Mittwoch, 1. Februar 1978

Tendenzwende der Foltermethoden


"psychologie heute", Weinheim
1. Februar 1998
von Gustav Keller













"Die Würde des Menschen - Folter in unserer Zeit" ist die in Buchform erweiterte stern-Serie "Folter '77". Es wird ein Überblick geboten über Folter-Staaten, Folter-Institutionen, Folterfälle, Foltermethoden und zuletzt wird der Versuch unter-nommen, die Psyche des Folterers und seine Motivationen zu beleuchten. Im An-schluss an diese Kapitel befindet sich eine Dokumentation über die Folterstaaten verschiedener ideologischer Provenienz, gegliedert nach Gesichtspunkten "Machthaber" und Art der jeweils ausgeübten "Repressionen".

GRÖSSTE VERBREITUNG

Man kann annehmen, dass die Serie und dieses Buch mehr Menschen erreichen wird als alle zum Thema "Folter" im deutschsprachigen Raum bisher verbreiteten Publi-kationen. Die Streubreite und die publikatorische Macht des Massenmediums stern werden dies zuwege bringen. Im Interesse der Menschenrechtsbewegung ist dies von Nutzen. Denn der Kampf um die Würde des Menschen darf nicht allein getragen werden von amnesty international und seinen Mitgliedern. Die ist eine weltweite Kampagne gegen die Folter braucht eine intensive Medien- und Mundpublizistik.

GEHORSAMSDRUCK

In die Positivliste dieser Rezension gehört auch der Kommunikationsmodus: die ständige Begleitung der einzelnen Folterberichte mit visuellem, zumeist dokumen-tarischen Material. Dies ist geeignet, dem Durchschnittsleser das authentisch zu kommunizieren, was er in Worten allein für wenig glaubhaft halten würde, solche Bilder induzieren Hinwendung, Mitleid, Abscheu, Solidarität. Es sind Konkretionen, die den Leser an die primäre Wirklichkeit der "Folter 77" heranführen.

Sie sind das notwendige Pendant zu Milgrams Folterexperimenten, weil sie demonstrieren, wie in der künstlichen Laborsituation verifizierte Folterbereitschaft unter Gehorsamsdruck der Staatsautorität in konkretes und brutales Folterhandeln umschlägt.

PLATZ IN LEHRBÜCHERN

Solche Darstellungen müssten in jenen Psychologiebüchern abgedruckt werden, die oft seitenlang Aggressionstheorien behandeln, die real existierende Aggression aber hinter die Fassade der Abstraktionen verbannen. Ihren Platz sollten sie auch erhalten in Lehrbücher des politischen Unterrichts, um zu verhindern, dass der Begriff "Menschenrechte" nachdem Sprachgebrauch vieler Politiker zum Wortfetischismus degeneriert ist, seine Korrespondenz mit der Realität verliert.

Dass die Folterungen unserer Zeit nicht gelegentliches Regredieren auf archaische Stufen des zwischenmenschlichen Verhaltens sind, haben die Autoren klar zum Ausdruck gebracht. Die objektive und exemplarische Auswahl der Folterstaaten zeigt, wie international und systemübergreifend die Unterdrückung der Menschenrechte praktiziert wird: "Wer eine andere Meinung hat als die Obrigkeit, lebt in Ost und West, Nord und Süd gefährlich" (Seite 14). Man muss konstatieren, dass die Verwirklichung und Garantierung der Grundrechte des Menschen letztlich nicht davon abhängen, ob die Wirtschaftsverfassung des betreffenden Staates sozialistischen oder kapitalistischen Inhalts ist.

FALLBERICHTE

Die Anschaulichkeit dieses Buches ist nicht nur das Ergebnis gekonnter Visualisierung, sondern hängt auch zusammen mit an der Biografie der Folteropfer orientieren Fallberichten. An den zaglreichen Individualfällen kann der Leser leidens nachvollziehen, wie Würde und Integrität der gefolterten Subjekte schrittweise reprimiert und demontiert werden.

Dieses Art des Berichtens ist richtig, solange sie auf die Darstellung der Folteropfer beschränkt bleibt. Falsch ist sie dann, wenn die Folterer Gegenstand der Betrachtung werden. Das Buch fokussiert die Suche nach Beweggründen des Foltern bisweilen zu stark auf Personen wie Pinochet, Amin, Fleury oder Mielke. Hier fällt es dem Leser schwer, zu erkennen, dass der Folterer kein genuiner Sadist ist, sondern Soziali-sationsprodukt autoritärer Ideologen und Institutionen.

PSYCHISCHE FOLTER

Was in diesem Buch ebenfalls zu kurz kommt, ist der detaillierte Hinweis auf die Tendenzwende der Foltermethoden. Obwohl die Einzelfälle des öfteren auf die Anwendung der Psychofolter hindeuten, enthält die Aufreihung der gängigsten Foltermethoden der siebziger Jahre (Seite 257 ff.) keine einzige rein psychische Foltertechnik. Und dies, obwohl auf Seite 256 geschrieben steht: "Die Perfektionierung tiefenpsychologischer Folter ist heute schon eine eigenständige Wissenschaft."

Der letzte Kritikpunkt bezieht sich auf die mangelnde Beschreibung der Langzeiteffekte physischer und psychischer Folterungen. Hierzu hätte man aus der Fülle psychopathologischer Langzeitstudien eindrucksvolle Beispiele aussuchen können. Das Zitat von Jean Amery: "Wer der Folter erlag, kann in dieser Welt nicht mehr heimisch werden" wäre somit fundiert worden.

BUCH MIT WIRKUNG

Alles in allem, das Buch wird seine Wirkung zeitigen, indem es dem Leser beibringt, was Neo-Inquisition ist und wie sie mit der Würde des Menschen umspringt. Zu bezweifeln ist, ob seine Wirkung so weit geht, dass der Durchschnittsleser zum Beispiel einen Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien als Protest gegen die dort praktizierenden Menschenrechtsverletzungen billigen würde.



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