Donnerstag, 30. September 1976

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - Der alte Mann - Wahlkampf und die alte Bundesrepublik






















Kantig, authentisch, trotzig, glaubwürdig - Herbert Wehner (*1906 + 1990) - SPD-Urge-stein; Polit-Entertainer, Überzeugungstäter der Nachkriegs-Ära


stern, Hamburg
vom 30. September 1976
von Reimar Oltmanns

Tochter und Thermosflasche sind immer dabei. Wenn Herbert Wehner im grauen Dienstmercedes (BN-WZ-108) auf Wahlkampfreise geht, sitzt Tochter Greta neben ihm. Thermosflasche und Medikamente, sorg-fältig in der grasgrünen Leinentasche verpackt, stehen griffbereit hinterm Fahrersitz. Beide lassen sich von ihrem Chauffeur mit 90 Stunden-Kilometern über die Autobahn kutschieren - vom niederbayerischen Straubing ins nordrhein-westfälische Iserlohn.

Die Zufahrtstraßen zur städtischen Parkhalle sind verstopft. Menschentrauben quälen sich mühsam durch den Eingang. "Der Wehner ist 'ne Reise wert", juxen Jugendliche aus Dortmund. Eine ältere Dame mit Krokotäschen und Sonntagsbluse meint: "Die Sozis kriegen meine Stimme nicht. Aber den Strauß der SPD muss ich gesehen haben." Bei den örtlichen Partei-funktionären auf dem Podium herrscht Nervosität. Für 20 Uhr hat sich der SPD-Fraktionschef angesagt. Doch "Onkel Herbert", wie sie respektvoll nennen, ist immer noch nicht da.

"SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD"

Um die Stimmung der 3.000 Zuhörer anzuheizen, wird eine neue Musikkassette ins Tonbandgerät gelegt. Aus den Lautsprechern tönt "Spiel mir das Lied vom Tod". Was die aufgeregten Parteifunktionäre nicht wissen - Herbert Wehner sitzt im Nebenraum vor dem Fern-seher: Tagesschau-Köpke (ARD-Nachrichtensprecher *1922+1991) verliest die neuesten Meldungen.

Aufmacher-Meldung ist auch an diesem Abend der Lockheed-Skandal. Die Schmiergeldaffäre des amerikanischen Rüstungskonzerns ist für Wehner will-kommener Anlass, um sich an Franz Josef Strauß (*1915+1988) zu reiben. "Einem bedeutenden Politiker haben sie in New York mal die Brieftasche geklaut", klärt er die Iserlohner auf. "Wäre mir das passiert, hätte am nächsten Tag mit vier dicken Balken quer-gedruckt in der Zeitung gestanden: 'Wehner von drei Nutten ausgeraubt.' Unterzeile: 'Politische Affären nicht ausge-schlossen'."

... MIT ÄTZENDER SCHÄRFE UND GEBRÜLL

Die Zuhörer in der ersten Reihe, überzeugte Genossen, jubeln. "Das ist der Herbert, wie wir ihn kennen", murmelt einer. "Der muss noch härter draufschlagen", fordert ein anderer. Wehner bleibt seinem Publikum nichts schuldig, Mit ätzender Schärfe und donnerndem Gebrüll beißt er nach allen Seiten.

Wenn der SPD-Fraktionschef (1969-1983) CDU-Wahl-anzeigen verliest ("sozialistische Misswirtschaft") , "Die Feinde des Staates werden immer frecher"), hält es ihn kaum noch am Pult: "Franz Josef, dieser Strauß", "der Ludwigshafener Kohl", "Kohl, dieser pomadige Obermufti", "Büchsenspanner Kohl", "Dregger, dieser einsilbige Vorturner", "Schleyer, das doppelbödige Doppelkinn mit dem Ypsilon in der Mitte". Pfiffe werden laut. Die Junge Union, die ihre Anhänger in der Parkhalle zusammengetrommelt hat, protestiert: "Kohl ist der beste Kanzler!" Wehner: "Dann kriege ich nur noch Kohl-Falten. Sie werden schon sehen, wie schön es da ist." Zwei Genossen schauen belustigend um sich. Der eine zum anderen:"Und schlägt unser Arsch auch Falten, wir bleiben die Alten."

ZINNSOLDATEN UND MAULHELDEN

Dann kommt Wehner auf die Sonthofener Rede des Franz Josef Strauß. Beim Zitat, wonach die wirtschaft-liche Lage "wesentlich tiefer sinken muss, bis wir Aussicht haben, mit unseren Vorstellungen gehört zu werden", krakeelt die Junge Union "Bravo". Wütend reißt Wehner das Mikrophon beiseite. "Diese Zinn-soldaten, diese Reißbrettstrategen, diese Maulhelden."

GLIEDAB-JAEGER, LÜMMEL, PIMPF

Herbert Wehner wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Ordner rückt das Mikrophon wieder zurecht. Als nächster bekommt Richard Jaeger (*1913+1998), CSU-Vizepräsident des Bundestages, sein Fett ab. Wehner erinnert daran, dass es Jaeger war, der 1969 in der katholischen "Deutschen Tagespost" geschrieben hat: "Wenn Brandt neuer Bundeskanzler wird, muss man sich fragen, ob wir nicht über Nacht die Rote Armee hier haben." "Kopfab-Jaeger", empört sich das Publikum. "Nein", sagt Wehner ruhig, "der heißt 'Gliedab-Jaeger'."

Die Junge Union hält es nicht mehr auf den wackeligen Stühlen, "Pfui", tönt es im Chor. Der SPD-Genosse bleibt gelassen: "Aber meine Herren, liebe Knaben und Mäd-chen! Da sagen Sie doch nicht 'Pfui'. Wir sind hier nicht im Damenpensionat." Für den alten Kämpen ist die Provokation des Gegners bewährtes Mittel, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren.

ALLEINUNTERHALTER DER WUTAUSBRÜCHE

In Iserlohn, wo sich die Kohl-Truppe auf der linken Saalseite platziert hat, hämmert "Onkel Herbert" pausenlos auf die Jung-Konservativen ein. "Sie Lümmel, Sie Pimpf! Ich werde Sie schon ruhig kriegen. Mich alten Mann können Sie nicht verkohlen!" Schimpf-tiraden wollen kein Ende nehmen. Der Ortsvereins-vorsitzende schiebt dem SPD-Kämpen einen Zettel zu, er solle sich nicht in Rage bringen lassen.

Plötzlich, als sei nichts gewesen, wird das Raubein Wehner behutsam. "Ich bin ein alter Mann, der hierher gekommen ist, um Ihnen meine Erfahrungen mitzu-teilen", sagt er fast entschuldigend zu den Iserlohnern. Dann beschwört er die Vergangen-heit. Aus einem vergilbten Bändchen aus dem Jahre 1925 ("Redner und Revolution") zitiert er den sozialistischen Altvater Ferdinand Lassalle: "Die Geschichte ist ein Kampf der Natur" ( Ferdinand Lassalle *1825+1864; u.a. Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung).

MÄNNER - NACHKRIEGSGESCHICHTE

Über den 1972 verstorbenen IG-Metall-Chef Otto Brenner (*1907+1972; "Ein kritischer Freund"), den früheren Bremer Bürgermeister Wilhem Kaisen (*1887+1979; "Ein Vorkämpfer der Sozialdemokratie") kommt er fast reumütig zu jenen Unions-Abgeordneten, mit denen er sich in den fünfziger und sechziger Jahren manch hitziges Rededuell geliefert hatte. Gern zitiert er den damaligen CDU-Fraktionschef Heinrich Krone (*1895+1989), erinnert sich, wie er mit dem früheren Außenminister von Brentano (*1904+1964) nach dem Bau der Berliner Mauer in einem Frankfurter Hotel am Radio dem DDR-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler (*1918+2001)zuhörte. Und wie Adenauer und Lübke der SPD 1963 Verdienste um die Demokratie und den Wiederbau bescheinigten.

Wahlkampf 1976 - für Herbert Wehner ein Exkurs in die jüngste Geschichte, für das Publikum ein Vorgriff auf seine Memoiren. "17 Jahre", sagt er, "bin ich Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses gewesen und drei Jahre Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Ich kenne alles sehr genau. Ohne die SPD hätten wir heute keinen freien Teil Berlins."

ALLE SCHLACHTEN GESCHLAGEN

Es ist die Bilanz eines Mannes, der alle Schlachten geschlagen hat. Der Kommunist war, der als solcher immer noch verteufelt wird; der Narben davontrug, die manch-mal noch schmerzen, wenn der wütende Demo-krat Wehner angegriffen wird von Demokraten, denen dieser Begriff allzu glatt über die Lippen geht. Bei Wehners Rückblick kommen betagten SPD-Anhängern die Tränen, und Genossinnen, die vorhin noch entrüstet waren, nicken auf einmal stumm - teilnahmsvoll.

Die Namen Willy Brandt und Helmut Schmidt erwähnt Wehner erst zur Halbzeit seiner zweistündigen Rede. In den vorausgegangenen Passagen hießen sie nur der "Vorsitzende" und der "Bundeskanzler". Wehner wird deutlich: "Auf Helmut Schmidt ist Verlass." Der SPD-Slogan: "Weiterarbeiten am Modell Deutschland" ist allerdings in Wehners Repertoire nicht zu finden. Statt dessen benutzt er den SPD-Wahlspruch von 1972; "Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen."

Es ist 22.30 Uhr. Stieftochter Greta holt die Thermoskanne und Medizin aus der Tasche. Für Vater Wehner das Signal, Schluss zu machen. Eine halbe Stunde später sind die beiden wieder auf der Autobahn, ohne Journalistenkolonne, ohne Polizei-Eskorte.

Schon 60 Veranstaltungen, 12o Stunden Wahlreden. Es dürfte Herbert Wehners letzte Wahlschlacht sein.


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Nachtrag. - Nach dem Tod seiner Frau Charlotte Burmester im Jahre 1979 heiratete Herbert Wehner vier Jahre später seine Stieftochter Greta Burmester, um ihr den Zugang zur Witwenrente zu ermöglichen. Greta Burmester hatte schon seit Jahrzehnten ihrem Stiefvater als Sekretärin, Betreuerin, Chauffeurin, Haushälterin und Köchin gedient. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Wehners Tod zog Greta Wehner nach Dresden und gründete im Mai 2003 die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. Herbert Wehner fand im Jahre 1990 seine letzte Ruhe neben Charlotte Burmester auf dem Burgfriedhof in Bonn-Bad-Godesberg.

























Donnerstag, 23. September 1976

Lobbyismus - den Staat ausnehmen, abmelken, abzocken - Parteien schmieren






























Wahlkampf für Wahlkampf - die Metastasen der Demokratie: der deutsche Lobbyismus. Die CDU/CSU wirft den Gewerkschaften Verfilzung mit der SPD vor, streicht aber selbst Millionen von der Industrie ein. - Fürsorgliche Belagerung politischer Entscheidungsträger zu Berlin und vor den Länder-Parlamenten. Das, was vor mehr als drei Jahrzehnten bei Arbeitgeber und Gewerkschaften seinen Ausgangspunkt nahm, hat mittlerweile eine ganze Armada von etwa 2.000 Interessenvertreter in Berlin mobilisiert. Einflussnahme, Gehaltszahlungen, lukrative Einladungen, Urlaubsreisen, Bestechungen in Grauzonen - sanfter Druck, Informationsbeschaffung. Lobbyisten sind stets dabei, wirken , schreiben Gesetze eigennützig für ihre Konzerne mit - Kesseltreiben. Was waren das noch für "harmlose" Zeiten, als Helmut Schmidt (1974-1982) mit dem Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer (1972-1977), DGB-Chef Heinz-Oskar Vetter (1969-1982) und dem Industriellen Kurt A. Körber (*1909+1992) die Millionen an Wahlkampfspenden verteilten; übersichtlich, kalkulierbar. Rückgriff.


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stern, Hamburg
23. September 1976
von Reimar Oltmanns
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Die beiden Kontrahenten blieben unversöhnlich. Obwohl DGB-Chef Heinz-Oskar Vetter (*1917+1990) dem CDU-Kanzlerkandidaten Helmut Kohl unter vier Augen parteipolitische Neutralität im Bundestagswahlkampf 1976 anbot (Vetter: "Ich halte die Einheitsgewerkschaft nicht für legitimiert, für eine einzige Partei zu plädieren"), ließ der Christdemokrat den SPD-Genossen abblitzen. Vetters Gegenforderung, die Unionsparteien sollten den Wahlslogan "Freiheit oder /statt Sozialismus" aus dem Verkehr ziehen, wollte der Mainzer Politiker Kohl (Ministerpräsident 1969-1976) nicht akzeptieren.
KRIEGSBEIL
Seither ist das Kriegsbeil zwischen CDU/CSU und Gewerkschaften wieder ausgegraben. Denn gerade der DGB fühlt sich durch die anmaßende Alternative "Freiheit oder Sozialismus" verunglimpft. Waren es doch vor allem sozialdemokratisch orientierte Gewerkschafter, die sich in den letzten 50 Jahren als stramme Anti-Kommunisten profiliert hatten.
ZEHN PRÜFSTEINEN
Die DGB-Reaktion auf Kohls Abfuhr kam sofort. In den "zehn Prüfsteinen", die der DGB seinen siebeneinhalb Millionen Mitgliedern (2007: 6,4 Millionen) zur Bundestagswahl an die Hand gab, fordern die Funktionäre indirekt auf, für die SPD zu votieren: "Hinzuweisen ist auf die Haltung konservativer Kräfte. Sie ist gekennzeichnet durch den Versuch, Reformen zu Gunsten der Arbeitnehmer zu erschweren."
FILZOKRATIE
Als dann CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf (1973-1977) Gewerkschaften und Sozialdemokraten Filzokratie vorwarf, konterte die IG Bergbau und Energie mit drei einstweiligen Verfügungen, die dem CDU-Spitzenkandidaten verbieten, seine Behauptungen weiter zu verbreiten. Der Versuch Kurt Biedenkopfs, den Spruch des Gerichts revidieren zu lassen, scheiterte. Als Beweis für das enge Zusammenspiel zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten hatte Biedenkopf in seiner Dokumentation angeführt, das Betriebsratsmitglied Wolfgang Neuhaus habe am 20. August 1976 auf dem Zechengelände der Schachtanlage Hugo in Gelsenkirchen-Buer unter Missachtung des Betriebsverfassungsgesetzes SPD-Flugblätter verteilt. Doch Neuhaus war an diesem Tag gar nicht auf dem Zechengelände. Er machte Urlaub im Sauerland. DGB-Chef Heinz Oskar Vetter ging zum Gegenangriff über. Er warf Kohls Union vor, den Wahlkampf mit "Angstparolen und Panikmache" zu führen, mit denen "Volk und Gewerkschaft in politische Feindschaft getrieben werden könne.
ZANKAPFEL: GEWERKSCHAFTEN
Dabei hatte noch wenige Tage zuvor DGB-Vorstandsmitglied Karl Schwab (*1920+2003) feierlich versprochen: "Ganz gleich wie hoch die Wellen schlagen, wir werden parteipolitisch neutral bleiben." Damals ließ Heinz Oskar Vetter die SPD-Genossen wissen, "angesichts der derzeitigen Situation in der Einzelgewerkschaft" sei es - im Unterschied zu 1972 ("Willy wählen") nicht ratsam, dass er auf SPD-Wahlveranstaltungen spräche. Das war nur die halbe Wahrheit. Denn nur mit Mühe können die Gewerkschaften ihre Resignation, ihre Enttäuschung über die sozial-liberale Koalition (1969-1982) verbergen. Unter der Regentschaft von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher haben sie "zwar die Möglichkeiten ausgeschöpft, aber deutlich die Grenze gespürt" (Vetter).
HOHE WELLEN
Albrecht Hasinger (*1935+1994), Geschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse, frohlockte deshalb: "Mindestens an der DGB-Spitze habe es "eine recht erfreuliche Einhaltung des Gebots der parteipolitischen Neutralität gegeben." Und der CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Müller (Remscheid *1916+2005) widersprach sogar Biedenkopfs "Filzokratie-Dokumentation": "Die neutrale Haltung des DGB ist doch den SPD-Parteistrategen ein Dorn im Auge."
GARANTIE-ERKLÄRUNG FÜR DGB
Der durchsichtige Versuch der CDU, einen Keil zwischen Gewerkschaften und SPD zu treiben, schlug fehl. Die Genossen gaben als erste Partei zu den "Prüfsteinen" eine Garantieerklärung ab: "Die Gewerkschaften können sich darauf verlassen, dass die SPD die Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und überhaupt die Notwendigkeit freier und starker Gewerkschaften gegen jeden Angriff verteidigt." Und Kanzler Helmut Schmidt erinnerte die DGB-Bosse daran, "dass in der von mir geführten Bundesregierung gestandene Gewerkschafter in besonders großer Zahl ihren Mann stehen".
"AUS LIEBE ZU DEUTSCHLAND"
Schmidts Appell war überflüssig. Seitdem die CDU/CSU "Aus Liebe zu Deutschland" in Fernseh-Wahlspots dem Bürger weismachen möchten, in den Schulen würden die Kinder unter dem DDR-Emblem "Hammer und Zirkel" erzogen, üben Gewerkschaftsmitglieder und Betriebsräte verstärkten Druck auf die Spitzenfunktionäre aus, sich eindeutig vor die diffamierten Sozialdemokraten zu stellen.
MOBILMACHUNG
Die Mobilmachung an der Basis kann der SPD entscheidende Stimmenprozente bringen. Denn in den meisten Großstädten sind die hauptamtlichen Gewerkschafter zugleich aktive Sozialdemokraten. So gehören in Hamburg 89 Prozent der Gewerkschaftssekretäre der SPD an. Und 55 Prozent von ihnen sind in der hanseatischen SPD in Amt und Würden. Nordrhein-Westfalens SPD-Sozialminister Friedhelm Farthmann (1975-1985) ist sicher, dass der mittlere DGB-Führungskader "einen enormen Einfluss auf die Wähler an den Werkbänken und auf den Baugerüsten" hat. "Dieser Wähler", sagt Farthmann, "liest kein Mitbestimmungsheft und kein Betriebsverfassungsgesetz, sondern hört darauf, was ihm seine Betriebsräte sagen." - Lobbyarbeit.
KAPITAL-KOMMANDO
Ein klares Kommando gab auch Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) für die Bundestagswahl 1976: "Aus unserem Bereich müssen viel mehr in den unmittelbaren politischen Raum gehen." Mit anderen Worten: Lobbyisten in die Politik. Anders als 1972 verzichten die Arbeitgeber diesmal auf schrille Töne (BDI-Präsident Hans-Günther Sohl -*1906+1989 - tönte damals: "Wenn eine Partei dazu neigt, die Stellung der Institution 'Unternehmen' zu schwächen, muss sie mit unserem Widerstand rechnen."). Macht und Drohung der Industrie-Lobby.
1.o00 VERBANDSVERTRETER
Dabei fehlt es den Arbeitgeber-Funktionären an Argumenten, um öffentlich gegen das Gespann Schmidt/Genscher Stimmung machen zu können. Immerhin hat der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) nahezu 80 Prozent seiner Anregungen und Stellungnahmen in den vergangenen Jahren an die sozial-liberalen Ministerialen geschickt, statt etwa an den von der CDU beherrschten Bundesrat. Von 100 Kontakten (Eingaben, Verbandswünsche etc.), die an das Wirtschaftsministerium herangetragen wurden, kamen 96 von den Arbeitgebern. Im Finanzressort und bei Arbeit und Soziales waren es 84 Prozent, im Verteidigungs- 64 Prozent, Innen- 48 Prozent und im Justizministerium 40 Prozent. Und in den 276 Experten-Gremien, die von der Regierung bei der Gesetzgebung konsultiert werden, sitzen 1.000 Verbandsvertreter aus Industrie und Wirtschaft, die zu jedem Schritt des Kabinetts Stellung nehmen können; mitunter selbst bei den Entwürfen Hand anlegen - Formulierungshilfen geben. Hoch-Zeiten der Lobbyisten.
DIREKTEN ZUGANG FÜR BANKIERS
Bankiers und Manager hatten stets direkten Zugang zur Regierungsbank. Wichtigste Gesprächspartner der Industrie: FDP-Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (1972-1977). Seine Nähe zur Industrie und Finanzwelt dokumentierte der Liberale, in dem er von der Regierungsbank unversehens auf den Sprecher-Posten der Dresdner Bank (1978-1985) wechselte. Wegen Steuerhinterziehung wurde Friedrichs gar rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 61.500 Mark verurteilt. Die Kontinutät in Sachen Lobbyismus, Einflussnahme, Drehen an Stellen und schreiben von Gesetzesentwurfen - all diese feine "Kleinarbeit" war allerdings Staatssekretär Martin Grüner (1972-1987) gewährleistet - eben Kontinutität in Sachen Lobbyismus. Schließlich hatte die Martin Grüner Jahre zuvor als Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Uhrenindustrie (1968-1972) einen hinlänglichen Überblick verschaffen können. Zu guter Letzt durfte die SPD-FDP-Regierung noch auf ihren einstigen Finanzstaatssekretär Karl Otto Pöhl verweisen. Einem ehemaligen Wirtschaftsredakteur der "Hannverschen Presse", der sich von 1968 bis 1970 mit dem Zusatz als "Mitglied der Geschäftsführung des Bundesverbandes der Banken" zu schmücken verstand. Pöhl galt einst als lichtscheuer SPD-Drahtzieher im Hintergrund. Erst in den Jahren 1980-1991 wagte er sich so ganz in der Öffentlichkeit, tanzte in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Bundesbank vornehmlich in erlesenen Festsälen von Opern- und Pressebällen der Bundesrepublik; der Smoking als Arbeitsanzug. Dienstvilla Taunus-Vorort Kronberg - reich und schön das weitläufige Milieu, Gärtner, Butler, Einfluss und Protektion. Verständlich, dass Karl Otto Pöhl im Jahre 2005 aus der SPD wegen "Linksabweichung" austrat.
KAPITALEIGNER HABEN DAS LETZTE WORT
Immerhin: Arbeitgeber-Losungen wie "Jetzt zahlen die Verbraucher die Zeche" oder "So schnürt man unserer Wirtschaft die Luft ab", sind seit Helmut Schmidts Kanzlerschaft verschwunden. Kein Wunder: Die sozial-liberale Koalition verabschiedete kein Gesetz, das die Unternehmer auf die Barrikaden gezwungen hätte. Lobby-Arbeit. Bei den Themen Mitbestimmung, berufliche Bildung, Bodenrecht und Vermögensbildung behielten die Kapitaleigner stets das letzte Wort.
182 MILLIONEN SPENDEN FÜR DIE CDU
Ausgezahlt hat sich die industriefreundliche Haltung der SPD/FDP-Regierung kaum. Während die Christdemokraten allein zwischen 1969 und 1974 Spenden in Höhe von 182 Millionen Mark kassierten, kam die SPD-FDP-Koalition nicht einmal auf die Hälfte. in den letzten zwei Jahren ist das nicht anders geworden.
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POSTSCRIPTUM . - Mit Beginn der neunziger Jahre des vergangen Jahrhundert erlebte der deutsche, aber auch der europäische Parlamentarismus geradezu einen Belagerungszustand getarnter Lobby-Organisationen. Ob in den jeweiligen Nationalstaaten oder auch auf europäischer Ebene, über 2000 Verbände und deren Vertreter suchen im Jahre 2008 ihre Interessen in den jeweiligen Gesetzesverfahren durchzusetzen. Eine spezielle Form des Lobbyismus geißelte der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim. Er lokalisierte im Bereich des Lobbyismus des Jahres 2006 ein "Dunstkreis der Korruption". Danach arbeiten Personen aus der Privatwirtschaft, aus Verbänden und Interessengruppen, die tatsächlich Angestellte ihrer Arbeitgeber bleiben und von diesem entlohnt werden - zeitweilig als externe Mitarbeiter deutscher Bundesministerien mit. Lobbyismus in Formvollendung.
Eine besondere Berühmtheit erlangte der einflussreiche wie undurchsichtige Frankfurter Lobbyist und public-relations-Berater Moritz Hunzinger. Er jonglierte als sogenannter "Kontaktvermittler" zwischen Interessengruppen, internationalen Politikern und der deutschen Wirtschaft. Bekannt wurde Lobbyist Hunzinger einer breiten Öffentlichkeit durch eine anrüchige Beratertätigkeit für den damaligen Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (1998-2002) und dem Grünen-Politiker Cem Özdemir (Grüne-MdB 1994-2002). Beide Politiker haben entweder auf seiner stattlichen Honorarliste gestanden oder durch Hunzingers Vermittlung einen besonders günstigen Privat-Kredit bekommen, sind von Moritz Hunzinger "eingekauft" worden. Rudolf Scharping musste als Verteidungsminister zurücktreten, Cem Özdemir wurde von den Grünen über Jahre aus dem Verkehr der Bundespolitik gezogen. Zudem beriet Kontaktmacher Moritz Hunzinger auch die Europäische Kommission in Fragen der Zusammenarbeit mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas. Er war unter anderem auch Bundesschatzmeister der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und bis 2004 deren Treuhänder. Am 3. Mai 2006 verurteilte das Amtsgericht Stuttgart wegen uneidlicher Falschaussage vor dem Landtagsuntersuchungsausschuss von Baden-Württemberg Cheflobbyist Moritz Hunzinger zu einer Geldstrafe von 30.000 Euro und einem Freiheitsentszug von 10 Monaten auf Bewährung. In der zweiten Instanz wurde die Strafe auf 25.000 Euro reduziert und ist damit rechtskräftig. Das Verb " v e r h u n z i n g e n " ist mittlerweile ein Synonym für Verrottung des Lobbyismus in Deutschland geworden. Es wurde für das Wort des Jahres auf den 8. Platz 2002 gewählt.


Donnerstag, 16. September 1976

Wahlkampf in deutschen Landen: "Mit besten Wünschen Euer Pfarrer"


























stern, Hamburg
16. September 1976
von Reimar Oltmanns



Mit der Verketzerung der sozialliberalen Koalition (1969-1982) will die katholische Kirche der CDU/CSU in den siebziger Jahren zum Wahlsieg verhelfen


Ein Exorzist kommt selten allein. Der Pfarrer Ernst Alt, 38, und der Salvatorianerpater Arnold Renz, 65, versuchten, die Dämonen aus dem Körper der 23jährigen Anneliese Michel im fränkischen Klingenberg zu vertreiben. Die Oberhirten der beiden wollten jetzt die Teufel SPD und FDP aus den Köpfen der katholischen Wähler verbannen.

RELIGIÖSE ENTSCHEIDUNG

Im Kampf der Amtskirche gegen die ungeliebten Sozialdemokraten ist die Bundestagswahl am 3. Oktober 1976 "nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Entscheidung. Wer das nicht jedem Nachbarn und Arbeitskollegen klarmacht und nicht auch durch intensives Gebet zu einer christlichen Entscheidung beiträgt, ist ein Mitläufer des Bösen", warnt die "größte christliche Wochenzeitung Europas", die "neue bildpost", ihre katholischen Leser zwischen Papenburg im Emsland und Altötting in Oberbayern.

LAND DES UNTERGANGS

Das Boulevardblatt, das jeden Sonntag zwischen Altar und Beichtstuhl feilgeboten und von rund einer Millionen Katholiken gelesen wird, behauptete schon vor zwei Jahren, dass der "rote Sozialismus" dabei sei, "aus dem restlichen Deutschland ein Land des Untergangs zu machen." Jetzt schreckt die fromme Postille (Schlagzeile "Kardinal Döpfner: Ja, ich begegnete Gott") vor keiner Diskriminierung des politischen Gegners zurück, um im Wahlkampf Stimmung gegen SPD und FDP zu machen.

TERRORISTEN ALS SPD-MITGLIEDER

So stellt die "neue bildpost" den Terroristen Rolf Pohle (*1942+2004) als Sozialdemokraten vor, der "wegen Landfriedensbruch in der SPD bleiben durfte und erst ein völlig freischwebender Anarchist geworden ist, seit er seinen SPD-Mitgliedsbeitrag nicht mehr zahlt": Für die "bildpost"-Redakteure ist SPD-Chef Willy Brandt (*1913+1992) "ein Badefreund Breschnews", (*1906+1992, Parteichef der KPdSU 1964-1982) - der "Hauptverantwortliche für die geistige Lynchstimmung" und "die Schlüsselfigur für die mögliche Sowjetisierung Europas". Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982) "will jetzt unsere Zukunft mit Gesinnungspartnern aufbauen, die den Kommunisten in ihrem Land in den Sattel helfen."

GELDER FÜR KOMMUNISTEN

Und die Bereitschaft von dem FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher (1974-1985) wieder mit der SPD zu koalieren, ist "als demokratische 'Todsünde' weithin erkannt". Der Außenminister ist für die "neue bildpost" der Politiker, der die Forderung nach einem DKP-Verbot als "demagogisch" abblockt. Dafür, so wird dem Leser suggeriert, zahlt Bonn "Steuergelder für die Unterwanderer, wenn Kommunisten Ansprüche anmelden."

CDU-WEIN IST WAHRHEIT

Bei der Agitation gegen das SPD/FDP-Regierungsbündnis setzen die katholischen Bischöfe nicht nur auf die "neue bildpost", sondern sie lassen auch ihre 22 Bistumsblätter (wöchentliche Auflage: zwei Millionen) kräftig mitmischen. Das "Regensburger Bistumsblatt" des Bischofs Rudolf Graber, 73, (*1903+1992) glaubt, nur die "süddeutsche Union" mit den CDU/CSU-Rechtaußen Franz-Josef Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger garantiere einen Wahlsieg der Unionschristen. Die Regensburger: "Das sind nicht Albrecht, Stoltenberg, Biedenkopf, Barzel ... Möge die Union dort lächeln, zaubern, freundlich sein, Küsschen werden, I-like-Mainzelmännchen-Helmut-singen ... Der Wähler will die Wahrheit wissen! Im Baden-Württemberger CDU-Wein ist Wahrheit."

ANTICHRISTEN IN DIESEM LAND

Das "Passauer Bistumsblatt" des Bischofs Antonius Hofmann, 67, (*1909+2000) fragt die SPD scheinheilig, "wie lange es ihr noch gelänge, antichristliche Kräfte in ihren Reihen niederzuhalten". Auf eine Antwort der Sozialdemokraten wird allerdings kein Wert gelegt. Die Redakteure fordern die Leser auf, "dem Antichristen bei der Bundestagswahl mit dem Stimmzettel eine entsprechende legale Antwort zu geben."

BISCHÖFE IN DEN RING

Die Würzburger "Deutsche Tagespost" will "die katholischen Bischöfe in den Ring rufen. Von ihnen wird eine Wahlempfehlung erwartet, an der es nichts zu deuteln gibt". Die "Tagespost" empfiehlt, prominente Katholiken aus SPD und FDP zu vergraulen: "Das Wort der Bischöfe müsste diesmal so deutlich sein, dass auch Persönlichkeiten wie die Sozialdemokraten Georg Leber, Hermann Schmitt-Vockenhausen oder der FDP-Mann Josef Ertl gezwungen werden, ihren Balanceakt zwischen ihrer Kirche und ihrer kirchenfeindlichen Partei aufzugeben...".

GEGEN ABTREIBUNG

Die katholische Kirche hat sich zum Endkampf gegen die sozial-liberale Koalition gerüstet. Vergessen ist das noch vor vier Jahren gültige Rezept, mit der Bonner Regierungen einen - wenn auch zaghaften - Dialog zu beginnen (Herbert Wehner damals: "Wir sollen miteinander reden und uns aufmerksam zuhören"). Der lose Gesprächsfaden riss, als die Sozial-Liberalen mit der Reform des Abtreibungsparagrafen 218 und des Ehe- und Scheidungsrechts ernst machen und dabei auf den erbitterten Widerstand des konservativen Klerus stießen.

TRENNUNG VON KIRCHE UND STAAT

Als Generalangriff auf den christlichen Glauben werteten die Oberhirten den Beschluss der FDP, Kirche und Staat strikt zu trennen, und den Erlass von Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen, mit denen der kirchliche Einfluss weiter zurückgedrängt wurde. Der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner (*1906+1987) erklärte: "Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens ... zu gewährleisten, sind für einen gläubigen Christen nicht wählbar."

SCHARFMACHER VIELERORTS

Oberwasser haben seitdem wieder jene Scharfmacher in der katholischen Kirche, die schon bei der letzten Bundestagswahl 1972 gegen die Sozial-Liberalen zu Felde gezogen sind. Im November 1972 appellierte zum Beispiel der "Nußbacher Pfarrbote" (Nr. 47) an die Gemeinde: "Als Christen sollten wir eigentlich wissen, wohin wir unsere Kreuze machen, nämlich in die Felder der CDU ... Als Pfarrer muss ich es mir leider versagen, im 'Pfarrboten' über die politische Zwielichtigkeit führender Männer und Bewerber ... zu schreiben ... Wenigstens einen Fall nimmt die heutige 'bildpost' , die im übrigen sehr zu empfehlen ist, unter die Lupe. Wer mehr wissen will, möge nach Oberkirch auf die CDU-Kreisstelle gehen und sich dort informieren. Wir haben viel Grund zu beten, dass sich unser Volk erneuere, ohne dass uns eine tödliche Diktatur wieder in den Senkel stellt. Mit den besten Wünschen, Euer Pfarrer."

Und im amtlichen Mitteilungsblatt der württembergischen Gemeinde Fronstetten rief der Pfarrer seinen Gläubigen zu: "Der mündige Christ soll selber entscheiden. Nur keine Manipulation! Aber wenn Sie es wissen wollen, wie ich persönlich denke und was ich persönlich wähle, dann sage ich Ihnen das ganz offen und ehrlich: Ich für meine Person wähle die CDU."

GEHARNISCHTER HIRTENBRIEF

Der CDU-Pressesprecher Karl Hugo Pruys (1973-1977) ist sicher, dass die Kirche auch diesmal einen geharnischten Hirtenbrief zur Bundestagswahl veröffentlichen wird: "Der wird kommen, ob uns das passt oder nicht." Denn seit dem Tod Julius Kardinal Döpfners (*1913+1976), der stets Respekt vor SPD-Chef Willy Brandt hatte, ist die viel zitierte kirchliche Neutralität gegenüber den Parteien aufgehoben.

WER LUST WILL , DEM VERGEHT SIE

In der Bischofskonferenz gibt jetzt der ultra-rechte Kölner Kardinal Höffner ("Wer Lust will, dem vergeht sie") den Ton an. Der militante Oberhirte und seine Amtsbrüder glauben, in einer Notstands-Gesellschaft" zu leben, die einen Kulturkampf zwischen Christentum und Sozialismus rechtfertigt. Prälat Wilhelm Wöste (*1911+1993), Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe in Bonn: "Die Kirche hat auch die französische Revolution überlebt, obwohl sie sieben Jahre verboten war." Die Losung der Bischöfe heißt deshalb: "Nicht klagen, sondern handeln" (Höffner).

o Für Kardinal Höffner sind Schulen, in denen nach den neuen Rahmenrichtlinien des nordhrein-westfälischen Kultusministeriums unterrichtet wird, für "gläubige Christen keine Heimat, sondern ein besetztes Gebiet".

o Für den Aachener Bischof Johannes Pohlschneider (*1899+1981) besteht der Eindruck, dass die Rahmenrichtlinien eine "Entchristlichung" der Schulen einleiten und dass "aufbauende geistige Werte wie Religion, Ehrfurcht vor Gott und seinem Gesetz, Achtung vor Nächstenliebe und Opferbereitschaft" keine Beachtung mehr finden.

o Für den Augsburger Bischof Joseph Stimpfle (*1916+1996) ist "die rechtsstaatliche Ordnung bei uns nicht mehr gewährleistet", weil der Abtreibungsparagraf und das Familienrecht liberalisiert wurden.

o Für Franz Hengsbach (*1910+1991), Bischof von Essen, ist diese Reform der "seit 1945 bedenklichste Angriff gegen die sittlichen Grundwerte unserer Gesellschaft".

o Der Regensburger Bischof Rudolf Graber geht noch einen Schritt weiter: "Das Abendland stirbt, und es lacht und tanzt dazu."

o Der Hildesheimer Bischof Heinrich-Maria Janssen (*1907+1988) stellt die SPD/FDP-Reformpolitik auf eine Stufe mit Nazi-Verbrechen: "Die katholischen Bischöfe werden dazu nicht schweigen, sowenig, wie sie zu den Verbrechen des Nationalsozialismus geschwiegen haben."

o Der Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg (*1915+1979) beschimpft die Bundesrepublik als "sozialistischen Nachwächterstaat" und beklagt sich darüber, dass nach der Steuerreform einige hundert Kirchen weniger gebaut werden können.

o Das Erzbischöfliche Ordinariat von München erklärte: "Die SPD soll sich künftig ihre Wähler anderswo als bei den Katholiken suchen."

SOGAR KARTOFFELN KATHOLISCH

Dieser Meinung sind auch der katholische CDU-Kanzlerkandidat Helmut Kohl und sein bayerischer Lehrmeister Franz Josef Strauß (*1915+1988). Um am 3. Oktober 1976 die absolute Mehrheit zu erzielen, muss die Union vor allem in katholischen Gebieten Stimmen zurückgewinnen, die 1972 auf das Konto der SPD gingen. Damals waren 35 Prozent der SPD-Wähler katholisch.

So erzielten die Sozialdemokraten in den tiefschwarzen Wahlkreisen Cloppenburg und Emsland Zugewinne von 4,4 beziehungsweise 5,7 Prozent. Im niederrheinischen Kleve (Schriftsteller Heinrich Böll (*1917+1985) : "Da sind sogar die Kartoffeln katholisch") erreichten die Genossen eine Aufwertung von 6,1 Prozent.

FLIRT DER PRÄLATEN

Katholik Strauß klagte: "Der Flirt der Prälaten mit der SPD zahlt sich bitter aus." Und Kohl, der sich als politischer Erbe Konrad Adenauers (*1876+1967) stilisiert, möchte den alten "Kölnischen Klüngel" aus den fünfiger Jahren wiederbeleben, als sich Hochfinanz und Oberhirten die Türklinke des Palais Schaumburg in die Hand geben. So achtet der Mainzer Politiker bei jedem Fernsehauftritt peinlich darauf, die "christlichen Grundwerte" zu beschwören. Und stets streicht der CDU-Chef die Rolle des Klerus heraus: "Die Kirchen vermitteln Wahrheiten, Wertauffassungen und Sinngebungen, die für ein Gemeinschaftsleben fundamental sind."

ERGEBENHEITS-ADRESSEN

Solche Ergebenheitsadressen lassen die Oberhirten hoffen, bei einem CDU/CSU-Wahlsieg würde die Abtreibung wieder unter Strafe gestellt und das Ehe- und Scheidungsrecht drastisch verschärft. Prälat Wöste glaubt sogar, mit einem Kanzler Kohl die Zeit zurückdrehen zu können: "In den beiden ersten Jahrzehnten hatten wir mehr Einfluss auf die Bonner Politik."

Die Verbrüderung der Unionsparteien mit der katholischen Kirche zeigt bereits erste Früchte. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem nordrhein-westfälischen CDU-Oppositionsführers Heinrich Köppler (*1925+1980) in Düsseldorf appellierten katholische Priester der Diözesen Aachen und Paderborn an "die natürliche Verwandtschaft von Kirche und CDU" und beschworen die "gemeinsamen Wahlkämpfe in den fünfziger Jahren". CDU-Chef Kohl ließ sich auf einer Sitzung mit der Deutschen Bischofskonferenz sogar zu der Bemerkung hinreißen: "Die CDU-Aktivitäten an der Parteibasis" seien "praktisch mit den kirchlichen Kerngemeinschaften gleichzusetzen".

FREIHEIT STATT SOZIALISMUS

Als nützlicher Wahlkampfverein für die Christdemokraten hat sich vor allem das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken unter Vorsitz des rheinland-pfälzischen CDU-Kultusminister Bernhard Vogel (1967-1976) erwiesen. Der Aufruf des Komitees zur Bundestagswahl (in einer Auflage von elf Millionen verbreitet ) stützt die anmaßende Alternative "Freiheit oder/statt Sozialismus" und die Behauptung der CDU, eine neue SPD/FDP-Regierung würde zu einem weiteren Verfall und Abbau moralischer Grundwerte führen.

Gegen den Vorwurf, die katholische Kirche betreibe ausschließlich die Wahlpropaganda der CDU/CSU, haben sich die Parteichristen schon vor Wochen gewappnetr. In der katholischen "Herder-Korrespondenz" erklärte Kohl: "Im Falle eines grundlegenden Wortkonflikts kann die Frage der Wählbarkeit und Nichtwählbarkeit einer Partei durchaus Gegenstand einer konkreten kirchlichen Erklärung sein, wenn die Glaubensgemeinschaft in dieser Frage einer Meinung ist."

VERLEUMDUNGSKAMPAGNEN

Trotz der kirchlichen Verleumdungskampagne wollen die Sozial-Liberalen vor der Wahl keinen Krach mit den Bischöfen anfangen, um die katholischen Wähler nicht in Gewissenskonflikte zu stürzen. Für die heiße Phase der Wahlschlacht gilt ein Wort von Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982): "Politiker, die das Wort Humanismus oder den Namen Jesu Christi in jeder ihrer politischen Reden im Munde führen, sind mir ein Greuel."