Donnerstag, 30. September 1976

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Der alte Mann - Wahlkampf und die alte Bundesrepublik






















Kantig, authentisch, trotzig, glaubwürdig - Herbert Wehner (*1906 + 1990) - SPD-Urge-stein; Polit-Entertainer, Überzeugungstäter der Nachkriegs-Ära


stern, Hamburg
vom 30. September 1976
von Reimar Oltmanns

Tochter und Thermosflasche sind immer dabei. Wenn Herbert Wehner im grauen Dienstmercedes (BN-WZ-108) auf Wahlkampfreise geht, sitzt Tochter Greta neben ihm. Thermosflasche und Medikamente, sorg-fältig in der grasgrünen Leinentasche verpackt, stehen griffbereit hinterm Fahrersitz. Beide lassen sich von ihrem Chauffeur mit 90 Stunden-Kilometern über die Autobahn kutschieren - vom niederbayerischen Straubing ins nordrhein-westfälische Iserlohn.

Die Zufahrtstraßen zur städtischen Parkhalle sind verstopft. Menschentrauben quälen sich mühsam durch den Eingang. "Der Wehner ist 'ne Reise wert", juxen Jugendliche aus Dortmund. Eine ältere Dame mit Krokotäschen und Sonntagsbluse meint: "Die Sozis kriegen meine Stimme nicht. Aber den Strauß der SPD muss ich gesehen haben." Bei den örtlichen Partei-funktionären auf dem Podium herrscht Nervosität. Für 20 Uhr hat sich der SPD-Fraktionschef angesagt. Doch "Onkel Herbert", wie sie respektvoll nennen, ist immer noch nicht da.

"SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD"

Um die Stimmung der 3.000 Zuhörer anzuheizen, wird eine neue Musikkassette ins Tonbandgerät gelegt. Aus den Lautsprechern tönt "Spiel mir das Lied vom Tod". Was die aufgeregten Parteifunktionäre nicht wissen - Herbert Wehner sitzt im Nebenraum vor dem Fern-seher: Tagesschau-Köpke (ARD-Nachrichtensprecher *1922+1991) verliest die neuesten Meldungen.

Aufmacher-Meldung ist auch an diesem Abend der Lockheed-Skandal. Die Schmiergeldaffäre des amerikanischen Rüstungskonzerns ist für Wehner will-kommener Anlass, um sich an Franz Josef Strauß (*1915+1988) zu reiben. "Einem bedeutenden Politiker haben sie in New York mal die Brieftasche geklaut", klärt er die Iserlohner auf. "Wäre mir das passiert, hätte am nächsten Tag mit vier dicken Balken quer-gedruckt in der Zeitung gestanden: 'Wehner von drei Nutten ausgeraubt.' Unterzeile: 'Politische Affären nicht ausge-schlossen'."

... MIT ÄTZENDER SCHÄRFE UND GEBRÜLL

Die Zuhörer in der ersten Reihe, überzeugte Genossen, jubeln. "Das ist der Herbert, wie wir ihn kennen", murmelt einer. "Der muss noch härter draufschlagen", fordert ein anderer. Wehner bleibt seinem Publikum nichts schuldig, Mit ätzender Schärfe und donnerndem Gebrüll beißt er nach allen Seiten.

Wenn der SPD-Fraktionschef (1969-1983) CDU-Wahl-anzeigen verliest ("sozialistische Misswirtschaft") , "Die Feinde des Staates werden immer frecher"), hält es ihn kaum noch am Pult: "Franz Josef, dieser Strauß", "der Ludwigshafener Kohl", "Kohl, dieser pomadige Obermufti", "Büchsenspanner Kohl", "Dregger, dieser einsilbige Vorturner", "Schleyer, das doppelbödige Doppelkinn mit dem Ypsilon in der Mitte". Pfiffe werden laut. Die Junge Union, die ihre Anhänger in der Parkhalle zusammengetrommelt hat, protestiert: "Kohl ist der beste Kanzler!" Wehner: "Dann kriege ich nur noch Kohl-Falten. Sie werden schon sehen, wie schön es da ist." Zwei Genossen schauen belustigend um sich. Der eine zum anderen:"Und schlägt unser Arsch auch Falten, wir bleiben die Alten."

ZINNSOLDATEN UND MAULHELDEN

Dann kommt Wehner auf die Sonthofener Rede des Franz Josef Strauß. Beim Zitat, wonach die wirtschaft-liche Lage "wesentlich tiefer sinken muss, bis wir Aussicht haben, mit unseren Vorstellungen gehört zu werden", krakeelt die Junge Union "Bravo". Wütend reißt Wehner das Mikrophon beiseite. "Diese Zinn-soldaten, diese Reißbrettstrategen, diese Maulhelden."

GLIEDAB-JAEGER, LÜMMEL, PIMPF

Herbert Wehner wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Ordner rückt das Mikrophon wieder zurecht. Als nächster bekommt Richard Jaeger (*1913+1998), CSU-Vizepräsident des Bundestages, sein Fett ab. Wehner erinnert daran, dass es Jaeger war, der 1969 in der katholischen "Deutschen Tagespost" geschrieben hat: "Wenn Brandt neuer Bundeskanzler wird, muss man sich fragen, ob wir nicht über Nacht die Rote Armee hier haben." "Kopfab-Jaeger", empört sich das Publikum. "Nein", sagt Wehner ruhig, "der heißt 'Gliedab-Jaeger'."

Die Junge Union hält es nicht mehr auf den wackeligen Stühlen, "Pfui", tönt es im Chor. Der SPD-Genosse bleibt gelassen: "Aber meine Herren, liebe Knaben und Mäd-chen! Da sagen Sie doch nicht 'Pfui'. Wir sind hier nicht im Damenpensionat." Für den alten Kämpen ist die Provokation des Gegners bewährtes Mittel, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren.

ALLEINUNTERHALTER DER WUTAUSBRÜCHE

In Iserlohn, wo sich die Kohl-Truppe auf der linken Saalseite platziert hat, hämmert "Onkel Herbert" pausenlos auf die Jung-Konservativen ein. "Sie Lümmel, Sie Pimpf! Ich werde Sie schon ruhig kriegen. Mich alten Mann können Sie nicht verkohlen!" Schimpf-tiraden wollen kein Ende nehmen. Der Ortsvereins-vorsitzende schiebt dem SPD-Kämpen einen Zettel zu, er solle sich nicht in Rage bringen lassen.

Plötzlich, als sei nichts gewesen, wird das Raubein Wehner behutsam. "Ich bin ein alter Mann, der hierher gekommen ist, um Ihnen meine Erfahrungen mitzu-teilen", sagt er fast entschuldigend zu den Iserlohnern. Dann beschwört er die Vergangen-heit. Aus einem vergilbten Bändchen aus dem Jahre 1925 ("Redner und Revolution") zitiert er den sozialistischen Altvater Ferdinand Lassalle: "Die Geschichte ist ein Kampf der Natur" ( Ferdinand Lassalle *1825+1864; u.a. Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung).

MÄNNER - NACHKRIEGSGESCHICHTE

Über den 1972 verstorbenen IG-Metall-Chef Otto Brenner (*1907+1972; "Ein kritischer Freund"), den früheren Bremer Bürgermeister Wilhem Kaisen (*1887+1979; "Ein Vorkämpfer der Sozialdemokratie") kommt er fast reumütig zu jenen Unions-Abgeordneten, mit denen er sich in den fünfziger und sechziger Jahren manch hitziges Rededuell geliefert hatte. Gern zitiert er den damaligen CDU-Fraktionschef Heinrich Krone (*1895+1989), erinnert sich, wie er mit dem früheren Außenminister von Brentano (*1904+1964) nach dem Bau der Berliner Mauer in einem Frankfurter Hotel am Radio dem DDR-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler (*1918+2001)zuhörte. Und wie Adenauer und Lübke der SPD 1963 Verdienste um die Demokratie und den Wiederbau bescheinigten.

Wahlkampf 1976 - für Herbert Wehner ein Exkurs in die jüngste Geschichte, für das Publikum ein Vorgriff auf seine Memoiren. "17 Jahre", sagt er, "bin ich Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses gewesen und drei Jahre Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Ich kenne alles sehr genau. Ohne die SPD hätten wir heute keinen freien Teil Berlins."

ALLE SCHLACHTEN GESCHLAGEN

Es ist die Bilanz eines Mannes, der alle Schlachten geschlagen hat. Der Kommunist war, der als solcher immer noch verteufelt wird; der Narben davontrug, die manch-mal noch schmerzen, wenn der wütende Demo-krat Wehner angegriffen wird von Demokraten, denen dieser Begriff allzu glatt über die Lippen geht. Bei Wehners Rückblick kommen betagten SPD-Anhängern die Tränen, und Genossinnen, die vorhin noch entrüstet waren, nicken auf einmal stumm - teilnahmsvoll.

Die Namen Willy Brandt und Helmut Schmidt erwähnt Wehner erst zur Halbzeit seiner zweistündigen Rede. In den vorausgegangenen Passagen hießen sie nur der "Vorsitzende" und der "Bundeskanzler". Wehner wird deutlich: "Auf Helmut Schmidt ist Verlass." Der SPD-Slogan: "Weiterarbeiten am Modell Deutschland" ist allerdings in Wehners Repertoire nicht zu finden. Statt dessen benutzt er den SPD-Wahlspruch von 1972; "Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen."

Es ist 22.30 Uhr. Stieftochter Greta holt die Thermoskanne und Medizin aus der Tasche. Für Vater Wehner das Signal, Schluss zu machen. Eine halbe Stunde später sind die beiden wieder auf der Autobahn, ohne Journalistenkolonne, ohne Polizei-Eskorte.

Schon 60 Veranstaltungen, 12o Stunden Wahlreden. Es dürfte Herbert Wehners letzte Wahlschlacht sein.


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Nachtrag. - Nach dem Tod seiner Frau Charlotte Burmester im Jahre 1979 heiratete Herbert Wehner vier Jahre später seine Stieftochter Greta Burmester, um ihr den Zugang zur Witwenrente zu ermöglichen. Greta Burmester hatte schon seit Jahrzehnten ihrem Stiefvater als Sekretärin, Betreuerin, Chauffeurin, Haushälterin und Köchin gedient. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Wehners Tod zog Greta Wehner nach Dresden und gründete im Mai 2003 die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. Herbert Wehner fand im Jahre 1990 seine letzte Ruhe neben Charlotte Burmester auf dem Burgfriedhof in Bonn-Bad-Godesberg.