenschwestern die mitgebrachten Eier, Tomaten und Kuchenstücke. Als ich so einen Diebstahl zum ersten Mal sah, schrie ich die Krankenschwester an: "Sie sind wohl verrückt, das können Sie doch nicht machen!"

"Was wollen Sie denn", antwortete sie barsch, "der Alte verreckt doch sowieso!"

SCHLECHTE AUSBILDUNG

Wenn ich diese Abgebrühtheit der Schwestern auch nicht verstanden habe, so stieg ich doch schnell dahinter, woher sie kam: schlechte Ausbildung, miserable Be-zahlung. Die meisten werden nicht länger angelernt als drei Monate, keine verdient mehr als 150 Mark im Monat.

Und warum sollten die Krankenschwestern auch eine höhere Berufsethik haben als meine Kollegen, die Ärzte? Als Praktikant musste ich den Psychiatern der Klinik zwölf Wochen lang über die Schultern schauen, sollte ich von ihnen lernen. Ich sah kranke Alkoholiker mit zittrigen Händen und glasigen Augen, Ärzte, die nicht mehr in der Lage waren, ihre Pflicht zu tun.

Der Stationsarzt, bei dem ich lernen sollte, war bis zwei Uhr mittags nie auffindbar. Erst später erzählten mir Kollegen, dass er seine Nächte regelmäßig durchsoff und morgens seinen Wodka-Rausch im Behandlungszimmer ausschlief. Der Mann war kein Einzelfall. Fast auf jeder Station gab es Ärzte, die schlimme Alkoholiker waren.

ZU TODE GESOFFEN

Aber der schlimmste war der Chefarzt - ein tragischer Fall. Dr. Sergej Trofimowitsch Babanow ist an den Lebensumständen der Sowjetgesellschaft zerbrochen. Jahrelang hatte er einen einsamen Kampf gegen die Bürokratie geführt, hatte versucht, mehr Geld, mehr Medikamente, mehr Betten für sein Hospital herauszuschlagen. Am Ende stand Resignation, die er im Alkohol ertränkte. Später erfuhr ich, dass Sergej
Trofimowitsch an Leberzirrhose gestorben war.

Das Bedürfnis, den Kater am Morgen nach einem Gelage in neuem Wodka zu er-tränken, saufen bis zur Bewusstlosigkeit, das ist eine fatale Erscheinungsform der sowjetischen Gesellschaft. Einer der Gründe dafür: Viele Menschen können den Widerspruch zwischen den euphorischen Versprechungen der Partei und ihrem trostlosen Alltag nicht verkraften.

Ich konnte es auch nicht. Die erste Chance, aus dem System auszubrechen, kam früher als ich es erwartet hatte. Auf einem Studentenfest in Leningrad lernte ich Ende 1961 eine Kommilitonin aus der DDR kennen. Sie hiess Edda Schneider und studierte ebenfalls Medizin. Sie gehörte zu einer Gruppe von hundert Austauschstudenten. Bereits damals sprach ich ganz gut deutsch. Schon in der Schulzeit war Deutsch meine erste Fremdsprache.

"RUSSKIJE SWINJI"

Edda und ich waren ein ungewöhnliches Paar. Denn normalerweise gab es zwischen den sowjetischen und ostdeutschen Studenten kaum Kontakte. Die jungen Deutschen, meist Kinder hoher Parteifunktionäre, bekamen nicht nur ein Stipen-dium aus Moskau, sondern oft von zu Hause auch noch ein üppiges Taschengeld. Von Anfang an isolierten sie sich von uns, schauten auf uns herab und nannten uns Russkije swinji", also russische Schweine. Die Folge waren unkontrollierte Aggressionen, natürlich rächten sich die Leningrader Studenten. Als einige meiner Kommilitonen volltrunken waren, stürmten sie das Studentenheim, wo die Deutschen wohnten, und schlugen sie zusammen. "Ihr seid alle Faschisten", brüllten sie.

DDR-STUDENTEN AUSGEWIESEN

Meine Liebe zu Edda und meine deutschen Sprachkenntnisse sind dem Beauftragten des sowjetischen Geheimdienstes an der Universität nicht verborgen geblieben. Eines Tages sprach mich ein Mann an, den ich vom Sehen kannte, und den ich für einen Verwaltungsbeamten gehalten hatte. Er forderte mich auf, für den KGB detaillierte Berichte über die Lebensgewohnheiten und die politischen Ansichten der DDR-Studenten zusammenzustellen.

Ich sagte zwar zu, die Augen offenzuhalten, lieferte aber keine Zeile. Der KGB muss andere Spitzel gefunden haben, die mehr erzählten : Ende 1961 wurde etwa ein Viertel der DDR-Studenten wegen "politischer Unzuverlässigkeit" aus der Sowjet-union ausgewiesen.

SCHWIEGERMUTTER STASI-CHEFIN

Edda und ich gingen freiwillig; allerdings erst fünf Jahre später. Nachdem wir unsere Staatsexamen - ich mit Auszeichnung - bestanden hatten, heirateten wir in Lenin-grad. Einen Tag nach unserer Hochzeit fuhren wir nach Ostberlin, wo uns meine Schwiegereltern mit einem funkelnagelneuen "Wartburg" abholten und uns nach Schwerin brachten. Das Haus meiner Schwiegereltern in der Richard-Wagner-Straße 36, in dem auch wir wohnen sollten, erinnerte mich an die typischen Funktions-Gettos in der Sowjetunion. Es lag draußen vor der Stadt, kleine Vorgärten lockerten die Einheits-Architektur der Reihenhäuser auf, vor jeder Tür parkte en Auto: Hier wohnten die Hundertprozentigen.

Meine Schwiegermutter leitete die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staats-sicherheit in Schwerin, auch mein Schwiegervater war ein Kaderfunktionär. An unserem ersten gemeinsamen Abend in der DDR sahen wir einen Westsender; ich glaube, es war das Erste Programm. "Schau dir diese Desinformation an", sagte die Schwiegermutter, "wir müssen auf der Hut sein. West-Agenten lauern überall."

VORZEIGE-RUSSE AUS DER "STASI-STRASSE"

Bald merkte ich, wie Schneiders ihr politisches Ansehen in der Stadt mit einem russischen Schwiegersohn aufpolieren wollten - ich was ihr Vorzeige-Russe für Partei und Partys. Das passte mir gar nicht.

Im Städtischen Krankenhaus, wo mir meine Schwiegermutter eine Stelle als Assistenzarzt verschafft hatte, gefiel es mir dagegen sehr gut. Alles war sauber, es gab genügend Medikamente, im Gegensatz zur Leningrader Klinik waren die Ärzte hier bei der Sache. Und die Kollegen redeten mit mir offen und freundschaftlich - bis sie merkten, zu welcher Familie ich gezogen war. Die Richard-Wagner-Straße war für sie keine feine Adresse, sondern schlicht die "Stasi-Straße". Es brauchte Monate, bis ich diese Barriere abbauen konnte und mich mit einigen Kollegen anfreundete.

Recht schnell fiel mir auf, dass auch die Menschen in der DDR genauso ein Doppelleben führen wie die Menschen in der Sowjetunion. Tagsüber redete ich mit meinen Freunden im Krankenhaus über den Lebensstandard der Bundesrepublik und über Fluchtmöglichkeiten in den Westen, abends musste ich mir die Phrasen meiner Schwiegereltern über die "unzerbrechliche deutsch-sowjetische Freund-schaft" anhören. Daran ging meine Ehe kaputt. Denn meine Frau bestand darauf, dass wir mindestens jeden zweiten Abend im Familienkreis verbrachten. Wir ließen uns scheiden.

SCHLUSS IN SCHWERIN

Nach zehn Monaten war für mich Schluss in Schwerin. Ich hatte schon die Koffer gepackt, als ich ein lukratives Angebot von meinen Landsleuten bekam. Der Chef des KGB in Schwerin bot mir eine Stelle als Arzt in Rostock an, wo ich mich einem Agentennetz anschließen sollte. Bei erfolgreicher Arbeit stellte er mir eine KGB-Karriere in Aussicht. Ich lehnte dankend ab und ging nach Leningrad zurück. Dort arbeitete ich wieder im Krankenhaus und absolvierte meine Facharzt-Ausbildung als Psychiater.

Ich steckte in einer Krise. Ich fühlte mich als "Isgoj", als ein Verstoßener, ein Produkt der sowjetischen Gesellschaft zwar, aber als einer, der für diese Gesellschaft immer ein Außenseiter geblieben ist.

UNTERGRUND-THEATER

Dann tat ich etwas, was in der UdSSR normalerweise undenkbar ist: Ich versuchte, einen zweiten Beruf zu erlernen. Ich begann an der Theaterschule in Leningrad Regie zu studieren. Meinen Job im Krankenhaus behielt ich bei. Von meinen Künstlerfreunden bekam ich häufig Tipps, wo Schauspieler nachts in Privat-wohnungen aufführten - manchmal Beckett und Ionesco, manchmal Saltykow-Schtschedrin und Gribojedow, die verfemten russischen Satiriker aus dem 19. Jahrhundert. Ich schrieb Gedichte und versuchte mich an einem Theaterstück mit dem Arbeitstitel "Depressionen".

Aber dann begriff ich, dass das Theater kein Ausweg für mich war. Da waren keine ernst gemeinten politischen Gespräche, keine Ideen, wie man etwas verändern könnte: Die Theaterleute fotografieren die Wirklichkeit nur ab. Abermals stürzte ich mich auf die medizinische Fachliteratur, verbrachte auch die Wochenenden in Bibliotheken und bereitete mich auf eine Hochschullaufbahn vor. An der Universität hoffte ich, noch den größten Freiheitsspielraum zu finden. Damals, 1970, lernte ich auch Galina kennen, eine junge Französisch-Lehrerin aus Moskau. Sie bestärkte mich in meinen Plänen.

KRANKHEITSBILDER FÄLSCHEN

Galina, die bald meine zweite Frau wurde, war dabei, als ich auf der Geburtstagsfeier eines Freundes jenen Oberarzt kennenlernte, der mich bald darauf zum Serbskij-Institut nach Moskau brachte. Damals wusste ich noch nicht, dass die Abteilung 4 dieses Institut nur dafür da ist, gesunde Menschen durch ärztliche Diagnosen zu Wahnsinnigen zu stempeln. Und ich konnte nicht ahnen, dass mich der KGB eines Tages würde zwingen wollen, selbst Krankheitsbilder zu fälschen, und dass gerade ich dazu ausgewählt werden sollte, den Westen über diese Manipulation zu täuschen.