Donnerstag, 21. August 1975

Die grösste Feuersbrunst in Deutschland: Viele an der Spritze, doch keiner an der Spitze



































































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Zehn Tage lang brannten in Norddeutschland Wälder, Moor und Heide. Fünfzehntausend Mann kämpften bis zum Umfallen gegen die Feuersbrunst in Niedersachsen. Sie versuchten gutzumachen, was andere verschliefen - allen voran der oberste Katastophenschützer, Innenminister Rötger Groß (*1933+2004)


stern, Hamburg
21. August 1975
von Niels Kummer
und Reimar Oltmanns


Alexander Sirakoff, Pförtner im niedersächsischen Innenministerium, wünschte den Herren ein "erholsames und ruhiges Wochenende". Regierungsdirektor Domasch und Ministerialrat Thomas dankten freundlich, verließen das Gebäude am hannoverschen Waterlooplatz und fuhren nach Hause. Das war am Freitag vorletzter Woche, 16 Uhr.

Siebzig Kilometer weiter östlich im niedersächsischen Landkreis Gifhorn, glomm zu dieser Zeit bereits die Lunte zur größten Feuersbrunst in der Bundesrepublik seit Menschengedenken. Ausgedehnte Heideflächen und dichtgepflanzte Kiefernwälder zwischen den Ortschaften Stüde und Grußendorf standen in Flammen. Oberkreisdirektor Rolf Wandhoff gab Katastrophenalarm.

ALARMNACHRICHT

Doch als die Alarmnachricht das Polizeizentrum Adler in der hannoverschen Möckernstraße und von dort aus die Bereitschaftsbeamten Domasch und Thomas erreichte, brachte das die Amtsdiener nicht aus der Ruhe. Ein Waldbrand. Waldbrände hatte es immer gegeben, Hunderte in jedem Sommer. Und Waldbrände würde es weiter geben, solange Bauern trotz hoher Strafanordnung ihre Stoppelfelder abflämmen, Spaziergänger ihre Zigaretten achtlos ins Gras werfen und Großstädter mitten im Wald mit ihren Grills herumkokeln. Wer mag da gleich an eine Katastrophe denken?

Immerhin taten die Beamten, was die Amtsroutine vorschrieb. Sie vereinbarten "häusliche Erreichbarkeit" und verständigten das Bonner Innenministerium. Nur einen informierten sie nicht - Niedersachsens obersten Katastrophenschützer, Innenminister Rötger Groß (1974-1978). Der erfährt von dem Ereignis erst am nächsten Morgen aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung am häuslichen Frühstückstisch mit Ehefrau Eleonore und Sohn Felix. Schlagzeile: "Riesiger Waldbrand bei Gifhorn."

DIE HÖLLE LOS

Aus der Morgenidylle aufgeschreckt, hängt sich der Minister an sein Telefon. Weil er die eigenen Beamten nicht sofort auftreibt, ruft er in Gifhorn an. Er will den Oberkreisdirektor sprechen. Doch er erreicht nur die Kreisschlauchlegerei. Der OKD, so hört er, sei "im Feld". Dort ist die Hölle los. Tausend freiwillige Helfer kämpfen gegen die Flammen, die bereits eine Fläche von 200 Hektar erfasst haben. Ein erstes Opfer ist auch schon zu beklagen - Kreisbrandmeister Friedrich Meyer (*1930+1975) hat auf dem Weg zum Brandherd einen Herzschlag erlitten.

Minister Rötger Groß, der noch immer auf ein beschauliches Wochenende hofft, lässt es gemächlich angehen. Für den Nachmittag beordert der FDP-Politiker einen Hubschrauber, um sich das Feuer mal von oben zu betrachten: "Das ist für mich ja interessant, zu sehen, wie die örtlichen Kräfte damit fertig werden. Das ist eine Erfahrung, die man mal sammeln muss." Um seine Erfahrungen auch im Bild festzuhalten, leiht er sich von seiner Frau eine "Agfa Optima".

FLÄCHENBRAND

Vom Polizeihelikopter aus erkennt der Innenminister noch immer nicht, was sich da unter ihm anbahnt - ein Flächenbrand in einem Landstrich, auf den seit fast drei Monaten kaum ein Tropfen Regen gefallen ist, in dem das Gras trockener als Heu geworden ist, in dem - seit einem verheerenden Orkan im November 1972 - riesige Mengen Baumstämme und Äste herumliegen, ausgedörrt zu riesigen Zündhölzern. Statt dessen knipst der Amateur "interessante Aufnahmen" fürs Familienalbum.

MINISTER FLIEGT EIN

Vor Ort, beim Gespräch mit dem Gifhorner Oberkreisdirektor ("Braucht ihr irgendwas? Kommt ihr klar?"), erreicht der Minister die nächste Alarmnachricht. Feuer auch bei Unterlüß im Nachbarkreis Celle. Rötger Groß, der schon 1964 Katastrophenschutz-Dezernent in Hameln war, dort mit der goldenen Ehrennadel des Bundesverbandes für den Selbstschutz dekoriert wurde und seither gern mit zehnjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet protzt ("Ich rede nicht wie der Blinde von der Farbe"), fliegt hin.

Er landet in hektischem Getriebe. Einheiten von Bundesgrenzschutz, Bundeswehr, Technischem Hilfswerk und Feuerwehr kämpfen gegen ein Feuer, das immer größere Ausdehnung gewinnt. Mitten drin Oberkreisdirektor Axel Bruns (*1915+1990), Ritterkreuzträger, seit über 30 Jahren Kreisfürst in Celle. Selbstsicher meldet er dem Minister: "Mit dem Brand werden wir allein fertig."

Beruhigt fliegt FDP-Mann Groß nach Hause. Das Wochenende hat ihn wieder. Und das Wochenendvergnügen. Auf einer Party zum 50. Geburtstag von Bernhard Kreibohm (*1925+2000), dem SPD-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, hebt er heiter das Glas.

15000 HELFER SIND MACHTLOS

Während der Minister ausschläft, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Bei der Ortschaft Eschede im Kreis Gifhorn breitet sich ein neuer Flächenbrand mit Windeseile aus. 1500 Helfer sind machtlos. Im Kreis Gifhorn werden fünf Feuerwehrmänner von den Flammen eingeschlossen und sterben. Noch immer ist der Krisenstab in Hannover nicht zusammengetreten. Noch immer sieht Niedersachsens oberster Katastrophenschützer Groß keine Veranlassung, die Initiative zu ergreifen. Erst als Bonn den FDP-Landesminister am späten Nachmittag anmahnt, ob er denn keine Hilfe benötige, macht er sich auf die Socken. Da ist es 18 Uhr.

MIT BLAULICHT UNTERWEGS

Er fährt mit einem Streifenwagen los, "weil man ja mit Blaulicht besser durchkommt". Mit welcher Gewalt das Feuer nun schon wütet, erlebt er, als er trotz Polizeibedenken eine Straße passiert, neben der der Wald auf einer Länge von mehreren hundert Metern in Flammen steht. Er ist beeindruckt ("Das war ein toller Anblick"), aber die Erkenntnis, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, die Brandbekämpfung zentral in die Hand zu nehmen, kommt ihm nicht.

Er belässt es bei gutgemeinten Ratschlägen. So rät er, die Einsatzleitung, die Oberkreisdirektor Axel Bruns in der Nähe des Feuers eingerichtet hat, weiter nach rückwärts zu verlegen. Zugleich aber plagen den Verwaltungsjuristen Groß auch schon Zweifel, ob er zu solchen Empfehlungen gegenüber dem Provinzherrn überhaupt das Recht hat ("Der Bruns hat das entschieden verneint"). Der Minister reist wieder ab, im Gepäck als einziges die Bitte von Bruns, ihm 15 Tanklöschfahrzeuge zu besorgen.

BRAV WIE EIN HILFSREFERENT

Brav wie ein Hilfsreferent gibt Groß die Bitte weiter. Von der Kneipe "Kastanienkrug" in Oldendorf aus bestellt er telefonisch die gewünschte Verstärkung. Das Bonner Innenministerium, das seit Freitag bereits auf ein Hilfeersuchen des Landes Niedersachsen wartet, erhält damit endlich eine Antwort. Auf der Rückfahrt nach Hannover beschleicht Minister Groß zum erstenmal das Gefühl, vielleicht doch nicht entschlossen genug gehandelt zu haben: "Das Ganze vor Ort war mir unheimlich."

UNHEIMLICHES SZENARIO

Unheimlich sind dem FDP-Politiker nicht nur das gespenstische Bild lodernder Feuersäulen, sondern vor allem die Zuständigkeitsfragen, denen er sich unversehens ausgesetzt sieht. Der ehemalige Stadtdirektor von Hameln (1964-1972), seit einem Jahr Chef des Innenministeriums, hat aus seiner Zeit als Kommunalbeamter mächtige Ehrfurcht vor den Autokraten der niedersächsischen Provinzen. So traut er sich auch jetzt nichts, sondern sagt: "Ich habe die Oberkreisdirektoren als tüchtige und erfahrene Männer kennengelernt, die bisher jeden Brand gelöscht haben. Wenn ich einem OKD ablöse, der dort seit 30 Jahren amtiert, der dort eine Autorität ist, der sich ein Vertrauenskapital gewonnen hat ... das kann tödlich sein."

HAMBURGER STURMFLUT

Das Zaudern des Ministers ist verhängnisvoll. Groß, der 1962 unter Helmut Schmidt die Hamburger Sturmflutkatastrophe miterlebte ("Er war mein Vorgesetzter"), hat daraus nichts gelernt. Helmut Schmidt, damals Innensenator von Hamburg (1961-1965), hatte sich ohne langes Federlesen über alles Kompetenzgezanke hinweggesetzt, widerborstige Beamte kurzerhand nach Hause geschickt und so in kürzester Zeit eine wirksame Katastrophenbekämpfung möglich gemacht. Der Jurist Groß hätte einen solchen formal zweifelhaften Kraftakt nicht einmal nötig gehabt. Denn, so bestimmt Paragraf 48 des niedersächsischen "Gesetzes über die Öffentliche Sicherheit und Ordnung": Der Innenminister führt die Dienstaufsicht über die Gefahrenabwehr. Und nach Paragraf 47 ist der Innenminister bei Katastrophen sogar berechtigt, den nachgeordneten "Verwaltungsbehörden" (Regierungspräsidenten und Oberkreisdirektoren) klare Anweisungen zu erteilen.

VERRÜCKTE ZÜNDELN

Nichts dergleichen tut er. Als das Land von einer wahren Feuerwelle heimgesucht wird, als Dutzende immer neue Brände ausbrechen, riesige Waldgebiete von der Heide im Süden bis zum Rand von Hamburg im Norden und bis hin zu den Forsten bei Lüchow Dannenberg im Osten vom Flammenmeer verwüstet werden, als dann noch Verrückte und Verbrecher überall in Niedersachsen zündeln, als Tausende verzweifelte Helfer bis zum Umfallen kämpfen und dieser Kampf durch ein organisatorisches Chaos sondergleichen noch erschwert wird - da bleibt dieser Notstand für diesen Minister eine Verwaltungssache.

CHAOS PERFEKT

Die Bilanz ist verheerend. Hunderte Quadratkilometer verbrannte Erde, geschätzter Gesamtschaden 100 Millionen Mark, sechs Feuerwehrleute tot. Vor allem der Mangel einer zentralen Leitung einer starken führenden Hand, zeitigt schlimmste Folgen. Wenn Hilfe kommt, kommt sie zu spät. Ortsfremde Feuerwehr-Männer verirren sich, Hubschrauberpiloten verlieren die Orientierung, den Löschfahrzeugen gehen Benzin und Wasser aus, Telefonleitungen sind blockiert, Funkfrequenzen überlastet. Nicht selten bekommen die erschöpften Männer, die mit Spritze und Feuerpatsche vor den Bränden stehen, 24 Stunden lang weder zu essen noch zu trinken. Die Leiter von Dorf-Feuerwehren, die Oberkreisdirektoren, Bundeswehr-Offiziere und Ministerialbeamte reden durcheinander und gegeneinander statt miteinander - viele an der Spritze, doch keiner an der Spitze.

Erst am Montagmorgen, drei Tage nach Ausbruch der Katastrophe, trommelt Groß den Krisenstab im Innenministerium von Hannover zusammen. Sein Ministerpräsident Alfred Kubel (*1909+1999) ist unterdessen schon zur Tat geschritten. Am frühen Vormittag ruft er den Bundesgrenzschutz-General Paul Kühne, 59, in der Nordring-Kaserne in Hannover an. Er bittet den General, mit ihm in das Katastrophengebiet zu fliegen. Um 14.15 Uhr starten Kühne und Kubel, auch Groß fliegt mit.

BUNDESGRENZSCHUTZ IN AKTION

Alfred Kubel,
der schnell erkennt, dass Oberkreisdirektor Axel Bruns und ebenso Regierungspräsident Hans-Rainer Frede (1971-1976) überfordert sind, nimmt den Weltkrieg-Generalstäbler Kühne beiseite. "Könnt ihr das nicht übernehmen?" Der Innenminister steht daneben und schweigt. Kühne fackelt nicht. Er übernimmt und handelt sofort. Als erstes lässt er die vom Feuer gefährdete Kommandozentrale nach Oldendorf verlegen und gibt Order, den Bundesgrenzschutz-Gruppenstab aus Goslar einzufliegen.

Von Dienstag an führt Paul Kühne das Kommando. Es beginnen die kritischsten 24 Stunden. Ausschnitte aus dem Protokoll dieser Stunden, aufgezeichnet in der Kommandozentrale in der Guten Stube des Bauern Rabe in Oldendorf, spiegeln das dramatische Geschehen.

DIE 24 KRITISCHEN STUNDEN

Dienstagvormittag 11:30 Uhr: Der Wind treibt meterhohe Flammen auf die Ortschaften Rebberlah und Starkshorn. Paul Kühne schickt Bundeswehr und Bundesgrenzschutz zur Unterstützung der Feuerwehr.

11:50 Uhr: Rebberlah und Starkshorn werden evakuiert. Fünf ortsunkundige Feuerwehr-Männer sind von den Flammen eingeschlossen.

13:08 Uhr: Löschfahrzeuge sind ohne Wasser. Brandmeister Lorenz: "Das wird uns noch Ärger machen."

13:46 Uhr: Die eingeschlossenen Feuerwehrleute werden per Hubschrauber gerettet.

15:15 Uhr: Feuer bedroht Eisenbahnlinie Celle-Hamburg. Meldung über Feldtelefon: "Männer sehr erschöpft, brauchen dringend neue Leute."

15:28 Uhr: Kühne ruft Regierungspräsident Frede in Lüneburg an: "Frische Kräfte nicht mehr vorhanden, können Eisenbahnlinie und Bundesstraße 3 nicht mehr halten."

15:48 Uhr: Bundeswehr-Bergungspanzer bei Severloh eingeschlossen.

16:01 Uhr: Meldung vom Hubschrauber: "Feuer rast weiter nach Süden." Akute Gefahr für Celle, 60.000 Einwohner.

16:25 Uhr: Kühne sucht den Celler Branddirektor Bartels: "Wo ist denn bloß die Führung der Feuerwehr?" Aus der Strafanstalt Salinenmoor werden 45 Gefangene evakuiert.

17:17 Uhr: Explosionsgefahr. Das deutsch-britische Munitionsdepot in Scheuen wird geräumt.

17:25 Uhr: Anruf aus Hannover. Der Herr Innenminister lässt anfragen, ob das Feuer schon in Oldendorf sei. Zwischenruf: "Das wäre denen wohl am liebsten, wenn wir hier auch noch abbrennen."

17.35 Uhr: Feldtelefone streiken. Branddirektor Bartels erscheint wieder auf der Bildfläche. Kühne faucht: "Mensch, wo waren Sie die ganze Zeit?"

18.20 Uhr: Zwei Hubschrauber zwanzig Minuten lang vermisst. Die ortsunkundigen Piloten haben sich verflogen.

19:03 Uhr: Neue Explosionsgefahr. Befehl über Funk: "Gasbehälter an der B 191 mit Erde überdecken."

19:45 Uhr: Belegte Brote und Kaffee für den Einsatzstab.

20:30 Uhr: Wind hat gedreht. Feuer dringt nach Süden vor.

22:15 Uhr: Bereitschaft Göttingen ohne Benzin und Wasser.

22:58 Uhr: Wagen der Oldenburger Feuerwehr verschwunden. Die Zentrale ist ratlos: "Die haben sich wohl nach Hause abgesetzt, da brennt es auch."

23:25 Uhr: Funkspruch vom Helikopter: "Feuer vor Hustedt. Mit Toten muss gerechnet werden, Feuerwehrleute türmen."

0:15 Uhr: Flugplatz Arloh in Gefahr.

0.40 Uhr: Lagebesprechung. Hamburgs Oberbranddirektor Maximilian Puchner wütend: Was die bisher gemacht haben, ist große Scheiße. Mit Wasser kriegen wir die Sache nicht mehr in den Griff. Wir müssen jetzt Schneisen schlagen."

1:45 Uhr: Oberst Mittelbach vom Kühne-Stab versucht vergebens, das Innenministerium in Hannover zu erreichen. Major Busch ärgerlich: "Gute Nacht, die schlafen wohl schon."

2:20 Uhr: Panzer walzen Schneisen am Ostufer des Flüsschen Örtze, DRK-Helferinnen bringen frischen Kaffee.

3:30 Uhr: Resignation an der Feuer-Front. Ein Mann der Freiwilligen Feuerwehr Oldendior: "Jetzt können nur noch Profis helfen."

4:40 Uhr: Erschrecken nach Wettervorhersage für den nächsten Tag - Windgeschwindigkeiten bis zu 50 Knoten.

6.00 Uhr: Bremer Feuerwehr-Leute erschöpft nach 36 Stunden bitten um Ablösung. 450 frische Hamburger Feuerwehr-Männer treffen ein.

9.15 Uhr: Oberkreisdirektor Bruns erstattet Lagebericht nach Lüneburg: "Keine neuen Brandherde entdeckt."

11:26 Uhr: Auftatmen in der Kommandozentrale. General Kühne: "Meine Herren, wenn ich mich nicht täusche, kriegen wir die Sache in den Griff."


FEUER IM GRIFF

Paul Kühne täuscht sich nicht. Die Soldaten des Bundeswehr-Generals Garken, die Feuerwehr-Leute aus Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen, die THW-Helfer und Freiwilligen, alle zusammen an die 15.000 Männer, können zum erstenmal Luft holen. Noch glühen zwar die Wälder und Moore, noch wird jeder Mann gebraucht, aber die Feuer-Front marschiert nicht mehr.

Für Minister Rötger Groß ist dies der Augenblick, Entschlusskraft vorzuführen. Tagelang hat er nur einen frustrierenden Job gehabt: Journalisten, in der Annahme, beim Minister zental alle Informationen zu erhalten, drängelten sich bei ihm, doch er hatte sie immer nur dürftig bedienen können. Denn er wusste nichts. Jetzt aber schlägt er zu.


GENERAL GEFEUERT

Unter dem Vorwand, Kühne habe die Anweisung missachtet, alle zwei Stunden Lagemeldungen abzusetzen, feuert Groß den BGS-General. Während der sieben Katastrophentage hilflos und ratlos ohne die Unterstützung der Uniformierten, belehrt er jetzt den Offizier: "Dies ist eine zivile, keine militärische Angelegenheit."

Den Minister irritiert auch nicht, dass seine Attacke rundum nur Unverständnis findet. In Hannover schüttelt Ministerpräsident Alfred Kubel den Kopf, in Bonn nennt Regierungssprecher Armin Grünwald (*1931+1993) die Auseinandersetzung angesichts der Arbeit, die noch zu tun ist, "höchst überflüssig". General Kühne selbst zu dem Minister-Auftritt: "Ich glaube, Herr Groß ist nur beleidigt, dass er nicht über jedes Detail auf dem laufenden gehalten wurde. Er begreift wohl nicht, was es heißt, 15.000 Mann zu führen, dass in einer solchen Situation für Papierkram keine Zeit ist."

ROHRKREPIERER

Der Schuss gegen den General wird für den Minister zum Rohrkrepierer. Im niedersächischen Parlament wird's noch ein Nachspiel geben. Grund genug für Rötger Groß, die nächste Attacke zu reiten. Der oberste Katastrophenschützer, dem Brandkatastrophen wie jetzt in seinem Lande allenfalls in den fernen Buschregionen Australiens denkbar schienen, besinnt sich plötzlich seiner fachlichen Verantwortung. Seit Jahren , so tönt er, sei der Katastrophenschutz wie ein Stiefkind behandelt worden. Sicher hat er recht damit. Aber zum großen Krisenmanager, der er nun gern sein möchte, macht ihn diese Einsicht nicht. Wer denn ist in Niedersachsen verantwortlich für die Versäumnisse, die sich jetzt so teuer rächen und den Politikern wie Öffentlichkeit die Möglichkeit einer Katastrophe überhaupt zum erstenmal ins Bewusstsein rückte? Es ist nur einer - Herr Groß persönlich.

NÄCHSTE KATASTROPHE SCHON GEPFLANZT

Wenn Rötger Groß die zwangsläufigen kritischen Fragen zu seinem Verhalten und zu seiner Befähigung nicht den Ministersessel kosten, dann wird er vorführen müssen, was er vom Handwerk versteht. An ihm wird es sein, auch eine politische Diskussion mit in Gang zu bringen, die sein Ressort gar nicht unmittelbar betrifft.

PRIVATE WALD-BESITZER ENTEIGNEN

Denn die nächste Katastrophe kommt bestimmt. Im deutschen Wald ist sie schon mitgepflanzt. Von hundert Bäumen sind 98 Nadelbäume, leicht brennbar, dicht an dicht. Kiefern und Fichten wachsen schnell, nach 40 Jahren liefern sie schon Nutzholz. Laubbäume, wie Buchen und Eichen, aber brauchen mehr als 100 Jahre. Sie müssen weiträumig gepflanzt werden, sind ideale Erholungsgebiete - und brennen schwer. Aber sie bringen keinen Gewinn, sie kosten Geld. Das kann sich kein Privatbesitzer leisten.

Leisten kann sich das allein der Staat. Will er die gefährliche Monokultur der Nadelwälder durch Mischwald ersetzen, wie Experten es seit langem empfehlen, dann muss er eine politische Entscheidung treffen: die privaten Waldbesitzer enteignen. Das Feuer von Niedersachsen hat dieser Diskussion neuen Zündstoff geliefert.

Niedersachsens glückloser Innenminister Rötger Groß hat sich zu solchen Gedanken noch nicht geäußert. Ihn sorgt zunächst die lädierte Reputation. Er macht in Vorwärts-Strategie: Schuld sind andere - der Finanzminister, die mit dem Geld für den Katastrophenschutz geizen; die Ortsfürsten, die ihn, dem Mann mit der goldenen Ehrennadel, nicht früh genug vertrauten; die Wahnsinnigen, die die Feuer legten. Auf sie hat er zur großen Jagd geblasen.

Biedermann und die Brandstifter.