Donnerstag, 10. Juni 1976

Die häßlichen Deutschen ? Aufrüstung gegen die Freiheit






































Die
Kämpfer für Recht und Ordnung bringen den bisher freiesten deutschen Staat in Gefahr. Politiker wollen schärferes Strafrecht, Radikalen-Erlass und Todesschuss für die Polizei. Im Namen der Freiheit schränken Parteien und deutsche Richter Grundrechte des Bürgers immer mehr ein. Was der Sicherheit hinzugefügt wird, geht der Freiheit ab. - Grundlagen für einen autoritären Überwachungsstaat und seinen Handlangern sind längst gelegt. - Spiel mit dem Feuer. "Liberty dies by inches - Freiheit stirbt zentimeterweise." - Werden wir wieder zu häßlichen Deutschen?

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Ein Bericht
von Peter Koch
und Reimar Oltmanns
stern, Hamburg
10. Juni 1976

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Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Katholiken holten,
habe ich nicht protestiert;

ich war ja kein Katholik.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte."

Martin Niemöller (*1892+1984), ehemaliger
Kirchenpräsident von Hessen und Nassau, in
von 1938 bis 1945



Das geschieht in diesen Tagen:

Das Belgische Fernsehen
vergleicht die Bundesrepublik mit totalitären Staaten wie Chile, Spanien, dem Iran und zieht Parallelen zwischen der deutschen Wirklichkeit 1976 und dem Beginn der Hitler-Zeit im Jahre 1933.

Die
CDU wirbt: "Freiheit statt Sozialismus."

Der
französische Sozialistenführer François Mitterrand (*1916+1996) gibt den deutschen Genossen den "freundschaftlichen, aber ernsten Rat", den Radikalen-Erlass, den er ein Berufsverbot nennt, schleunigst abzuschaffen.

Die SPD wirbt: "Freiheit durch sozialen Fortschritt."

Die konservative Londoner Times schreibt: "Gefährlicher Rechtsruck in Deutschland." Die Schweizer Tribüne de Genève fragt, "ob der Staat, der auf den Ruinen des Nazismus errichtet wurde, grundlegende demokratische Prinzipien aufgeben wird?"

Die FDP wirbt: "Freiheit, Fortschritt, Leistung."

NIE ZUVOR SOVIEL FREIHEIT

Nie zuvor wurde in Deutschland soviel von Freiheit geredet wie heutzutage. SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1972-1984): "Wann jemals vorher auf deutschem Boden ist so viel persönliche Freiheit und so viel Toleranz verwirklicht gewesen?"

Hessens CDU-Chef Alfred Dregger (*1920+2002): "Unser Land ist eines der freiheitlichsten der Welt."

Wer hat nun recht, die Warner im Ausland - wohlbemerkt: im Westen, nicht im Osten - oder die Freiheits-Beschwörer im Inland ? Auf den ersten Blick scheint die Antwort festzustehen. Das Grundgesetz verbürgt mehr Freiheitsrechte als je eine deutsche Verfassung zuvor. Doch hält die Praxis, was die Theorie verspricht?

So sieht die bundesdeutsche Wirklichkeit aus:

In Ellwangen fordert ein Landgerichtspräsident, einst als Jude selbst verfolgt, dazu auf, dem kritischen Nachwuchs "mit seinem Geschichtsbewusstsein, das dem von Fellachen entspricht", den Weg in die Justiz zu verstellen.

EINER DER LIBERALSTEN STAATEN

Beim Oberschulamt Freiburg kann eine junge Lehramts-Bewerberin gegen sie vorgebrachtes Material des Verfassungsschutzes erst durch den Nachweis entkräften, dass ihre frühere Autorenschaft bei der Schülerzeitung Roter Turm politisch unverdächtig sei: Der Titel des Blattes habe sich auf einen rot angestrichenen Gebäudeteil ihres Gymnasiums bezogen.

In Hessen müht sich die Lehrerin Silvia Gingold, deren Eltern 1933 als Juden aus Deutschland fliehen mussten, noch immer vergebens um Übernahme in das Beamtenverhältnis, weil sie Mitglied der nicht verbotenen DKP ist. Ihr Vater Peter Philipp Gingold (*1916+2006) war ein kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus.

"GEISTIGE BOMBENWERFER"

Zur gleichen Zeit wird bei einem SS-Treffen in einem Sonthofener Soldatenheim, 31 Jahre nach Hitler, ein Ritterkreuz verliehen; bezeichnet das Verfassungsschutzamt in Hannover amnesty international, die Organisation zur Betreuung politischer Gefangener, im Gestapo-Jargon als "staatsabträglich"; fordert in Wiesbaden der CDU-Landtagsageordnete Manfred Kanther (Bundesinnenminister 1993-1998) die Bestrafung von Lehrern, die das Buch Die Verrohung des Franz Blum auf den Unterrichtsplan gesetzt und über unmenschlichen Strafvollzug diskutiert hatten; kann das Deutschland-Magazin des ultra-rechten Publizisten Kurt Ziesel (*1911+2001) ungestraft ein Titelblatt mit Böll, Grass, Rudolf Augstein sowie den Professoren Mitscherlich, Gollwitzer, Brückner und Seifert mit dem Untertitel: "Die geistigen Bombenwerfer" drucken.

DOMINO-SPIEL

So gerät die westdeutsche Szene zum Tribunal gegen die Freiheit - unter den Augen der Öffentlichkeit, doch von ihr nahezu unbemerkt. Sie registriert Übergriffe allenfalls als vereinzelte Betriebsunfälle - ihr fehlt der Überblick, um das Domino-Spiel zu erkennen, das aus einem Verfassungsstaat mit freiheitlicher Grundordnung eine autoritäre Staatsverfassung macht. Die einzelnen Dominosteine sind

0 Gesetze, die der Polizei und dem Verfassungsschutz mehr Macht als je zuvor geben sowie den Schutz des Bürgers bei Strafverfahren gegen Justizwillkür abbauen;

0 der Radikalen-Erlass und die damit verbundene Gesinnungsschnüffelei bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst;

0 die Rechtssprechung von Bundesgerichtshof und Verfassungsgericht, die seit Jahren unter der Parole der "streitbaren Demokratie" die Staatsgewalt auf Kosten der Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers ausdehnen.

DEMOKRATIE WAGEN

Dabei schien vor nicht einmal zehn Jahren die Bundesrepublik auf dem Weg, einer der liberalsten westlichen Staaten zu werden. Hand in Hand gegen gesellschaftlichen Erneuerungswillen (Willy Brandt [*1913+1992]: "Wir wollen mehr Demokratie wagen") und von rechtsstaatlicher Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein geprägte Reformen im Justizbereich.

Mit der Entschärfung des Demonstrationsrechts - der Landfriedensbruch-Paragraf wurde auf diejenigen beschränkt, die sich an Gewalttätigkeiten beteiligten, während bis dahin auch bloße Mitläufer strafbar waren - bewahrte der Staat Tausende vor dem Kadi: junge Menschen, die Mitte der 60er Jahre an den Studenten-Demonstrationen gegen das verknöcherte Establishment und alteingefahrene Traditionen an den Hochschulen ("Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren") teilgenommen hatten.

7,65 MILLIMETER-PISTOLEN

Das Haftrecht, das zu oft Menschen unnötig hinter Gitter brachte, wurde entschärft. Fortan genügte nicht mehr der bloße Verdacht auf Verdunkelung oder Flucht. Jetzt musste der Verdacht durch konkrete Tatsachen erhärtet werden.

Selbst an äußeren Merkmalen war abzulesen, dass der Staat nicht mehr Macht demonstrieren wollte, als unbedingt nötig war. Polizisten verbargen ihre bislang im Halfter offen getragenen 7,65-Millimeter-Pistolen unterm Dienstjackett.

Kennzeichnend für die politische Aufgeschlossenheit dieser Jahre war die Bereitschaft der Parteien, die zuerst von der Jugend artikulierten Forderungen in ihre Programme aufzunehmen. Nicht nur SPD und FDP, selbst die CDU und sogar die CSU waren gezwungen. über Bildungspolitik, Vermögensverteilung und Bodenrecht neu nachzudenken.

REFORMEN SUSPEKT

Doch schneller und heftiger als erwartet kam der Umschwung. Den Konservativen der Republik war die Reformbewegung schon immer suspekt. (Rainer Barzel [*1924+2006]: "Dieses Land ist nicht in Ordnung"). Sie hatten die Kleine Strafrechtsreform gleich als "Verbrecherschutzgesetz" verächtlich gemacht. Franz-Josef Strauß (*1915+1988) verdächtigte SPD-Chef Willy Brandt (*1913+1992) gar, das Demonstrationsrecht nur deshalb reformiert zu haben, um seinen bei einer Kundgebung in Berlin vorübergehend festgenommenen Sohn Peter vor dem Gefängnis zu bewahren.

Eine Reihe widriger äußerer Umstände begünstigte das Klima für die Gegenreformation: Ölkrise, Wirtschaftstief, ein Millionenheer von Arbeitslosen, Jugendliche ohne Job und Studienplatz weckten Angst und Unsicherheit. Der "allgemeine Widerwille, der einen liberalen Rechtsstaat zu begleiten pflegt" (Bundespräsident Gustav Heinemann * 1899+1976) verband sich mit einer offiziell mitgetragenen Reform-Resignation (Helmut Schmidt, Bundeskanzler 1974-1982: "Dies ist die Zeit der Kontinuität und Konzentration").

UNHEILIGE ALLIANZEN

Wertvoller Helfer der Reaktion aber waren die Terroristen. Die Bombenanschläge auf Springer-Redaktionen und US-Soldaten, Polizistenmord, Bankraub, der Mord an dem Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann (*1910+1974), das Kidnapping des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz (*1922+1987) vom Juni 1975, der Anschlag auf die Botschaft in Stockholm und die Attentate in Frankfurt und Hamburg verstärken die Sehnsucht nach einem allmächtigen Staat, von dem sich der verunsicherte Bürger Schutz erhofft.

Die unheilige Allianz zwischen linker Anarcho-Szene und rechtem Konservativismus erschreckt besonnene Beobachter. SPD-MdB Dieter Lattmann (1972-1980), lange Jahre Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller: "Dass das Pendel einmal zurückschlagen würde, war zu erwarten. Dass es ein solch Keulenschlag ist, macht mir Angst."

KEULENGRIFF

Mit am Keulengriff: die in Bonn regierenden Sozialdemokraten und die bislang auf ihr liberales Rechtsbewusstsein pochenden Freidemokraten. Die SPD, dank ihrer geschichtlichen Erfahrungen - Sozialistengesetz unter Bismarck* und Verfolgung unter Hitler -
( Artikel 1: "Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.") - eigentlich dazu aufgerufen, der Exekutive keine Übermacht einzuräumen, stand wieder einmal unter Bekenntnisdruck.

KAISERREICH

Ähnlich wie während des Ersten Weltkrieges im Kaiserreich, als die Sozialdemokraten die Kriegskredite bewilligten (Fraktionsführer Eduard David 1915: "In der Stunde der Not zeigt sich, dass Deutschlands ärmster Sohn auch sein getreuester ist"), wollten die ständig von der CDU/CSU diffamierten SPD-Führer in der Bundesrepublik zeigen, dass auch sie "anständige Deutsche" sind. Sie wollten beweisen, dass sie trotz ihrer Ostpolitik keine "Aufweichung" im Inneren der Bundesrepublik duldeten. Und sie wollten sich gegen Franz-Josef Strauß behaupten, der seine konservative Truppe mit der Propaganda-Parole mobil machte: Die SPD und FDP überlassen diesen Staat Kriminellen und politischen Gangstern."

POLIT-GANGSTER UNTER KÄSEGLOCKE

Dieses Rezept wurde von den Rechten begierig aufgegriffen. Alfred Dregger (*1920+2002): "Die Politgangster gedeihen unter einer Käseglocke regierungsamtlicher Verniedlichung, staatlich geduldeter Schmähung unseres Systems an den Schulen und Hochschulen, nachlassender Abwehrbereitschaft demokratischer Parteien gegen linksextreme Einflüsse." Helmut Kohl: "Wir brauchen eine starke Regierung, die Mut hat und handelt." CSU-MdB Carl-Dieter Spranger : "Die Überbetonung staatlicher Toleranz und falsch verstandene Liberalisierung haben Gewalt, Kriminalität, Brutalität und Terrorismus gefördert." Generalbundesanwalt Siegfried Buback (*1920+1977): "Es ist kein Wunder, dass der Terrorismus begann, als die politische Führung den Einfluss des Staates erheblich einschränkte."

52 GESETZE ZUR "INNEREN SICHERHEIT"

Unter diesem Trommelfeuer gedieh das Thema Sicherheitspolitik zum Schwerpunkt sozialdemokratischer Regierungsarbeit. Seit Herbst 1969 wurden 52 Gesetze zur "Inneren Sicherheit" beschlossen. Vor soviel teutonischem Perfektionismus sorgte sich der Sorbonne-Professor Alfred Grosser (1955-1992), Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: "Es scheint mir, dass in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Grundrechte gegen den Staat." Sein Landsmann François Mitterrand (*1916+1996) gründete sogar schon ein "Komitee zur Verteidigung der bürgerlichen und beruflichen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland" - ein überzogener Schritt, auf den alle Bonner Parteien beleidigt reagierten und der eine ernsthafte Diskussion des Rechtsrucks in Deutschland nur erschwert.

VERFASSUNGSFEINDE

Den entscheidenden Schritt hatte noch Willy Brandt getan. Gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder entwarf der erste SPD-Kanzler im Januar 1972 den Radikalen-Erlass. Bald war aus der Absicht, Verfassungsfeinde den Zugang zum öffentlichen Dienst zu versperren, eine totale Gesinnungsschnüffelei geworden mit dem Zweck, politisch Andersdenkende einzuschüchtern.

HEXENJAGD

Ausgerechnet die Generation, die in der NS-Diktatur groß geworden war, spionierte die erste unbelastete Nachkriegsgeneration aus. Die Bilanz bundesdeutscher Hexenjagd: 500.000 Bewerber wurden bis heute durch die Verfassungsschutzämter überprüft, 450 abgelehnt.

Leidtragende sind nicht nur die Abgelehnten, sondern auch diejenigen, denen nach einer Überprüfung bescheinigt wird: keine Bedenken. Denn die Tatsache, dass eine Überprüfung stattgefunden hat, läuft fortan in den Personalakten mit. Der Staatsrechts-Professor Hans-Peter Schneider (Hannover) über die Folgen: "Bei jeder Beförderung wird dann gesagt: 'Da war doch mal was. Lieber den nicht, das ist uns zu riskant.' "

ANONYME BESCHULDIGUNGEN

Die Auflage, Verfahren nur auf "gerichtsverwertbare Tatsachen" und nicht auf anonyme Beschuldigungen zu stützen, wird dabei mit einem Trick unterlaufen. Anonyme Beschuldigungen werden dem Befragten vorgehalten, und wenn jener - in Unkenntnis ihrer Herkunft und in der Ausforschungsabsicht - antwortet: "Ja, das trifft zu", sind sie automatisch "gerichtsverwertbar". So munitionierte der Berliner SPD-Innensenator Kurt Neubauer (1967-1977) seinen niedersächsischen Amtskollegen Rötger Groß (*1933+2004) für das Verfahren gegen den renommierten Politik-Wissenschaftler Wolf-Dieter Narr (Otto-Suhr-Institut 1971-2002) mit einem Schreiben voller Denunziationen, hinter denen der Vermerk stand: "nicht direkt verwertbar". Narr konnte die Vorwürfe widerlegen, berufen wurde er trotzdem nicht.

Weil Verwaltungsvorschriften nicht allgemeingültiges Recht sind, sondern behördeninterne Interpretationen des bestehenden Beamtenrechts, bestimmt die Bürokratie, von niemanden nachkontrollierbar, allein darüber, wer wann Verfassungsfeind ist. Politikberater Professor Hans-Peter Schneider: "Dies führt dazu, dass die Exekutive auch Parteien, die nicht verboten sind und gegen die nicht einmal ein Verbotsantrag vorliegt, als verfassungsfeindlich bezeichnen kann."

UNPOLITISCHE THEMEN

Schon längst ist das amtliche Aussieben zur Berufsverbotspraktik ausgeweitet worden. Das spektakulärste Beispiel ist der Nürnberger Oberlokomotivführer Rudi Röder, den die Bundesbahn wegen seiner Mitgliedschaft in der DKP entlassen will. Der 29jährige Röder ("Was hat denn Lokfahren mit der Politik zu tun?") wurde ungewollt zum Fernsehstar im westlichen Ausland. Seither gehört das deutsche Wort "Berufsverbot" genauso wie "Kindergarten" oder "Ostpolitik" zum internationalen Sprachgebrauch. Auch der Bundespräsident Walter Scheel (1974-1979) vermerkte mit Sorge, dass der Radikalen-Erlass zu "rigoros gehandhabt" wird.

Die Angst vor dem Berufsverbot macht die jungen Studenten an den Universitäten zu angepassten Duckmäusern. Aus Sorge um den künftigen Arbeitsplatz bitten sie bei Seminararbeiten um unpolitische Themen. Der Gießener Politologe Professor Heinz Josef Varein berichtet, dass auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten vervielfältigte Referate ohne Namen der Verfasser verteilt wurden - ausgerechnet bei dem Thema "Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegen die Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts". Das neue Hochschulrecht gibt zudem den Rektoren die Möglichkeit, Studenten, die durch Demonstrationen oder Sit-ins den Lehrablauf auf dem Campus oder im Hörsaal stören, disziplinarisch zu bestrafen: vom Hausverbot bis zum Rausschmiss aus der Uni.

UNBEQUEME VERTEIDIGER

Die westdeutsche Restauration schlug sich vor allem in der Verschärfung des erst vor wenigen Jahren liberalisierten Strafrechts und Strafverfahrensrechts nieder:

o) Seit dem 1. Januar 1975 kann das Gericht einen Verteidiger vom Verfahren ausschließen, wenn er unter dem Verdacht steht, selbst an der Tat des Beschuldigten beteiligt gewesen zu sein oder den Kontakt mit dem Beschuldigten zu Straftaten bzw. zur "Gefährdung der Anstaltssicherheit" zu missbrauchen. Ein Beispiel aus der Praxis: Der vom Baader-Meinhof-Verfahren ausgeschlossene Anwalt Christian Ströbele wurde ein Jahr später vom Bundesgerichtshof zum Pflichtverteidiger einer Angehörigen der Baader-Meinhof-Gruppe (RAF = Rote Armee Fraktion 1970-1998) bestellt. Offensichtlich hatten sich die Einwände gegen ihn als nicht stichhaltig erwiesen. Dazu der Bonner Strafrechtler Professor Gerald Grünwald (*1929+2009): "Die Gefahr ist beträchtlich, dass man sich unbequeme Verteidiger von Halse schafft."

o) Das Gericht darf seitdem auch in Abwesenheit der Angeklagten verhandeln allerdings nur bei Störungen durch Tumulte oder bei bewusst herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit. Die Praxis: Im Baader-Meinhof-Verfahren wurden in Hungerstreik getretene Angeklagte ausgeschlossen; der Bundesgerichtshof aber stellte später fest, die Verhandlungsunfähigkeit sei primär auf die Haftbedingungen und nicht auf den Hungerstreik zurückzuführen.

o) Der Schriftverkehr zwischen Verteidigern und Beschuldigten darf unter bestimmeten Voraussetzungeen überwacht werden. Eine Korrespondenz über Verteidigungsmöglichkeit ist damit undenkbar. Selbst der stockkonservative Anwaltsverein protestierte gegen diesen Eingriff in elementare Rechtsstaatsprinzipien.

POLITISCHE STRAFTÄTER

0) Wer verdächtigt wird, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder sie zu unterstützen, kann künftig ohne weiteres in Haft behalten werden. Damit entfallen die sonst notwendigen Kriterien: Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr.

o) Auch die Anzeigepflicht wurde ausgeweitet. Die Polizeibehörde muss Meldung machen, wer irgendwo mitbekommt, dass Sympathie- oder Solidaritätserklärungen für Terroristen abgegeben werden. Unterlässt er die Meldung, macht er sich strafbar. Professor Gerald Grünwald: "Ein Staat, der seine Bürger derart in die Pflicht nimmt und ihr bloßes Schweigen bestraft, schafft sich seine politischen Straftäter mutwillig selbst."

GEWALT UND GEWALTANWENDUNG

0)
Nach dem neuen Strafgesetzbuchparagrafen 88a ist künftig die "verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten" mit Gefängnis bedroht. Schon das Zitieren aus der Denkschrift der Evangelischen Kirche "Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft" (Mitverfasser: der CDU-Staatssekretär Roman Herzog, Bundespräsident 1994-1999) könnte jemanden, der verfassungsfeindlicher Gesinnung verdächtig ist , ins Gefängnis bringen. Zum Beispiel der Satz. "Auch aus dem Blickwinkel christlicher Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar sein."

Dabei ist die ursprüngliche Regierungsvorlage noch durch die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag entschärft worden. Sonst wäre nach dem "Notstandsgesetz für Intellektuelle" der Justizbüttel schon losmarschiert, wenn ein Mann wie der SPD-Programmatiker Peter von Oertzen (*1924+2008) äußert, er werde den chilenischen Chef-Faschisten Augusto Pinochet (*1915+2006) "eine Bombe unter den Hintern setzen".

VERLORENE EHRE

Gewaltbefürwortung gegen ausländische Staaten wurde als Delikt gestrichen. Auch braucht Heinrich Böll (*1917+1985) nicht mehr zu fürchten, dass seine Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" - Untertitel: "Wie Gewalt entstehen kann und wohin sie führen kann" (1974) - auf dem Richtertisch landet. Die Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens, der Geschichte, der Kunst oder der Wissenschaft wurde dem Zugriff des Staatsanwalts entzogen.

Die Gerichte fassen den Begriff Gewalt ohnehin sehr viel weiter, als es sich der juristische Laie vorstellt. Gewalt ist zum Beispiel nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs auch der passive Widerstand - etwa das Niedersetzen auf Straßenbahnschienen bei einer Demonstration für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr.

AUTORITÄRER VERFASSUNGSSTAAT

Parallel zur juristischen Aufrüstung in Bonn lieferten auch die Bundesländer den Verfolgungsbehörden neue und schärfere Instrumentarien. Die Länder-Innenminister einigten sich auf ein Gesetz für ihre Verfassungsschützer, das nach Ansicht von Polit-Berater Professor Hans-Peter Schneider "Meilensteine auf dem Weg zum autoritären Verfassungsstaat" errichtet. Im einzelnen sieht das Gesetz vor:

0) Die staatlichen Spitzel werden ermächtigt, "nachrichten-dienstliche Mittel" anzuwenden (Paragraf 4). Dadurch zum Gebrauch von Richtmikrofonen und Minispionen ermuntert, können die Verfassungsschützer alle Paragrafen des Strafgesetzbuches und der Verfassung unterlaufen, die die Intimssphäre der gegen geheime Abhörpraktiken schützen sollen.

GESTAPO-RECHT

0)
Sämtliche der Aufsicht eines Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts - die Gemeinden, die Landkreise, die Gerichte, aber auch die Kirchen - haben "der Verfassungsschuzbehörde alle Tatsachen und Unterlagen über verfassungsfeindliche Bestrebungen unaufgefordert mitzuteilen" (Paragraf 5). Dagegen war das Gestapo-Recht von 1933 noch vergleichsweise liberal. Damals waren offiziell nur die Kreispolizeiämter zur Meldung verpflichtet.

0) Der Verfassungsschutz darf seine Erkenntnisse sogar an private Personen weitergeben, soweit dies zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung erforderlich erscheint (Paragraf 6). Damit besteht die Möglichkeit, den Radikalen-Erlass auch in der Privatwirtschaft zu praktizieren. Professor Hans-Peter Schneider: "Der Verfassungsschutz informiert irgendeinen Arbeitgeber, und bestimmte Leute werden nicht eingestellt."

NEUFASSUNG: POLIZEIGESETZ

Mit einer Neufassung des Polizeigesetzes lieferten die Bundesländer einen weiteren Beitrag zum Leitbild "kämpfende Demokratrie". In Paragraf 41 wird der gezielte tödliche Schuss auf Befehl zugelassen. Bisher war es nur erlaubt, den Rechtsbrecher angriffs- oder fluchtunfähig zu schießen und nur in Notwehr einen gezielten Todesschuss abzugeben. Deshalb zögerten Polizeibeamte vor dem Todesschuss, um sich nicht der Straverfolgung auszusetzen. "Das neue Recht", so fürchtet Gerald Grünwald, "wirkt wie eine Ermunterung zum Schießen." Und Braunschweigs Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008) fragt: "Das Grundgesetz hat die Todesstrafe abgeschafft. Wird sie nicht durch diees Gesetz gleichsam durch eine Hintertür wieder eingeführt?"

Überhaupt sieht Rudolf Wassermann in der ständig steigenden Paragrafenflut in Bund und Ländern nicht "mehr oder weniger überflüssige Beschwichtigungsgesetze", sondern Bestimmungen, die "tief in die bestehende Rechtsordnung eingreifen." Der OLG-Präsident: "Machen wir uns nichts vor: Was der Seite der Sicherheit hinzugefügt wird, geht der Seite der Freiheit ab." Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann (*1922+2003) beklagt die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, mit denen der Staat zurückschlägt: "Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen." Und der Nobelpreisträger Heinrich Böll, kein Jurist, aber ein Mann mit ausgeprägtem rechtsstaatlichen Empfinden, erkennt "einen unbegreiflichen Prozess, wo Freiheit und Demokratie langsam im Namen von Freiheit und Demokratie erstickt werden".

STAATSMACHT STÄRKEN

Solche Mahnung gilt um so mehr, als den Parlamenten in Bund und Ländern keine Ausgabe zu hoch war, wenn es darum ging, die Staatsmacht zu stärken. Allein der Etat des Bundesamtes für Verfassungsschutz kletterte innerhalb von sechs Jahren um 128 Prozent von 34 auf 77,8 Millionen Mark. Mit den so genannten Mobilen Einsatz-Kommandos (MEK) schufen sich die Landesregierungen Sondereinheiten zur Terrorismus-Bekämpfung. Der Bund baute den Bundesgrenzschutz, der eigentlich die Grenze zur DDR bewachen soll, zur schlagkräftigen Bundespolizei aus. Mit Hubschraubern und Schützenpanzern steht die Eliteeinheit "GSG 9" in Bonn-Hangelar allzeit zum Einsatz gegen den inneren Verfassungsfeind bereit.

"SYSTEM-IMMANENTE MODIFIKATIONEN"

An der konzertierten Aktion gegen den freihheitlichen Verfassungsstaat beteiligten sich auch die obersten Richter der Republik. Von ihren Urteilssprüchen waren nicht einmal die unumstößlichen , die Freiheit der Bürger garantierenden Grundrechte der Verfassung sicher, die selbst durch den Bundestag nicht geändert werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht entschied in seinem "Abhörurteil" vom 15. Dezember 1970, "system-immanente Modifikationen der Grundprinzipien unserer Verfassung" durch Verfassungsänderung oder Einzelgesetze seien durchaus möglich. Dazu Professor Hans-Peter Schneider : "Hier ermöglicht die Rechtssprechung den Abbau entscheidender Barrieren, die die Väter des Grundgesetzes zum Freiheitsschutz des einzelnen Bürgers bewusst in unsere Verfassung verankerten."

Fall eins: Zwar bestimmt das Grundgesetz in seinem Artikel 5 unwiderruflich: "Eine Zensur findet nicht statt." Doch als das Verfassungsgericht über die umstrittene Aufführung eines DDR-Filmes zu entscheiden hatte, kam es am 25. April 1974 zu dem Ergebnis: "Wägt man die Erfordernisse wirksamen Staatsschutzes und das Gewicht des Grundrechts aus Artikel 5 gegeneinander ab, so muss ein Verbringungsgebot von Filmen, die diese Merkmale aufweisen (Propaganda gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, Red) als gerechtfertigt angesehen werden." Und weiter: "Auch diese Grundrechte (müssen gegenüber einer demokratischen Grundordnung zurücktreten."

ZENSUR DURCH DIE HINTERTÜR

Fall zwei:
Ein Offizier der Bundeswehr hatte bei einer Diskussion in der Schreibstube gegenüber Kameraden erklärt, in Deutschland könne man nicht frei seine Meinung äußern. Als darauf ein Rechtsstreit zwischen Soldat und Staat entstand, entschied letztendgültig das Verfassungsgericht: "Ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie begründetes Gemeinwesen kann es nicht dulden, dass seine freiheitliche Ordnung bei politischen Diskussionen innerhalb der Truppe und während des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt wird." Und weiter heißt es in dem Urteilsspruch: "Mit der provozierenden Behauptung, in der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitlich demokratische Ordnung."

Einziger Trost für den Soldaten: Mit diesem Satz haben ihm die Richter den Beweis für die Richtigkeit seiner Meinung geliefert.

ABGEORDNETE MACHTLOS

Die wenigen kritischen SPD-Abgeordneten, die die verhängnisvolle Entwicklung erkannten, waren machtlos. Was sollten sie auch tun, wenn der oberste Strafverteidiger der Republik, Generalbundesanwalt Siegfried Buback (*1920+197), sie mit den Worten unter Druck setze: "Wenn nicht die Überwachung der Verteidigung beschlossen wird, kann ich nicht ausschließen, dass es zu weiteren Aktionen wie dem Überfall auf die Botschaft in Stockholm kommt"? (Anschlag vom April 1975).

Typisch für das Verhalten der SPD-Linken war der unbeholfene Protest des Schriftstellers und Abgeordneten Dieter Lattmann (SPD-MdB 1972-1980) gegen das Gesetz, das die Befürwortung von Gewalt unter Strafe stellt. Ursprünglich fest entschlossen, sich nicht dem Fraktionszwang zu beugen und gegen das Gesetz zu stimmen, kippte Lattmann um, als es am Tag vor der Bundestagssitzung zum Machtwechsel in Niedersachsen kam. (Der Oppositionskandidat Ernst Albrecht wurde im Februar 1976 mit SPD/FDP-Stimmen überraschend zum Ministerpräsidenten [1976-1990] gewählt . Die SPD verlor ihre Macht.)

Deshalb beließ Lattmann es bei einer mahnenden Rede: "Eine Bewegung ist in Kraft, die Freiräume einengt und in einigen Fällen Weimarer Ausmaße von Demokratiefeindlichkeit annimmt." Im Kreise von Genossen entschuldigte er sich später: "Hätte ich doch noch dagegen gestimmt, dann hätte die CDU/CDS behauptet: 'In Hannover hat die SPD die Regierung verloren, und in Bonn laufen dem Kanzler die Stimmen weg'." Der SPD-Linke Harald B. Schäfer (SPD-MdB 1972-1992) zeigte Verständnis dafür: "Man muss doch den politischen Druck sehen, unter dem wir stehen."

CSU: WILLY BRANDT EIN RADIKALER

Durch ihr ständiges Nachgeben gegenüber Forderungen von rechts haben die Sozialdemokraten "den geistigen Boden für eine weitere Demontage unseres Rechtsstaates durch reaktionäre Kräfte geschaffen" (Professor Gerald Grünwald). Und auch die Rechnung der Genossen, die glaubten, mit einer Politik der Stärke den Christdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen zu können, ging nicht auf. Denn schon haben Politiker von CDU/CSU weitere einschneidende Gesetzesentwürfe eingebracht, mit denen die Bundesrepublik zu einem perfekten Obrigkeitsstaat ausgebaut würde:

o) In der Strafprozessordnung soll der Begriff der "Verfahrenssabotage" eingefügt und der Richter mit Polizeigewalt gegenüber seiner Meinung nach aufmüpfigen Verteidigern, Angeklagten und Zuhörern ausgestattet werden. Gestützt auf diesen schwammigen Begriff kann er sie zu Geldstrafen bis 2000 Mark oder bis zu einer Woche Haft verdonnern.

o) Nicht nur der Schriftwechsel zwischen Verteidigern und Beklagten soll überwacht werden dürfen, sondern auch jedes direkte persönliche Gespräch.

0) Der Begriff "Landfriedensbruch", vor sechs Jahren im Zuge der Rechtsliberalisierung entschärft (1971), soll wieder die alte, dem Obrigkeitsstaat entstammende Formulierung erhalten. Dann könnten auch neugierige Mitläufer einer Demonstration, bei der es plötzlich zu Ausschreitungen kommt, strafrechtlich belangt werden.

0) Zur "Beschleunigung strafrechtlicher Verfahren" wollen die CDU/CSU-Länder Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz die Möglichkeit des Angeklagten beschneiden, sich etwa durch das Verlesen von Dokumenten und Urkunden zu entlasten. Ihre Begründung: Der Vortrag könne das Verfahren missbräuchlich verzögern.

0) Die Polizei soll ermächtigt werden, bei einer Geiselnahme ganze Wohnblocks ohne Hausdurchsuchungsbefehl zu durchkämmen.

HEXEN-LEHRLINGE

Solche Pläne, die an die Praktiken der Gestapo oder kommunistischer Diktaturen erinnern, haben jetzt erstmals einflussreiche Sozialdemokraten aufgeschreckt. Der baden-württembergische SPD-Chef Erhard Eppler (1973-1981) will vor dasBundesverfassungsgericht ziehen, falls die Regierung Hans Filbinger (1966-1978) im Musterländle die Razzia-Vollmacht verwirklicht. Die niedersächsische SPD macht neuerdings Front gegen das Verfassungsschutz-Gesetz (das sie allerdings selbst ins Parlament eingebracht hatte, als sie noch in Hannover regierte).

In Hamburg verkündete Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (1974-1981) , der Radikalen-Erlass würde an der Elbe nicht mehr praktiziert (obgleich noch immer Bewerber für den hansestädtischen Staatsdienst ihre rechte Gesinnung nachweisen müssen - "egal", so Senatspressesprecher Paul O. Vogel , "ob jemand Polizeibeamter oder nur Gärtner beim Friedhofsamt werden will").

Unversehens finden sich die Sozialdemokraten in der Rolle jenes Hexenlehrlings, der die Geister nicht mehr los wird, die er rief. Schon werden in Bayern und Baden-Württemberg auch SPD-Mitglieder von öffentlichen Ämtern ferngehalten, weil sie früher dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) angehörten oder an Demonstrationen teilnahmen bei denen auch Kommunisten mitmarschierten. Zum Beispiel der Pädagoge Reinhard Laudi, 29, SPD, dessen Bewerbung als Studienrat in Bayern aus politischen Gründen abgelehnt wurde; der Volksschullehrer Hans Kolb, 26, SPD, dem Bayern die Aufnahme in den Schuldienst wegen mangelnder Verfassungstreue verweigert; die Assessorin Charlotte Nieß, 28 , SPD, die in Bayern vergebens um die Einstellung in den Justizdienst bat. Sie wurde zur Extremistin gestempelt, weil sie dem Vorstand der "Vereinigung freiheitlich demokratischer Juristen" angehört, in dem auch ein paar Kummunisten sitzen. In Baden-Württemberg blieb die Pädagogin Beate Weid, SPD, auf der Strecke, weil sie bei Studentenwahlen für den SHB kandidiert hatte.

FREIHEIT STATT SOZIALISMUS

Auf der vom Radikalen-Erlass vorgezeichnetem Linie versucht die CDU/CSU jetzt mit dem Wahlslogan "Freiheit statt Sozialimus" die gesamte SPD in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu rücken. Und der "Bayernkurier" führte vor, wie rasch selbst Willy Brandt (Bundeskanzler 1969/1972) hinter den "Eisernen Vorhang" katapuliert werden kann. Brandt, so schrieb das CSU-Organ, habe die Darstellung als unwahr zurückgewiesen, er sei Kommunist gewesen. Originalton "Bayernkurier": "Legt man den Begriff Kommunist in dem engen Sinne aus , dass damit nur ein Mitglied einer kommunistischen Partei bezeichnet werden darf, dann hat Brandt in der Tat recht. Andererseits dürfte es ihm aber schwerfallen, nachzuweisen, dass er kein Helfer des Kommunismus war."

IM JAHRE 112 NACH CHRISTI

Im Jahre 112 nach Christi Geburt ging es im Vergleich zur Bundesrepublik 1976 ausgesprochen liberal zu. Damals fragte Plinius der Jüngere, seines Zeichens Statthalter von Bithynien, seinen Kaiser Trajan, wie er sich bei der Verfolgung von Christen zu verhalten habe. Die Antwort des römischen Kaisers: "Man soll ihnen nicht nachspüren, Falls sie gemeldet und überführt werden, sind sie zu bestrafem. Anonym vorgelegte Listen dürfen jedoch bei keiner Anklage Verwendung finden, denn dies ist von äußerst schlechtem Beispiel und unserer Zeit nicht würdig."