Donnerstag, 19. Februar 1976

Bildungsnotstand - Ausbildungsmisere - Kompetenz-Wirrwar - Jugend ohne Jobs - Besserung nicht in Sicht


























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stern, Hamburg
19. Februar 1976
von Reimar Oltmanns
und Hermann Sülberg
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An jedem Morgen muss der Studiendirektor Walter Major Strichmännchen ins Klassenbuch malen - für die Schüler, die den Unterricht schwänzen. Nach dem dritten Strich zeichnet der 65jährige Lehrer ein Kringelchen an den Rand, ein blauer Brief ist fällig. Absender: Gewerbliche Schule III, Brügmannstraße 25, in 44135 Dortmund.
STRICHE FÜR SCHULSCHWÄNZER
Lehrer Major mahnt das Ehepaar Schippmann, den sechzehnjährigen Sohn Willi jeden Mittwoch in die Schule zu schicken. Der Appell verhallt. In der Klassenbuchspalte Schippmann, Willi, geb. am 26.2. 1960 in Herne, abgebrochener Hauptschüler, ohne Lehrvertrag und arbeitslos, muss der Pädagoge bald darauf vier weitere Striche markieren.
MIT POLIZEI ZUM UNTERRICHT
Nach sieben Wochen alarmiert Walter Major das Ordnungsamt, mit der grünen Minna soll Willi zum Unterricht transportiert werden. Kurz vor der Polizeiaktion taucht Mutter Schippmann bei Schulleiter Bruno Hansmeyer auf. "Seit mein Mann arbeitslos ist", klagt sie, "säuft er nur noch und nimmt Willi immer mit auf Tour. Erst spätabends kommen sie heim, und frühmorgens geht's gleich wieder los." Die 42jährige Frau ist in Dortmund von Betrieb zu Betrieb gerannt, "um wenigstens den Jungen aus der Gosse zu holen". Bei einem Bauunternehmer ("Kann er denn Steine klopfen?") hatte sie Glück. Doch er stellte eine Bedingung: "Ihr Sohn kann bei mir nur anfangen, wenn er nicht mehr in die Penne gehen muss. Ich kann bloß Leute gebrauchen, die jeden Tag verfügbar sind."
DILEMMA: BETRIEB UND BERUFSSCHULE
Zwei Jahre noch - bis zum 18. Lebensjahr - muss Willi einmal wöchentlich die Berufsschule besuchen, so schreibt es das Schulgesetz zwingend vor. Oberstudiendirektor Hansmeyer, Chef von 80 Lehrern, 3.000 Schülern, davon 800 ohne Lehrstelle, steht vor einem Dilemma. Lässt er den Jungen laufen, macht er sich strafbar. Will er ihn zum Unterricht zwingen, muss er die Polizei bemühen. Hansmeyer entnervt: " Wenn es um soziale Notfälle geht, nehme ich einiges auf meine Kappe." - Heute sind bereits 130.000 Jugendliche bei der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit als Arbeitslos gemeldet. Doch diese Zahl trügt. Tatsächlich sind schon jetzt in der Bundesrepublik etwa 250.000 junge Menschen arbeitslos, eine verlorene Generation - mit den besten Chancen, politisch radikal zu werden oder als Kriminelle Karriere zu machen.
HAUSFRAUEN VON MORGEN
Die Bundesanstalt vermutet, dass insbesondere Mädchen die Dunkelziffer ausmachen. Als Schulabgängerinnen ohne Abschluss, ohne Qualifikation, ohne Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung und ohne Chancen auf einen Job verschwinden sie hinter dem heimischen Herd. - Deutschlands Hausfrauen künftiger Generationen. Gastarbeiterkinder hingegen tauchen unkontrollierbar unter oder werden von ihren Eltern zurück in ihre Heimatländer geschickt. Indes: Ein Ende der trostlosen Situation ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, es wird schon schlimmer kommen. Bereits im Jahre 1984, in acht Jahren, werden nach Hochrechnungen der Bundesanstalt für Arbeit 1,4 Millionen junge Menschen auf der Straße stehen.
KONKURSE, FUSIONEN
Der erste Grund: Die starken Geburtenjahrgänge von 1961 bis 1967 kommen in den achtziger Jahren als Schulabgängerschwemme auf uns zu.
Der zweite Grund: Konkurse und Fusionen beschleunigen die Konzentration der Wirtschaft. So schließen jährlich in der Bundesrepublik 15.000 Handwerksbetriebe, die zu den ausbildungsintensivsten Firmen zählen. Allein im vergangenen Jahr gingen durch diese Pleiten 50.000 Lehrstellen verloren.
Der dritte Grund: Schon vor sieben Jahren erhöhte die CDU/SPD-Koalition mit dem Berufsbildungsgesetz die Anforderungen an die Lehrherren. 140 Berufe ohne Zukunftsaussichten, wie Miedernäherin oder Plüschweber, wurden gestrichen, die allgemeine Berufsschulpflicht auch für Hilfsarbeiter bis zum 18. Lebensjahr eingeführt und der Jugendschutz verbessert - keine Nacht-, Schicht und Akkordarbeit mehr. Die Devise "Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff' dir einen Lehrling an", galt nicht mehr. So sank die Zahl von 600.000 Ausbildungsplätzen in den sechziger Jahren auf 250.000 im Jahr 1975.
GRUNDGESETZ-ARTIKEL - EINE FARCE
Das stark reduzierte Lehrstellenangebot macht den Artikel 12 des Grundgesetzes zur Farce - "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle frei zu wählen." Abiturienten, denen der Numerus clausus einen Studienplatz verbaut, lassen sich als Export-, Industrie- und Versicherungskaufleute ausbilden. Realschüler erlernen das Schweißer- oder Schlosserhandwerk.
SONDERSCHÜLER BEISSEN DIE HUNDE
Auf der Strecke bleiben die am stärksten Benachteiligten in diesem Land: Von denen, die bereits beim ersten Schritt ins Berufsleben stolperten, hatten 40 Prozent keinen Hauptschulabschluss, jeder fünfte Sonderschüler, und sieben Prozent haben nicht einmal dort das Ziel erreicht. In den sogenannten Jungarbeiterklassen treffen sie sich wieder - auf dem Abstellgleis der Berufsschulen. In Dortmund zum Beispiel feilen sie ein Bambi aus Holz oder löten eine Wanduhr aus Draht zusammen - sechs Stunden pro Woche und das drei Jahre lang.
KEINEN GROSCHEN FÜR GEFEILTE BAMBIS
Doch was zählt schon ein gefeiltes Bambi oder eine präzis laufende Wanduhr, wenn die arbeitslosen Jugendlichen keinen Beruf dabei erlernen und nicht einmal etwas Geld mit nach Hause bringen - Selbstbeschäftigungstherapie? Jochen Remmers bekam für seine Holzschnitzerei eine Zwei. Fachlehrer Lichte von der Dortmunder Gewerblichen Schule III: "Er war stolz wie Oskar, etwas geleistet zu haben." Die pädagogische Aufbaubarbeit der Schule machten die Eltern sofort wieder kaputt. Vater Remmers, seit sechs Monaten arbeitslos, kanzelte seinen Sohn ab: "Was willste denn mit solchem Scheiß-Bambi. Geld kannste damit auch nicht verdienen."
ALS HILFSARBEITER "DICKES" GELD MACHEN
Ob in Dortmund oder München: "Junge Leute, die keine Lehrstelle gefunden haben, denken, dass sie als Hilfsarbeiter das große Geld verdienen". sagt der bayerische CSU-Landtagsabgeordnete Karl Schön. Vor allem in den Großstädten bleiben die Schulbänke meist leer. An der Münchner Berufsschule für Jungarbeiter in Giesing kam von 1.000 schulpflichtigen Arbeitslosen im ersten Schuljahr nur die Hälfte zum Unterricht. Im zweiten waren es 30 und im dritten Jahr nur noch zehn Prozent.
PFARRER SO WICHTIG WIE MATHE-LEHRER
Auf dem Lande dagegen, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, die Kleinunternehmer und Handwerksmeister auch in den Berufsschulen das Sagen haben und der Pfarrer so wichtig wie der Mathematiklehrer ist, "da ist keiner eine anonyme Figur und jeder für uns jederzeit greifbar, erklärt Oberstudiendirektor Besserer, Chef der Passauer Berufsschule. In seiner Außenstelle Vilshofen gab es früher nur eine Bäckerklasse. Heute sind es fünf, 1977 sind bereits sieben Klassen eingeplant. In der Schul-Backstube sitzen 22 Lehrlinge wie die Hühner auf der Leiter. Aus dem niederbayerischen Landkreis werden die Jugendlichen jede Woche aus dem 50-Kilometer-Umkreis mit dem Schulbus herangekarrt, um von Meister Josef Huber "die Kunst des Backhandwerks gründlichst zu erlernen" (Studiendirektor Alois Eder). Grund für den Bäcker-Boom: Die Meister besetzen ihre Gesellenjobs mit billigeren Lehrlingen.
BÄCKER-BOOM
Von den 22 Stiften wollten 16 ursprünglich gar keinen Teig kneten. Weil nur das Bäckerhandwerk ihnen eine Lehrstelle bieten konnte, änderten sie plötzlich ihren Entschluss. Huber: "Wir bekommen immer mehr Bäcker. Bald wissen wir gar nicht mehr wohin damit." - Bäckerboom auf bayerisch. Und Recht hat der Bäckermeister. Schon heute arbeiten im Bundesdurchschnitt 65 von 100 Bäckern nicht mehr in ihrem erlernten Beruf. Der viel zitierte goldene Boden des Handwerks ist arg morsch geworden. Denn auch bei den Mauern muss jeder dritte, bei den Metzgern, Schustern, Dekorateuren und Schneidern sogar jeder zweite in die Industrie abwandern.
MEHR AUSBILDUNG ALS EINSTELLUNGEN
Die Handwerksbetriebe bilden mehre als doppelt so viele Lehrlinge aus, als sie später beschäftigen können. Großbetriebe mit mehr als 500 Beschäftigten, Betriebe also, die die besten Voraussetzungen für eine gründliche und vielseitige berufliche Qualifikation bieten, stellen nur ein knappes Fünftel aller Ausbildungsplätze.
FACHARBEITER AM FLIESSBAND
Die Krise der beruflichen Bildung zwingt nicht nur Facharbeiter, am Fließband zu jobben, sie kostet den Steuerzahler auch eine ganze Stange Geld: Umschulung heißt das Zauberwort der Stunde, der Jahre. 1969, als das Arbeitsförderungsgesetz in Kraft trat, drückten 60.000 Arbeitnehmer erneut die Schulbank, 1974 waren es bereits 300.000 (Kosten: 1,5 Milliarden Mark), und 1980 werden es voraussichtlich 800.000 Umschüler sein, die vorher den falschen Beruf erlernt haben oder auch durch wirtschaftliche Strukturveränderungen in einer Sackgasse gelandet sind.
STIEFKIND: BERUFLICHE BILDUNG
Dass neben Klein- und Mittelbetrieben auch der Staat die berufliche Bildung sträflich vernachlässigt, zeigt sich daran, dass er für einen Hauptschüler 22.000 Mark, für einen Realschüler 27.000 Mark, für einen Gymnasiasten 44.000 Mark und für einen Berufsschüler nur 5.000 Mark ausgibt. Diese Benachteiligung sieht auch der Bundeskanzler. Helmut Schmidt (1974-1982): "Guckt man sich nur einmal an, in was für Schulgebäude bei uns Gymnasiasten und Berufsschüler untergebracht sind, dann kann man erkennen, wie über Generationen hinweg die berufliche Ausbildung vernachlässigt worden ist." Und der Bildungsforscher Wolfgang Lempert vom Berliner Max-Planck-Institut: "Die Berufsschule ist ein Feigenblatt, mit dem die pädagogische Benachteiligung der meisten Lehrlinge nur notdürftig verdeckt wird."
15.000 PLANSTELLEN UNBESETZT
Erdrückend ist vor allem der Lehrermangel. 15.000 Planstellen sind unbesetzt, 27 Prozent des Unterrichts fallen im Bundesdurchschnitt aus. Dazu Erich Frister (*1927+2005), Bundersvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1968-1981): "Die Lage der Kollegen in der Berufsschule ist verzweifelt. Sie ähnelt der eines Arztes, dem für die Behandlung von Schizophrenie nur kalte Umschläge zur Verfügung stehen." - Die Situation ähnelt vor allem der von 1906. Damals wies der Stundenplan der Gewerblichen Berufsschule Neuss schon sechs Wochenstunden aus, wobei - im Gegensatz zu heute - das Fach Religion nicht mitgerechnet wurde. 70 Jahre später erhalten nach einer repräsentativen Untersuchung der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (befragt wurden Schüler an allen Hamburger Berufsschulen) 14 Prozent der Schüler noch immer nicht mehr als sechs Unterrichtsstunden pro Woche.
KOMPETENZ-WIRRWAR
Verschärft wird die deutsche Ausbildungsmisere durch einen undurchschaubaren Kompetenz-Wirrwar, verursacht durch einseitige Politiker-Interessen, den Machthunger der Wirtschaftsverbände und der Kulturhoheit der Bundesländer. Bis heute wollen die Bonner Fachminister allein die "Ausbildungsordnung" für die Lehrlinge im Betrieb festlegen. Das eigentlich zuständige Wissenschaftsministerium wird nur am Rande geteiligt. Innenminister Werner Maihofer ( 1974-1978) will sich nicht bei der Ausbildung der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes reinreden lassen. Landwirtschaftsminister Josef Ertl (1969-1983; *1925+2000) möchte allein für seine Bauern zuständig sein. Und Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (1972-1977) will bei den Handwerksstiften und Industriekaufleuten die Oberhand behalten. Insbesondere im Bereich beruflicher Bildung zeigt sich überdeutlich, wie sich der westdeutsche Föderalismus ad absurdum führt - und zudem Millionen sinnlos verschlingt. Modell Deutschland.
KOMPETENZ-CHAOS
Die Kultusminister der Länder dagegen bestimmen die Rahmenrichtlinien für die Berufsschullehrer. Die Gemeinden sollen mit Finanzspritzen der Länder die Schulen bauen. Die Oberaufsicht führt die Wirtschaft. Ihre 73 Industrie- und Handelskammern sowie die 45 Handwerkskammern kontrollieren nicht nur die Ausbildung in den Betrieben, sie zensieren auch die Gesellenprüfungen. Die Folge des Bildungs-Chaos: In keinem Bundesland sind die Ausbildungspläne im Betrieb mit denen der Schule abgestimmt. Wer etwa in Frankfurt Industriekaufmann lernt, muss sich nach den Bestimmungen des Bonner Wirtschaftsministeriums nacheinander in verschiedene Betriebsbereiche einarbeiten: in die Material-, Produktions- und Absatzwirtschaft sowie in das Personalwesen. Der Rahmenplan des hessischen Kultusministers für den Berufsschulunterricht ist ganz anders aufgebaut. Er gliedert sich in eine Grund- und eine Fachstufe, die aber zu wenig auf die spezifischen Kenntnisse eines Industriekaufmanns eingeht.
LÜCKEN ÜBER LÜCKEN
Nach der "Hamburger Lehrlingsstudie" sind 60 Prozent der Schüler der Meinung, dass sie eine "berufliche Bildungslücke" haben und ihr Fachwissen für die Praxis nicht ausreicht. Und 40 Prozent von ihnen halten Lehr- und Ausstattungsmaterial ihrer Schulen für unzureichend. Mit ähnlicher Berufschulkritik wollen sich auch Wirtschaft und Handwerk profilieren, vor allem, um von ihren eigenen Ausbildungsmängeln abzulenken. In der jüngsten Untersuchung des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) "Zur Situation der Berufsschulen" beklagen sich die Unternehmerfunktionäre über ein "schwaches Berufsethos" und mehr "Interesse an ideologischer als an sachbezogener Arbeit" bei der jüngeren Lehrergeneration. Doch gerade das Fach Politik liegt an der Spitze der ausgefallenen Stunden. Und die jüngeren Lehrer bemühen sich, mit Hilfe von Fernsehkameras und Tageslichtprojektoren den Schülern ein wirklichkeitsnahes Berufsbild zu vermitteln. Wie zum Beispiel Jörg Haas und Manfred Heinisch an der Hamburger Berufsschule für Stahl und Metallbau. Eine andere, antiquierte Lehrmethode pflegt dagegen Vize-Direktor Meyer von derselben Schule. Er lehrt immer noch das klassische Einmaleins, wenn er morgens in die Klasse kommt. Meyers Stil macht die Schüler sauer. Sie lesen dann lieber ihre Morgenzeitung.
SAUFEN IN DER FRÜHPAUSE
Bei Willi Skibba, 53, Berufsschuldirektor im schleswig-holsteinischen Meldorf, saufen die Pennäler schon in der Frühpause ihren in kleinen Doornkaat-Flaschen abgefüllten Bourbon-Whisky und lassen bisweilen Stinkbomben hochgehen. Die einzige Rettung sieht der geplagte Pädagoge ("Ich kann zehn Aschenbecher hinstellen und trotzdem liegen die Kippen auf dem Boden") im Blockunterricht. In Städten wie Hamburg, Bremen, Dortmund, Hannover wird bereits im Block unterrichtet. Statt an einem Tag in der Woche, werden die Schüler sechs oder gar dreizehn Wochen hintereinander weg unterrichtet. Der Vorteil: für Schüler und Lehrer: Der Lehrstoff kann in abgeschlossenen Abschnitten vermittelt werden. Der Vorteil für den Betrieb: Der Jugendliche wird nicht jede Woche aus dem Job gerissen. Als Willy Skibba das Modell in Meldorf einführen wollte, gingen die Kleinbetriebe auf die Barrikaden: "Wir können es uns nicht erlauben . . . die Lehrlinge sechs Wochen lang zu entbehren."
AUF INDUSTRIE-SPENDEN ANGEWIESEN
Und als der konservative Pauker mit dem CDU-Kultusministerium in Kiel verhandelte ("Ein muss doch auch in Schleswig-Holstein den Anfang machen"), stürmten ihm Handwerksmeister und Kleinunternehmer die Bude: "Mein lieber Skibba, wenn Sie hier etwas gegen unseren Willen durchsetzen, entziehen wir der Schule unsere Unterstützung." Denn alle deutschen Berufsschulen sind auf Industriespenden (Maschinen und Geld) angewiesen. Nach dieser Standpauke wollte Skibba den Unterricht nicht mehr blocken. In Hamburg dagegen kam es nicht so schnell zum Friedensschluss. Dort zogen 64 Firmen - vor allem Kleinbetriebe - vor Gericht, um den Blockunterricht zu verhindern.
REFORM-GEGNER - CDU-BLOCKADEN
Bei den Auseinandersetzungen um die Reform des Berufsbildungsgesetzes hat sich auch die Großindustrie in die Front der Reformgegner eingereiht, die von den Christdemokraten im Bundestag angeführt wird. Nach den Vorstellungen der SPD/FDP-Koalition (1969-1982) soll
0 das Angebot an Ausbildungsplätzen konjunkturunabhängiger und damit sicherer gemacht werden. Überbetriebliche Lehrwerkstätten sollen besonders in wirtschaftlich schwachen Landstrichen vernünftige Ausbildungsplätze garantieren. Und wenn von den privaten und öffentlichen Arbeitgebern nicht genügend Lehrstellen angeboten werden. sollen mit Hilfe einer Berufsbildungsabgabe der Unternehmer 700 Millionen Mark aufgebracht werden, um neue überbetriebliche Lehrwerkstätten zu schaffen;
0 die Berufsausbildung in eine breitere Grund- und eine darauf aufbauende Fachbildung gegliedert werden, was die Wahl falscher Berufe eindämmen und die berufliche Beweglichkeit verbessern wird;
0 ein neues "Bundesinstitut für Berufsbildung" eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Arbeitgebern und Gewerkschaften ermöglichen und damit eine effektivere Verzahnung zwischen Betrieb und Schule verwirklichen.
FRÜHWARNSYSTEM
Außerdem soll eine Berufsbildungsstatistik als Frühwarnsystem dienen und helfen, Jugendarbeitslosigkeit zu vermeiden. Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (1973-1977; *1915+1977) über die von Wissenschaftsminister Helmut Rohde (1974-1978) geplante Reform: "Die Betriebe sind verunsichert." Und Dortmunds Handelskammer-Präsident Hans Hartwig sieht seine "schlimmsten Erwartungen übertroffen".
SARGNÄGEL AUS DEN LÄNDERN
Die Furcht der Herren scheint unbegründet. Denn mit dem Regierungswechsel in Niedersachsen (1976) hat die CDU ihre Mehrheit in Bundesrat, der dem Berufsbildungsgesetz zustimmen muss, weiter ausgebaut. Der Bildungsexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Georg Gölter (1989/1990 Präsident der Kultusministerkonferenz), mobilisierte bereits die Ministerpräsidenten der Union gegen das Gesetz: "Wenn die Koalition nicht zur Kurskorrektur bereit ist, hat die Berufsbildungsreform keine Chance mehr." Gölter und seine Gesinnungafreunde indes wollen alles beim alten lassen, denn die alte Gesetzgebung von 1969 habe sich bewährt. Die Bundesregierung müsste sich mit einem kostspieligen Flickwerk begnügen, um wenigstens einen Teil der Jugendlichen von der Straße zu holen. Sie stellt schon jetzt 300 Millionen Mark für arbeitslose Jugendliche bereit, die sich weiter schulen lassen wollen.
STILLSTAND TROTZ MILLIONEN-SUMMEN
Auch die Bundesanstalt für Arbeit ist großzügig. Für 27.000 Jugendliche bezahlt die Behörde Lehrgänge an Volkshochschulen und bei Hausfrauenvereinen und Gewerkschaften. Das Arbeitsamt zahlt jedem dieser Jugendlichen 300 Mark Unterhaltszuschuss, und die Arbeitgeber können sich auf den Föderlehrgängen die besten Arbeitskräfte aussuchen, um sie einzustellen - in den ersten zwölf Monaten werden bis zu 90 Prozent der Lohnkosten als Arbeitsförderungsmaßnahme vom Staat übernommen.
BERUF-GRUNDBLDUNGSJAHR
Das von der Bundesregierung angebotene Berufsgrundbildungsjahr nützt noch weniger, denn es wird nicht auf eine spätere praktische Ausbildung angerechnet. Hinzu kommt, dass die Industrie es ablehnt, Lehrlinge einzustellen, die ein Jahr zusätzlich die Schulbank gedrückt haben. So schrieb der Personalchef der Kabel- und Metallwerke in Hannover einen Absagebrief an einen Lehrstellenbewerber, "da wir bei der Übernahme in ein Ausbildungsverhältnis laut Anrechnungsverordnng der Bundesregierug gezwungen sind, das Berufsgrundbildungsjahr voll anzurechnen . . .".
AUSWEG: SELBER UNTERNEHMER SEIN
Resigniert sagte sich deshalb der zwanzigjährige Nobert Dittmer aus Frankfurt im letzten Jahr: "Was soll eigentlich der ganze Quatsch." Er nahm sein Glück selbst in die Hand. Im Frankfurter Stadtteil Bornheim trifft er sich jeden Morgen um 10 Uhr in einem Jugendhaus mit anderen Jugendlichen zum Frühstück, Am Anfang, vor einem halben Jahr, gingen sie gemeinsam zum Arbeits- oder Sozialamt, um sich Tips für Berufsförderung zu holen. Jetzt haben sie sich einen Lastwagen gekauft, um Fuhraufträge wie den Transport von Möbeln oder Klavieren auszuführen. Manchmal streichen sie unter Anleitung eines Tapezierers Wohnungen. Die Jugendlichen: "Wir wollen selber Unternehmer sein".
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Deutsche Professoren von 18 Instituten fordern in einem Appel:
" Schluss mit der Jugendarbeitslosigkeit! Schafft mehr Lehrstellen!"
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Die Katastrophe ist da: In unserem Land gibt es bereits 130.000 arbeitslose Jugendliche, die Zahl der Schulabgänger, die keine oder keine annehmbaren Lehrstellen finden, steigt weiter. Diese besorgniserregende Situation unterstreicht die Bedeutung des Bonner Berufsbildungsgesetzes, das jezt im Bundestag beraten wird. Der nach langem Hin und Her von der SPD/FDP-Koalition ausgehandelte Entwurf wird an der Misere aber wenig ändern.
Nach wie vor ist nicht gesichert, dass Unternehmen, die sich der Ausbildungsaufgabe entziehen, wenigstens zur Mitfinanzierung der Berufsausbildung herangezogen werden. So geraten der Bildungsanspruch des Schulabgängers und Kostengesichtspunkte des Einzelbetriebes ständig in Konflik.
Das vorliegende Gesetz der Bonner Koalition geht von der Annahme aus, Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel seien ein Konjunkturproblem und würden durch den Wirtschaftsaufschwung gelöst. Diese Ansicht ist falsch. Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel sind langfristige Strukurprobleme. Ihre Ursachen liegen vor allem in einem veränderten Arbeitskräftebedarf der Unternehmen (in vielen Betrieben überwiegen immer mehr reine Angelerntentätigkeiten) und in der Monopolstellung der Unternehmen auf dem Lehrstellenmarkt.
Wer die erschreckende und sich zuspitzende Lage überblickt und ehrlich ist, wird eingestehen müssen, dass Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel ohne gezielte Eingriffe in das jetzige Ausbildungssystem nicht abgebaut werden können. Ohne eine dauerhafte und vom Einzelbetrieb unabhängige Finanzierung (überbetrieblicher Fonds) ist weder eine inhaltliche Reform der Berufsausbildung, noch eine Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit, ein Abbau der Jungarbeiter-Zahl und schon gar nicht ein in allen Gebuieten ausreichendes Angebot an guten Lehrstellen möglich.
Notwendig ist ebenfalls eine Stärkung der öffentlichen Verantwortung für die Berufsausbildung, die vor allem durch die Mitbestimmung der Betroffenen, also der Lehrer und Ausbilder, der Lehrlinge, ihrer Eltern und ihrer Gewerkschaften zu verwirklichen ist. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung entspricht diesen Erfordernissen nicht. Die Vorstellungen der CDU/CSU sowie der Unternehmer und ihrer Kammern gehen an der Realität vorbei.
Die Folgen sind absehbar. Vermutlich wird die Öffentlichkeit in den kommenden Jahren mit Schlagzeilen über "Jugendkriminalität", "Jugendradikalismus", "Jugendalkoholismus" und "Drogenkonsum bei Jugendlichen" traktiert werden. Dann sollte niemand vergessen, dass die Grundlagen solcher Entwicklungen, von denen diese Schlagzeilen nur ablenken sollen, unter anderem in einer unzulänglichen und verfehlten Berufsbildungspolitik gelegt sind, wie sie heute zur Debatte steht.
Das Geld und der politische Druck, die für eine durchgreifende Reform der Lehrlingsausbildung heute angeblich fehlen, werden unter dem Eindruck solcher Schlagzeilen dann den Innenministern und der Polizei zur Aufrechterhaltung von "Ruhe und Ordnung" nur allzu reichlich zur Verfügung stehen. Diese "Problemlösung" ist wieder einmal zu befürchten.
Wer solche Entwicklungen abwenden will, wird nicht nur die Bundesregierung an ihre Verantwortung für eine illusionslose und konsequente Politik erinnern müssen. Er wird seine Forderungen auch an die Gewerkschaften als die einzige wirkungsvolle Interessenvertretung der betroffenen Jugendlichen und ihrer Eltern richten müssen. Die Verantwortung der Gewerkschaften, wächst sogar in dem Maße, wie sich die Bundesregierung zur Einlösung ihrer eigenen Reformziele als unfähig erweisen sollte.
Es ist die Aufgabe dr Gewerkschaften, noch wirkungsvoller und nachdrücklicher als bisher auf die Reform der Berufsausbildung zu drängen, ihre eigenen Möglichkeiten (zum Beispiel Betriebsverfassungsgesetz, Tarifverträge) noch stärker zu nutzen, und vor allen Dingen eine Politik zu betreiben, die die Sicherung der Arbeitsplätze und die qualitative Verbesserung der menschlichen Arbeit als unerlässliche Ergänzung zu einer besseren Ausbildung aller Jugendlichen in diesem Lande begreift.
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Dipl.-Politologin Sabine Adler
Bundesinstitut für Berufsforschunf, Berlin
Dipl.-Soziologin Inge Asendorf-Krings
Sozialwissenschaftliches Institut, München
Prof. Dr. Martin Baethe
Universität Göttingen
Dipl.-Soziologe Peter Binkelmann
Sozialwissenschaftliches-Institut,. München
Prof. Dr. Herwig Blankertz
Universität Münster
Dr. Fritz Böhle
Sozialwissenschaftliches Institut, München
Prof. Dr. Ulrich Boehm
Universität Bremen
Prof. Dr. Siegfried Braun
Universität Bremen
Afred Bock
Universität Bremen
Reinhard Crusius
Hochschule für Wirtschaft und
Politik (HWP) Hamburg
Prof. Dr. Lutze Dietze
Universität Bremen
Prof. Dr. Reiner Drechsel
Universität Bremen
Dipl-Soziologin Ingrid Drexel
Sozialwissenschaftliches Institut, München
Dipl-Soziologin Gisela Dybowski
Institut für Sozialforschung, Frankfurt
Dr. Doris Elbers
Berufsbildungs-Instituts, Berlin
Dr. Hannelore Faulstich-Wieland
Technische Universität, Berlin
Dr. Klaus J. Fintelmann, Berlin
Dipl-Soziologin Johanna Hund
Deutsches Jugendinstitut, München
Prof. Dr. Dieter Jungk
Technische Universität
Hannover
Dr. Ulf Kadritzke
Göttingen
Dr. Georg Kärtner
Deutsches Jugendinstitut, München
Prof. Dr. Peter Kalmbach
Universität Bremen
Prof. Dr. Wolfgang Karcher
Technische Universität Berlin
Prof. Dr. Adolf Kell
Gesamthochschule Kassel
Prof. Dr. Horst Kern
Technische Universität Hannover
Prof. Dr. Karl Kran
Universität Bielefeld
Prof. Dr. Helga Krüger
Universität Bremen
Prof. Dr. Wolfgang Lempert
Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung Berlin
Prof. Dr. Antonius Lipsmeier
Gesamthochschule Kassel
Prof. Dr Ingrid Lisop
Universtät Frankfurt
Prof. Dr. Wolfgang Littek
Universität Bremen
Dr. Hartmut Lüdtke
HWP Hamburg
Dr. Wener Markert
Universität Frankfurt
Dr. Ottfried Mickler
Universität Göttingen
Prof. Dr. Hartmut Nölker
Gesamthochschule Kassel
Dipl.-Volkswirt Christoph Nuber
Sozialwissenschaftliches Institut München
Prof. Dr. Claus Offe
Universität Bielefeld
Prof. Dr. Hedwig Ortmann
Universität Bremen
Dr. Martin Osterland
Universität Göttingen
Dr. Lising Pagenstecher
Deutsches Jugendinstitut München
Prof. Dr. Helge-Ulrike Peter
Universität Bremen
Prof. Dr. Theo Pirker
Freie Universität Berlin
Dipl.-PädagogeVolker Preuß
Berufsbildungs-Institut Berlin
Dr. Felix Rauner
Berufsbildungs-Institut Berlin
Prof. Dr. Hedwig Rudolph
Technische Universität Berlin
Dipl.-Soziologin Angelika Schmitt-
Wellenberg
Deutsches Jugendinstitut München
Diplom-Soziologin Irmtraut Schneller
Sozialwissenschaftliches Institut München
Dipl.-Ing. Rolf Schöfer
Technische Universität Berlin
Prof. Dr. Eberhardt Schoenfeldt
Gesamthochschule Kassel
Dipl-Soziologe Rainer Schultz-Wild
Sozialwissenschaftliches Institut München
Prof. Dr. Michael Schumann
Universität Bremen
Dipl-Ing. Helmut Spitzleg
Technische Universität Berlin
Prof. Dr. Hans-Josef Steinberg
Rektor der Universität Bremen
Prof. Dr. Karlwilhelm Stratmann
Universität Bochum
Prof. Dr. Helga Thomas
Technische Universität Berlin
Dr. Wilke Thomssen
Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung Berlin
Prof. Dr. Bodo Voigt
Universität Bremen
Prof. Dr. Wilfried Voigt
Technische Universität Berlin
Manfred Wilke
Hochschule für Wirtschaft und Politik
Hamburg
Dipl.-Soziologe Peter Wahler
Deutsches Jugendinstitut München
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