Donnerstag, 3. April 1975

Warum immer mehr Soldaten Selbstmord machen
















Große Staaten, große Armeen, hohe Suizidraten. Ob bei den US-Streitkräften, in der russischen Armee oder auch bei der deutschen Bundeswehr - weltweit steigt die Zahl der Soldaten, die Hand an sich legen. Jährlich verliert die Bundeswehr Hunderte von Soldaten. Viele sind den psychischen Anforderungen von Militäreinsätzen im Ausland, Erniedrigungen, Schikanen durch Vorgesetzte, Prügelattacken in Kasernen nicht gewachsen - und das seit Jahrzehnten.

stern, Hamburg
3. April 1975
von Reimar Oltmanns

Helm ab zum Gebet - "Ich hatte einen Kameraden, einen besseren gibt es nicht." In der Bundeswehr versuchten sich an die 800 junge Menschen allein in einem Jahr das Leben zu nehmen. Die Armee benötigt keinen äußeren Feind. Sie führt mit ihren Soldaten Krieg gegen sich selbst.

Für die Vorgesetzten war der Gefreite Jochen Willer ein "tadelloser Soldat, der keinen dienstlichen Ärger hatte". Für die Kameraden war Jochen Willer ein Außenseiter, der zu niemanden Kontakt finden konnte. Für ihn selbst war der Drill an Bord des Schnell-bootes "Komoran" der Bundesmarine eine Qual, die ihn in "tiefe Depressionen" stürzte und an Selbstmord denken ließ.

Sein letztes Lebenszeichen kam aus einer Telefonzelle in Wilhelmshaven: "Herr Unteroffizier, hier spricht der Gefreite Jochen Willer. Ich erschieße mich jetzt." Der aufgeschreckte Unteroffizier vom Dienst rannte sofort zum Telefonhäuschen, kam aber zu spät. Der Gefreite lag leblos auf der Erde. Jochen Willers war zwanzig Jahre alt, als er sich mit der Dienstpistole eine Kugel in den Kopf schoss.

DER SPIESS SCHIKANIERT UND BRÜLLT

Der Fallschirmjäger Matthias Heppner fürchtete sich nach jedem Wochenend-Urlaub vor der Rückkehr in die Iserlohner Winkelmann-Kaserne. Der Wehrpflichtige, der vor seiner Einberufung Baggerführer war und sich bei einem Betriebs-unfall einen schweren Lungen-schaden zugezogen hatte, fühlte sich dem Bundeswehr-Schliff nicht gewachsen. Seiner Mutter schrieb er: "Ich schaff' es nicht mehr. Der Spieß schikaniert einen und brüllt herum, wenn ich beim Marschieren nicht mit-komme." Der junge Soldat drehte durch und vergiftete sich mit einer Überdosis Schlaftabletten. Matthias Heppner war 20 Jahre als, als er starb.

ZAPFENSTREICH ÜBERZOGEN

Nach einer Zechtour wollte der Rekrut Friedrich Reinstadler den Zapfenstreich um 22 Uhr nicht einhalten und im Bereitschaftsraum der Niederauer-bach-Kaserne in Zweibrücken weiterbechern. Der Unteroffizier vom Dienst befahl ihm drei Mal, "auf die Stube zu gehen". Doch Reinstadler verweigerte den Gehorsam. Die Folge: Arrest in der Zelle. Die Strafe löste bei Reinstadler eine Kurzschlussreaktion aus. Mit seinen Stiefelschnüren erhängte er sich am Fensterbrett. Er war 20 Jahre alt, als ihn die Wachpatrouille tot auffand.

HEIMWEH

Für den Kanonier Johannes Gerigk dauerte der Dienst in Uniform nur 43 Tage. "Ich bin ganz guten Mutes", schrieb er seinen Eltern im letzten Brief. "An die Anbrüllerei habe ich mich schon gewöhnt. Das macht mir nichts mehr." Doch diese Sätze sollten nur die Eltern beruhigen. In Wirklichkeit hatte er sich mit dem militärischen Dienst nicht abfinden und sein Heimweh nicht überwinden können. Johannes Gerigk war 22 Jahre alt, als er sich in der Kraftfahrzeughalle der Hamburger Röttiger-Kaserne mit der G-3-Knarre selber tötete.

BEI DER MARINE GEFAHR AM GRÖSSTEN

Vier Beispiele für die seit Jahren über die Bundeswehr schwappende Selbstmordwelle. Das Verteidigungs-ministerium möchte die Vorfälle am liebsten tot-schweigen und hat deshalb "totale Nachrichtensperre" verhängt. Im Verteidigungs-Weißbuch 1973/74, das über den Zustand der Streitkräfte berichtet, finden sich zwar ausführliche Bemerkungen über die Verbesserung der Kantinenverpflegung, aber keine Hinweise auf Selbstmordversuche von Soldaten. Presse-Oberst Peter Kommer: "Das sind Themen über die wir nicht informieren."

STRAFANZEIGE BEIM STAATSANWALT

Sogar die Eltern werden über die genauen Umstände, die zum Tod ihrer Söhne geführt haben, im unklaren gelassen. Diese Erfahrung machte auch Vater Otto Gerigk, der elf Monate lang auf eine Stellungnahme der Armee-Führung warten musste. Erst als er Strafanzeige gegen die ehemaligen Dienstvorgesetzten seines Sohnes bei der Hamburger Staatsanwaltschaft (Aktenzeichen: 143 Js 1038/73) erstattete, war die Bundeswehr bereit, wenigstens den Ermittlungsbehörden einen umfang-reichen Bericht vorzulegen.

BEI SELBSTMORD BLOCKEN MILITÄRS AB

Die Abwehrhaltung der Militärs hat einen makabren Hintergrund. Die Quote der Selbsttötungen und der Selbstmordversuche von Soldaten ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Zwischen 1970 und 1974 wählten bei der Bundeswehr 407 Soldaten den Freitod. Bei den Suizidversuchen kletterte die Zahl von 560 (im Jahre 1970) auf 815 (im Jahre 1974) um 46 Prozent.

Diese älteren statistischen Erhebungen mit jüngsten Daten über Suizidgefährdungen verglichen, verdeut-lichen zusehends klarer, dass weltweit in ausnahmslos allen Armeen dieser Welt, junge Männer vom Militär-leben genug haben - einen Ausweg suchen; Kurzschluss-reaktionen oft verheerende Folgen zeitigen. Latent ist das Damoklesschwert der Selbsttötung zum größten Feind aller Armee auf diesem Erdball geworden - und das nicht nur bei der Bundeswehr.

US-ARMY: 18 SELBSTTÖTUNGEN PRO TAG

In den USA wählen Soldaten den Freitod, weil sie meist mit dem Leben nach dem Krieg nicht mehr zurecht kommen. So wie einst nach dem Vietnam-Krieg ( 1965-1975). Insgesamt nahmen sich 58.000 US-Kriegs-veteranen das Leben. Eine alarmierende Zahl, die höher ist als die der in Vietnam gefallenen amerikanischen GIs. Laut einer Untersuchung des TV-Senders CBS sollen sich allein im Jahre 2005 insgesamt etwa 6.000 Kämpfer - das sind 18 pro Tag - in den US-Streitkräften vom Diesseits verabschiedet haben.


SUZUID-REKORDE IN RUSSISCHER ARMEE

Vornehmlich die russischen Streitkräfte, der einst legendär wie ruhmreich gefeierten Roten Armee, übertreffen die US-Army bei weitem. Sie verlieren mehr Soldaten durch Selbsttötung als jede andere Armee der Welt. Die Tageszeitung "Gaseta" berichtete, im Jahr 2007 haben 224 Wehrpflichtete ihr Leben vorzeitig beendet. Die Erosion russischer Streitkräfte verbirgt sich hinter Bezeichnungen wie "Amtsmissbrauch" oder auch "Misshandlung von Rekruten". "Dedowschtschina" heißt das zu bedrückender Berühmtheit gelangte russische Wort. Es bedeutet "Herrschaft der Großväter" - die systematische Drangsalierung, Erniedrigung, Demütigung und brutale Machtausübung von Länger-dienenden über jüngere Rekruten. "Dedowschtschina" ist gewiss auch die Hauptursache für die Mehrzahl der Selbst-morde. Längst ist es eine durch Fakten belegte Tatsache, die russische Armee hat mit brutalster Gewalt in den eigenen Reihen zu kämpfen: Immer wieder Schikanen durch Vorgesetzte, Prügelorgien, Suff-Exzesse, Vergewaltigungen unter Männern bis hin zur Folter von Rekruten.

AUS BERLIN GESCHÖNTE ZAHLEN

Die Bundeswehr hingegen hat nach einem internen Bericht des Verteidigungsministeriums in den Jahren 1998 und 1999 insgesamt 190 beziehungsweise 185 Selbsttötungsversuche registriert. - Tendenz steigend. Als Ursachen werden die erhöhten psychischen An-forderungen von Militäreinsätzen im Ausland ihre zeitliche Länge und die Zunahme traumatisierende Erlebnisse genannt. Bei derlei seelischen Beein-trächtigungen gibt es nach Meinung des Deutschen Bundeswehr-Verbandes eine weitaus "größere Dunkelziffer". Einfach deshalb, weil Soldaten mit psychischen Blockaden oft nicht die Courage besitzen, über ihre Depressionen zu reden - auch keinen psychologisch geschulten Ansprechpartner finden. Fehlanzeige. Uwe Beling, Facharzt an der Kieler Universitäts-Nervenklinik, behauptet, bereits 1967/68 hätten sich 561 Soldaten das Leben genommen und sogar 3.199 Unifor-mierte den Selbstmord versucht. Belling stützte sich dabei auf eine interne Selbst-mordstatistik der Bundeswehr.
SCHROFFE ABLEHNUNG
Der Arzt fand heraus, dass die Selbsttötungsgefahr bei der Marine am größten ist. Belling: "Viele Matrosen kommen aus gestörten Familien. Deshalb suchen sie das Abenteuer in der Ferne. Was sie finden - das sind enge Unterkünfte an Bord und oft knapp bemessene Kneipen-besuche während der Liegezeit an Land. Alkoholmiss-brauch ist Tradition. Wer nicht mitmacht, schließt sich aus. Isolation. Das erhöht die Selbstmordgefahr."

Bellings Forschungsbericht stießen bei der Bundeswehr lange auf schroffe Ablehnung. Erst allmählich und sehr zögernd räumte der frühere Parlamentarische Staatssekretär Karl Wilhelm Berkhan (1915-1994) ein: "Die Selbstmordbekämpfung in der Truppe hat einen hohen Stellenwert."

In einem geheimen und vom damaligen Verteidi-gungsminister Georg Leber (1972-1978) abgesegneten Vermerk für die Personalführung bei den Streitkräften ("Fü S 1 4") vom 4. Oktober 1974 heißt es schon: "Die steigende Zahl der Selbstmordfälle und -versuche besonders bei der Jugend verpflichtet auch die militärischen Vorgesetzten zu besonderer Auf-merksamkeit." Die Dienstvorgesetzten wurden angewiesen, auf folgende Symptome bei den Soldaten zu achten:

o ängstliche Gemütsverstimmungen mit Selbstanklagen;

o unheimliche Ruhe nach verausgegangener Verstimmung;

o langandauernde Schlafstörungen;

o ungewöhnliche Neigung zum Alkoholgenuss;

0 konkrete Vorbereitungen von Selbstmord-Absichten (zum Beispiel Sammeln von Tabletten);

0 direkte oder indirekte Androhung der Tat;

Folgerichtig haben sich die Militär-Ministerialen auch Gedanken über die Ursachen der Selbstmordan-fälligkeit der Truppe in einem gesonderten Dossier gemacht: Da steht Plattitüden: "Süchtige Bindungen an Alkohol, Arzneimittel oder Drogen ... ..., Liebes-, Ehe -oder Familienkonflikte ..., berufliche und finanzielle Schwierigkeiten gefährden den Soldaten."

MANGEL AN PSYCHOLOGEN

Da es in der deutschen Armee an Psychologen und Sozialpädagogen seit Jahrzehnten mangelt - ein Dauerzustand -, empfehlen unisono alle Verteidigungs-minister den Offizieren alte militärische Tugenden als Patentrezept, um die Selbstmordrate zu senken: "Eine straffe Führung, ein ausgewogener Dienstplan ... und das Angebot einer ausgefüllten Freizeit können vor-beugend helfen. Herumgammeln führt nicht selten zu über-mäßigen Alkoholgenuss."

Mit solchen Rezepten will die Armee davon freilich ab-lenken, dass sie bisher nicht in der Lage war, die Selbst-mordgefährdung von Soldaten frühzeitig zu erkennen. Zur Entschuldigung wird angeführt: "Derartige Soldaten wurden meist nur deshalb nicht rechtzeitig aus der Bundeswehr entlassen, weil ihre geringe intellek-tuelle Kapazität wegen ihres angepassten Auftretens, Ge-samtverhaltens und keineswegs dummen Aussehens nicht rechtzeitig erkannt wurde."

Damit die Leutnante und Hauptleute auch möglichst nichts falsch machen, gibt das Ministerium ihnen noch den klugen Rat: "Die meisten Selbsttötungen werden am Sonntag ausgeführt. Selbsttötungsversuche häufen sich dagegen am Montag ... ...".