Donnerstag, 5. Dezember 1974

Ausbeutung - "Brauchst du einen billigen Arbeitsmann,schaff dir n'en Lehrling an" - Den Jüngsten beißen die Hunde.




























Die Bundesrepublik Deutschland in diesen Jahren. In vielen Unternehmen werden Auszubildende von autoritären Lehrherren quasi als Leibeigene misshandelt, als billige Arbeitskräfte missbraucht. Auf der Strecke bleibt die berufliche Bildung mit ihrem fragwürdigen "Dualen System". Dabei fehlt es überall an qualifizierten Fachkräften in diesem Land. Arbeitslos - ohne je gearbeitet oder immer nur den Boden geschrubbt, ohne je ein Schulbuch gelesen zu haben. Schon im Jahre 2015 fehlt es an 45.000 Pädagogen. Rückblicke auf eine eklatante Fehlentwickung

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stern, Hamburg
23. März 1973 /
05. Dezember 1974
von Reimar Oltmanns
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Lehrlings-Alltag in den siebziger Jahren. Der 18jährige Berliner Uwe Moldenhauer, der Einzelhandels-Kaufmann werden möchte, lernt bei der renommierten Feinkostfirma Gebrüder Manns. Doch statt in Betriebs- und Warenkunde ausgebildet zu werden, muss der nur 1,50 Meter große Lehrling Tag für Tag Lastwagen abladen, Warenkartons aufstellen und Bierflaschen sortieren. Moldenhauer: "Bei uns im Geschäft muss ich als Kleinster immer die schweren Kisten schleppen."
AUSBILDUNG: TEEKÜCHE SAUBERHALTEN
Seine Kollegin Sabine Chudzinski ist nicht besser dran. Sie will Verkäuferin werden, aber mit den Kunden von Manns Ladenkette hat sie keinen Kontakt. Ihre Hauptbeschäftigungen sind Putzen ("Ich muss immer unser Teeküche sauberhalten") und Lagerarbeiten. Die 17jährige erbost: "Ich bin kein Lehrling, sondern eine billige Arbeitskraft."
DREI VERWARNUNGEN KASSIERT
Astrid Steckow ist Stift bei der Hamburger Conz GmbH, einer Fabrik für Elektromotoren. Ihr Berufsziel: technische Zeichnerin. Doch die 19jährige lernte nicht nur fleißig am Reißbrett. Sie kämpfte außerdem als gewählte Jugendvertreterin von 100 Lehrlingen hartnäckig für eine bessere praktische Ausbildung im Betrieb und brachte dadurch die Firmenchefs gegen sich auf. Astrid Steckow : "Die Geschäftsleitung ist ungeheuer sauer auf mich, weil ich mich für die Interessen und Probleme meiner Kollegen einsetze." Während der dreijährigen Lehrzeit hat sich die engagierte Jugendvertreterin deshalb bei ihren Lehrherren drei Verwarnungen eingehandelt. Und auf eine Weiterbeschäftigung nach Abschluss der Lehre im April 1975 kann sie nicht hoffen.
LEBEN IN DER TELEFON-ZENTRALE
Elke Kempken musste während ihrer Lehrzeit als Industriekauffrau sogar die Firma wechseln, um die Ausbildung erfolgreich abschließen zu können. Denn bei ihrem ersten Lehrherrn, der Wäschefabrik Rietz GmbH in Rheinhausen, war sie Mädchen für alles. Fast ein Jahr lang saß sie in der Telefonzentrale und erfuhr nichts über Werbung, Absatzmarkt, Verkauf, Einkauf, Werkstoffe, Bilanzen, Kostenkalkulationen oder Finanzbuchhaltung. Auch über das Lohnwesen und die Akkorde hörte sie nichts. Statt dessen musste sie häufig an der Bügelpresse aushelfen und die Fußböden in den Büros wischen. Die 19jährige über ihre Ausbildung: "Meinen Chef war egal, ob wir etwas lernten. Nach zwei Jahren hatte ich es satt, immer nur Hilfsarbeiterin zu sein."
SCHADENS-ERSATZ: 8.000 MARK
Auf Anraten der Industrie- und Handelskammer kündigten die Eltern das Lehrverhältnis. Bei der Thyssen Niederrhein AG in Duisburg setzte Elke Kempken die Lehre fort. Wegen mangelnder Kenntnisse musste sie allerdings das zweite Lehrjahr wiederholen. Für diesen Zeitverlust machten die Eltern die Rietz GmbH vor dem Duisburger Arbeitsgericht verantwortlich. Die Richter gaben Elkes Eltern recht und verurteilten die Textilfirma zur Zahlung von 8.000 Mark Schadensersatz.
ANGST VOR DEN CHEFS
Doch die Auszubildenden, einst Stifte genannt, haben nur selten den Mut, die Ausbeutungsmethoden der Arbeitgeber vor Gericht zur Sprache zu bringen. Der Berliner Gewerkschaftsfunktionär Bernhard Klein: "Die Lehrlinge haben vor ihren Chefs Angst, weil ihnen Repressalien angedroht werden. Außerdem finden die wenigsten bei ihre Eltern die notwendige Unterstützung, um Konflikte im Betrieb durchstehen zu können." Die Quittung für das Stillhalten kommt am Ende der Ausbildung. So bestanden im Januar 1973 in Gütersloh im Elektrohandwerk 41 Prozent der Lehrlinge die Gesellenprüfung nicht. In der Bundesrepublik fallen jährlich rund 60.000 Lehrlinge durch die Abschlussprüfung.
LEHRLINGE: BILLIGE ARBEITSKRÄFTE
Lehrlinge sind billiger als ungelernte Arbeitskräfte. Sie verdienen zwischen 150 und 280 Mark - das ist ein Drittel des Hilfsarbeiterlohn. Wie positiv das Geschäft mit den Lehrlingen für die Firmen zu Buche schlägt, ermittelte jetzt eine Sachverständigenkommission unter der Leitung des Berliner Professors und Bildungsökonomen Friedrich Edding (*1909+2002). Den Durchschnittsverdienst im Kraftfahrzeug-Handwerk und im Gaststätten-Gewerbe, bezifferte die Kommission auf 13.000 Mark. Während der gesamten dreijährigen Ausbildungszeit.
KOSTEN AUF PREISE AUFGESCHLAGEN
Zwar gibt es auch Großunternehmen, die in den siebziger Jahren bis zu 25.000 Mark in die Ausbildung investieren (2002: pro Jahr 8.269 Euro), aber sie bitten denn die Verbraucher zur Kasse. Die Edding-Kommission: "Auf die Konsumenten werden die Kosten der beruflichen Bildung bei den Preisen für Güter und Dienstleistungen abgewälzt." Doch nur rund 150.000 Jugendliche finden einen Platz in den Lehrwehrstätten der Großindustrie, die über moderne Maschinen und fachlich sowie pädagogisch geschulte Ausbilder verfügen.
ZUNFTWESEN DES MITTELALTERS
Die große Masse von insgesamt 1,3 Millionen jungen Menschen wird in Klein- und Mittelbetrieben ausgebildet, wo der Lehrlingsalltag düster aussieht. Dietrich Winterhager vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Westberlin: "Die meist Jugendlichen werden nach Regeln ausgebildet, die zum Teil noch aus dem Zunftwesen des Mittelalters herrühren." Drei voneinander unabhängig durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik erhärten Winterhagers These. In der vom damaligen Mainzer CDU-Ministerpräsidenten Helmut Kohl (1969-1976) geförderten Analyse "Lehrlingausbildungs-Erwartung und Wirklichkeit" wird nachgewiesen, dass in Rheinland-Pfalz "in den handwerklichen und kaufmännischen, aber zum Teil auch in den industriellen Ausbildungsbetrieben eine den gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen entsprechende Ausbildung nicht gewährleistet wird."
DER ZUKUNFT NICHT GEWACHSEN
Die Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik ermittelte bei einer Meinungsumfrage bei 35.000 Lehrlingen der Hansestadt:
0 Nur 36 Prozent der Lehrlinge werden von einem Ausbilder betreut, die restlichen 64 Prozent werden von Gesellen, Lehrlingen und Hilfsarbeitern angeleitet, oder sie bleiben sich selbst überlassen.
0 Nur 31 Prozent der gewerblichen Lehrlinge haben im Betrieb einen Ausbildungsplan.
0 73 Prozent der Lehrlinge werden im alltäglichen Produktionsprozess beschäftigt.
0 30 Prozent der Lehrlinge, die in Akkordabteilungen tätig sind, arbeiten selber im Akkord.
Und das Kölner Institut für Sozialökonomische Strukturforschung stellte bei einer Überprüfung der Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen und Hessen fest:
0 Die wöchentliche Arbeitszeit liegt bei 40 Prozent der Lehrlinge über 40 Stunden, davon bei jedem vierten sogar über 43 Stunden.
0 63 Prozent der Auszubildenden werden von ihren Lehrherren als Boten, Putzhilfen, Lastträger und Kaffeeköche missbraucht.
0 56 Prozent der Stifte hatten im dritten Lehrjahr noch keine Zwischenprüfung abgelegt.
MISSBRAUCH GEDULDET
Bisher hat der Staat dem Missbrauch, der mit den Lehrlingen getrieben wird, tatenlos zugesehen. Zwar dürfen nach dem Jugendarbeitschutz-Gesetz Stifte zwischen 14 und 16 Jahren nicht mehr als 40 Stunden, über 16 Jahren nicht mehr als 44 Stunden in der Woche arbeiten, doch die Vorschriften werden von den Firmenchefs nur selten eingehalten. In den vergangenen fünf Jahren wurden über 300.000 Verstöße gegen das Jugendarbeitschutz-Gesetz registriert. Aber schon die Missachtung des Gesetze ist weitestgehend ungefährlich. Im gesamten Bundesgebiet stehen lediglich 500 Beamte zur Verfügung, um Vergehen zu ahnden. Die Folge: Nur 4,1 Prozent der Gesetzesverstöße können aufgeklärt werden. Die restlichen 95,5 Prozent bleiben folgenlos.
BERUFSBILDUNGS-GESETZ
Im Jahre 1969 versuchte der Gesetzgeber zum ersten Mal, die betriebliche Ausbildung durch das Berufsbildungsgesetz zu bessern. Nach dem Reformmodell mussten die Ausbilder persönlich und fachlich für ihre Lehraufgaben geeignet sein, die Betriebe einen zeitlich gegliederten Ausbildungsplan haben und die Lehrlinge über ihr Berufsbild eingehend informiert werden. Vier Jahre später gibt Bundeswissenschaftsminister Klaus von Dohnanyi (1972-1974) offen zu: "Das Berufsbildungsgesetz ist in zahlreichen Fällen nicht oder nicht seinem Sinn und Zweck entsprechend angewendet worden."
15.000 PLANSTELLEN VAKANT
Neben der betrieblichen Ausbildung ist der Unterricht an den deutschen Berufsschulen ins Feuer der Kritik geraten. Der Hochschullehrer Wolfgang Lempert (Projektleiter am Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1964-1995): "Die Berufsschule ist ein Feigenblatt, mit dem die pädagogische Benachteiligung der meisten Lehrlinge nur notdürftig verdeckt wird." Das Hauptübel ist der erdrückende Lehrermangel. In der Bundesrepublik sind 15.000 Planstellen unbesetzt. Und die Personal-Prognosen sehen alles andere als optimistisch aus. Anno 1998 unterrichteten in Deutschland 110.000 Berufsschullehrer. Weit über 4.000 Planstellen blieben unbesetzt. Für das Jahr 2015 klafft die Ausbildungslücke noch bedrohlicher auseinander. Da dürften nach zuverlässigen Hochrechnungen alsbald 45.000 Pädagogen an Berufs-, Real- und Hauptschulen fehlen.
ALTE STÄRKEN VERSPIELEN
Groteskes aus Deutschland. - Es ist vornehmlich ein vielerorts grassierender Personalmangel, der der wirtschaftlichen Leistungskraft dieser Export-Nation auf hintere Plätze verweisen könnte. Vom Maschinenbau über die Informationstechnik bis hin zur Autoindustrie - überall fehlt es an Ingenieuren, Naturwissenschaftler, Technikern. In klassischen Berufsfelder wie etwa Dreher, Flugzeugtechniker oder auch Schweißer weist die Arbeitsmarktstatistik oft doppelt so viele freie Stellen aus wie Bewerber. Insbesondere bei den Ausbildungsplätze übersteigt neuerdings die Zahl der offenen Stellen wieder die der Schulabgänger. Nach Erhebungen des Instituts verursacht der Personal-Mangel jährlich Wertschöpfungsdefizite von 28 Milliarden Euro. Konsequenzen? Im Gegenteil. So sind die dringend erforderlichen Bildungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines Jahrzehnts von 5.4 auf 5.1 Prozent gesunken. Und auch dies: In kaum einer anderen Nation diktiert die Herkunft eines Kindes so prägend seinen künftigen Lebensweg wie in Deutschland. Dieses Land leistet sich - noch - den "Luxus", jedes Jahr acht Prozent seiner Jugendlichen ohne Abschluss, ohne Perspektive sich orientierungslos selbst zu überlassen - irgendwo bei irgendwem mal "einzuparken". - "Deutschland verliert an Boden", befand die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Sitz Paris).
SCHULBÜCHER VERALTET
Zur mittlerweile Jahrzehnte alten Berufsschulmisere gehörte außerdem, dass die Lehrbücher veraltet und die Pädagogen überaltert sind. In den Schulfibeln wurde das Berufsleben der 50er Jahre beschrieben, technologische Neuerungen und gesellschaftspolitische Probleme wie etwa die Mitbestimmung am Arbeitsplatz blieben über langanhaltende Epochen einfach unerwähnt. Die Kenntnisse der zumeist über 45jährigen Pädagogen sind weit über 20 Jahre alt. Sie stammen aus der Ära, als die Lehrer die eigene Ausbildung beendeten. Fortbildung, Weiterbildung: Fehlanzeige. Zudem glauben fast 60 Prozent der Jugendlichen, dass sie mit dem in der Berufsschule erworbenen Wissensstand in der modernen Berufspraxis nicht bestehen können. Sie fordern deshalb eine stärkere Berufsbezogenheit der Unterrichtsfächer, mehr Mathematik, Fremdsprachen und politische Bildung.
VERBANDS-MONOPOLE HABEN DAS SAGEN
Nachdem die Berufsausbildung zwei Jahrzehnte vernachlässigt worden ist, will die sozialliberale Bundesregierung (1969-1982) die Reform jetzt vorantreiben. Als erstes muss dabei die Monopolstellung der 81 Industrie- und Handelskammern sowie der 45 Handwerkskammern bei der Lehrlings-Ausbildung abgebaut werden. Denn noch bestellen und kontrollieren allein die Wirtschaftsverbände die Ausbilder. Und diese Machtposition wollen die Arbeitgeber nicht räumen. Das Berufsbildungs-Kuratorium der deutschen Wirtschaft: Die Unternehmer werden "alle Reformen und Verbesserungen der beruflichen Bildung unterstützen, solange ihre Verantwortung nicht angetastet wird."
MEHR KOPFARBEIT - WENIGER HANDWERK
Auch die Oppositionsparteien CDU und CSU wollen den Einfluss der Arbeitgeber-Organisationen auf ein Mindestmaß reduzieren und den Industrie- und Handwerkskammern die Kontrollfunktion über die Ausbildung in den Betrieben entziehen, Für die Union fordert der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hans Katzer (1969-1979; *1919+1996): "Bis 1975 müssen 75.000 öffentlich kontrollierte Lehrwerkplätze geschaffen werden, so dass jeder Lehrling ein Vierteljahr in einer überbetrieblichen Institution ausgebildet werden kann." Kosten des Katzer-Plans: 2,25 Milliarden Mark.
AUSBILDUNG: NUR DER STAAT BESTIMMT
Fred Zander, SPD, Parlamentarischer Staatssekretär (1972-1974) im zuständigen Wissenschaftsministerium, will noch einen Schritt weiter gehen. Nach seiner Meinung kann in Zukunft allein der Staat die Ausbildungsinhalte und die Lehrziele bestimmen, deren Verwirklichung in den Betrieben streng überwacht werden soll. Zander,der vor 20 Jahren bei der Kölner Filiale des Volkswagenwerks eine Lehre als Kraftfahrzeugschlosser absolviert hat: "Wenn die Wirtschaft das als eine Machtfrage ansieht, dann ist das ihr Problem. So geht es jedenfalls nicht weiter."
REFORM-KONZEPTE
Ein ausgeklügeltes Reformkonzept hat der Staatssekretär noch nicht, aber er will bei der geplanten Reform Vorschläge des Deutschen Bildungsrates aufgreifen, in denen gefordert wird:
0 eine berufspädagogische Ausbildung (mindestens 200 Unterrichtsstunden) für hauptberufliche Ausbilder;
0 eine mindestens sechsmonatige Grundausbildung für alle Lehrlinge;
0 wöchentlich nicht weniger als zwölf Stunden Berufsschul-Unterricht;
0 individuelle Förderung für über- und unterdurchschnittlich begabte Jugendliche;
0 eine verstärkte Überprüfung der Einhaltung gesetzlicher Ausbildungsvorschriften.
Sicher ist außerdem: Das Schwergewicht der Berufsausbildung soll von den Betrieben auf die Schulen übergehen. Zanders Motto: "Mehr Kopfarbeit und weniger Handwerk." Die angestrebte Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung in den Gesamtschulen kostet allerdings 30 Milliarden Mark und verlangt rund 280.000 Berufsschullehrer. Doch die Bundeskasse ist leer. Und bisher gibt es nur 39.000 Berufsschul-Pädagogen.
AUSWEGE AUS SACKGASSEN
Einen Ausweg aus der Sackgassehat der Deutsche Bildungsrat schon 1969 gewiesen. Er will die Betriebe zur Kasse bitten. Sie sollen "Ausbildungsabgaben" in einen gemeinsamen Fonds einzahlen, aus dem dann Firmen, "die Lehrlinge in entsprechender Qualität ausbilden", Zuschüsse erhalten würden. Die Wirtschaftsverbände lehnen diesen Plan ab. Sie wollen nur Geld locker machen, wenn sie auch den Ausbildungsablauf bestimmen können. Hermann F. Sack, Lehrlings-Experte beim Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT): "Die meisten haben sonst keine Lust mehr, Lehrlinge auszubilden. Denn dann würden die Ho-Chi-Minh-Schreier (*1890+1969; Präsident der Demokratischen Republik Vietnam 1955-1969) Oberwasser bekommen." Trotz des massiven Widerstandes aus dem Untenehmerlager will Fred Zander den Kampf um eine bessere Lehrlingsausbildung nicht aufgeben. Der Staatssekretär: "Erst wenn ich gar keine Chance zur Reform mehr sehe, würde ich mein Amt niederlegen." - Keine 14 Monate später wurde Zander von seinen Aufgaben entbunden.
KEINE LEHRE, KEINE JOBS
Kinder dieser Zeit zu sein bedeutet: die Jugendlichen leben in einer scheinbar perfekt organisierten Gesellschaft, die durch technokratische Wirtschafts- und Verwaltungsabläufe den Menschen total in Griff nimmt. Kinder dieser Zeit zu sein heißt aber auch: die einst als unumstößlich angesehenen Fundamente der bundesdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft sind brüchig geworden. Brüchig deshalb, weil die Normen und Werte nicht mehr stimmen. Die Jahrzehnte lang vorherrschende Formel: Leistung bringt Wachstum und garantiert Wohlstand, wird von immer mehr Menschen radikal in Frage gestellt. Die Norm Leistungsbereitschaft, durch Elternhaus und Schule den Jugendlichen vermittelt, ist schon seit langem instabil geworden. Ein großer Teil der jungen Generation übernimmt die traditionellen Werte nicht mehr. Das Leistungsprinzip, mit dem jeder bisher künftige Erfolge und künftige Gratifikationen verknüpfte, stellt sich zunehmend stärker als Sackgasse heraus. Die vor allem in Mittelschichten vertretene Ansicht, Wohlverhalten, Disziplin und Verzicht werden sich später auszahlen, hat sich als nicht mehr stichhaltig erwiesen.
ZUKUNFTS-ÄNGSTE
Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte im Jahre 1979, wovor sich die Jugendlichen am meisten fürchten.
0 Dass sie nicht den Beruf ergreifen können, den sie möchten (73 Prozent).
0 Dass viele von ihnen arbeitslos sein werden (70 Prozent).
0 Dass man oft keinen Sinn im Leben findet (40 Prozent).
0 Dass man nicht so leben kann, wie man gerne möchte (40 Prozent).
0 Dass oft mehr von einem erwartet wird, als man leisten kann (39 Prozent).
0 Dass viele durch Drogen gefährdet sind (37 Prozent).
EROSION DIESER JAHRE
Eben - die Erosion dieser Jahre: Ein Hauptschulabschluss ist keine Garantie mehr für eine Lehre, ein Abitur nicht mehr für ein Studium, ein akademisches Examen bedeutet schon lange nciht mehr Tantieme und Vorstandsposten. Die traditionellen Werte, wonach auf Leistung und Tüchtigkeit eine Prämie stünde, haben heute keine reale Grundlage mehr. Das merken am stärksten die Jugendlichen, weil sie immer noch mit althergebrachten Erziehungsidealen konfrontiert werden. Die Maxime "Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Befehl und Gehorsam" garantiere Leistung und Erfolg, hat in Wirklichkeit zu einem schleichenden Selbstwertverlust geführt - und zwar nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch unter den Erwachsenen.
SELBSTWERT-VERLUSTE
Szenenwechsel - Schauplätze des schleichenden Selbstwert-Verlustes sind beispielsweise die Dortmunder Gewerbliche Berufsschule III , genauer gesagt, die so genannten "Jungarbeiter-Klassen", in denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefaßt werden. Dabei schien für den Volksschüler Detlef Sorga eigentlich alles klar: Er wollte Fernmeldetechniker werden. Mit seinem qualifizierten Hauptschulabschluss nach dem freiwilligen 10. Schuljahr glaubte der Dortmunder Bergmannssohn sich einer Lehrstelle sicher zu sein. Detlef täuschte sich. Nach der Schule fand der 16jährige weder eine Ausbildungsstelle noch einen Hilfsarbeiterjob. Alltag in Deutschland.
DREI VON VIELEN BEISPIELEN
Sein Klassenkamerad Wolfgang Weber,16, will technischer Zeichner werden. Der Kranführersohn fand keine Lehrstelle und ist seit vier Monaten arbeitslos. Ulrich Schotte, 16, will Schlosser werden. Auch er hat keine Lehrstelle. Er ist schon vor einem Jahr nach der 9. Klasse von der Volksschule abgegangen und ist seit sechs Monaten arbeitslos. Der Sohn eines Hoesch-Arbeiters bekommt 24,50 Mark Arbeitslosengeld die Woche, weil er inzwischen knapp ein Jahr als Hilfsarbeiter auf der Zeche gearbeitet hat.
JUNGARBEITER-KLASSEN
Drei von den vielen arbeitslosen Dortmunder 15- bis 16jährigen. Nur alle zwei Wochen dürfen sie in der Gewerblichen Berufsschule III die Schulbank drücken. In den "Jungarbeiterklassen", in denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefaßt sind. Alle vierzehn Tage sechs Stunden: Deutsch, Rechnen, Religion. Vielen ist die Berufsschule gleichgültig. Oft sind die Klassen nur halb besetzt. Manche Schüler hat Studiendirektor Major überhaupt noch nicht gesehen. "Was will ich denn machen", fragt er, "Jobs habe ich auch keine. Dass die Jungs da keine Lust haben und aggressiv werden, kann ich verstehen."
ZUM NICHTSTUN VERDAMMT
Die meisten von ihnen sind arbeitslos, ohne jemals gearbeitet zu haben. Wie Detlef Sorga. Seit vier Monaten ist er auf Stellensuche. Jeden Morgen blättert der Junge in den Anzeigenteilen der Lokalzeitungen oder fragt beim Arbeitsamt nach Gelegenheitsbeschäftigungen. Niemand weiß, wann für den Brillenträger Sorga mit de Nichtstun Schluss ist, in einem Monat oder auch in einem Jahr. So lungert er tagsüber auf der Straße herum, spielt Fußball, flippert in Spielhallen. Von den Eltern kriegt er zehn Mark Taschengeld die Woche. Arbeitslosengeld bekommt er nicht. Darauf hat nur Anspruch, wer mindestens sechs Monate ununterbrochen gearbeitet hat. Manche seiner Leidensgenossen warten schon am frühen Nachmittag auf Einlass ins "Island", eine Diskothek in der Dortmunder Bahnhofsgegend, wo Nutten und Zuhälter den Ton angeben.
KAUM LEHRSTELLEN-ANGEBOTE
Mit der Jugendarbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist für Gerhard Ahl, Chef des Dortmunder Arbeitsamtes, "eine Lage entstanden, die es noch nie gegeben hat". Allein in Nordrhein-Westfalen bemühten sich im Jahr 1974 insgesamt 74.000 Jugendliche vergebens um eine Lehrstelle. Doch nicht nur im Kohlenpott, sondern im ganzen Bundesgebiet sind Ausbildungsplätze rar geworden. Gab es in Industrie und Handwerk noch 1969 rund 640.000 Lehrstellen, so sank die Zahl bis 1972 auf 340.00. Und seit 1985 bis ins Jahr 2.000 stieg die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen in Deutschland von 6,1 Prozent konstant auf 8,o Prozent.
MAKULATUR FRÜHERER JAHRE
Und das in einer Republik, in der es spätestens ab dem Jahr 2010 überall an Facharbeitern mangelt. Sinkende Geburtenraten, steigende Lebenserwartungen werden als Gründe dafür genannt. Diese Entwicklung wird sich überdeutlich bei den Jugendlichen bemerkbar machen. In der Tendenz dieser Jahre werden Jüngere immer weniger, die Älteren zunehmend mehr. Trotz fortwährender Arbeitslosigkeit ist ein Fachkräftemangel bereits absehbar. Dort, wo Bildungsplan und Schüler-Bedarfsberechnungen künftiger Generationen zwingend erforderlich sind, überlassen in Deutschland der Bund mit seinen 16 Ländern in letzter Konsequenz die Befähigung junger Menschen dem freien Spiel der Kräfte, Angebot und Nachfrage, Konjunktur oder Rezession entscheiden über Bildungsniveau wie auch berufliche Qualifikation. Das Grundrecht auf Bildung, auf Ausbildung ist längst ausgedünnt worden - wird zunehmend zur Makulatur früherer Jahre.
STRUKTURKRISEN
Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in manchen Branchen gravierende Strukturkrisen klassischer volkswirtschaftlicher Kernbereiche offenbarten. Das hat viele Gründe, die da wären:
0 Strukturkrisen und Anpassungszwänge wie in der Bauwirtschaft, in der Automobil-, Textil- und Schuhindustrie;
0 Rationalisierungen in Industrie und Handel. Seit 1965 verringerten sich die Stellung für Verkäuferinnen bereits um 80.000, weil immer mehr Selbstbedienungsläden eingerichtet wurden;
0 außerdem haben Industrie, Handel und Handwerk , die jahrelang über Nachwuchssorgen klagten, wegen der geplanten Berufsbildungsreform de sozialliberalen Koalition von sich aus das Lehrstellenangebot reduziert. Otto Wolff von Amerongen (*1918+2007), Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (1969-1988): "Wenn die Berufsausbildung total verschult und der Betrie zu einem Restfaktor der Ausbildung degradiert wird, übernehmen wir keine Verantwortung mehr."
EIN BISSCHEN ARBEIT "SPIELEN"
Die Folgen: In der Bundesrepublik hatten 1974 rund 200.000 Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren weder Lehrstelle noch Aushilfsjob. Mittlerweile sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen: nur die Situation Jugendlicher auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ihre berufliche Ausbildungschancen, die haben sich nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Zahlen für das Jahr 2008: Von den insgesamt 620.000 gemeldeten BewerberInnen fanden nur 292.130 direkt einen Ausbildungsplatz. Etwa weniger als die Hälfte eines Jahrgangs (241.750) suchten sich notgedrungenerweise eine andere Alternative, etwa Jobben, Grundwehr- oder Zivildienst, Praktika. Zudem wurden 81.500 junge Menschen in spezielle ausbildungsvorbereitende Maßnahmen "geparkt". Bilanz dieses Jahres in einer Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland: Nach offizieller Lesart der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit hingegen blieben lediglich 14.500 Jugendliche chancenlos draußen vor der Tür, ohne einen Ausbildungsplatz , ohne die Möglichkeit einer noch so kleinen Qualifikation auf der Strecke. Arbeitslos ist demnach nur jener, der nach einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachsucht. Die Mehrheit von über Hunderttausender Jugendlicher hingegen wird von derlei beschönigten Statistiken gar nicht mehr erfasst - fällt durchs Raster.
SONDERSCHÜLER: CHANCENLOS
Denn in der allgemeinen Wirtschaftsflaute haben die Schulabgänger nicht einmal als Hilfsarbeiter eine Chance. Nach dem Prinzip. "Den Jüngsten beißen die Hunde" feuern Unternehmer zunächst ihre Jungarbeiter. Waren sie noch nicht länger als sechs Monate im Betrieb, haben sie nicht einmal Kündigungsschutz. Am schwersten haben es die körperlich noch etwa Zurückgebliebenen und vor allem die Sonderschüler und Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss. Um wenigstens einen Teil der arbeitslosen Jungen und Mädchen von der Straße runterzuholen, organisierten das Arbeitsamt und die Dortmunder Bergbau AG eine Beschäftigungstherapie. Am Stadtrand von Dortmund, in der stillgelegten Zeche Zollern II, dürfen sie acht Stunden am Tag hämmern, meißeln, feilen, malen, backen und kochen - eben Arbeit "spielen", notgedrungenerweise.
GELBE SCHUTZHELME MIT ROTEN STREIFEN
Die Teilnehmer an diesem "Gemeinschaftslehrgang zur Erlangung der Berufsreife" bekommen monatlich 300 Mark Ausbildungsbeihilfe. Sie tragen gelbe Schutzhelme mit roten Mittelstreifen. Für den Lehrgangsleiter Fritz Greifenstein ist der rote Streifen das Erkennungszeichen "der Jugendlichen vom Arbeitsamt". Die Lehrlinge und Praktikanten der Bergbau AG auf demselben Gelände haben gelbe und grüne Helme. Nach einem Jahr sollen die Lehrgangsteilnehmer einen Job bekommen. Fritz Greifenstein fürchtet jedoch, dass für mindestens fünfzig Prozent jedes Lehrgangs (150 Teilnehmer) de verrußte Zeche für lange Zeit die einzige "Arbeitsstelle" bleiben wird. weil die Wrtschaft für sie keine Verwendung hat.
PLÄTZE FÜR ABITURIENTEN
Die Berufsberaterin Katharina Torbeck konstatiert mit realistisch Blick: "Unsere Kurse sind natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, zumal die Jugendarbeitslosigkeit in diesen Jahren so stark aufgetreten ist." Die Lage wird nämlich noch dadurch erschwert, dass jetzt auch die Gymnasiasten mit den Haupt- und Realschülern um die wenigen Lehrstellen konkurrieren. Durch den Numerus clausus an den Universitäten kommen 1974 rund 43.000 Abiturienten nicht zum Studieren. Zwar ist die Bereitschaft, ein Studium zu beginnen, noch wie vor hoch. Gleichwohl geht die Studierneigung schon seit einigen Jahren stetig zurück. Von 100 Abiturienten entschieden sich 2002 noch 73 für den Hörsaal. Zwei Jahre später waren es nur noch 71 - und 2006 wollten gar nur noch 65 Prozent der Abiturienten an die Uni.
WARTE NICHT AUF BESSERE ZEITEN
Vielen Jugendlichen ist die Wartezeit auf einen Studienplatz zu lang und zu riskant. Deshalb drängen sie in attraktive Lehrberufe im Bankgewerbe und in der kaufmännischen Branche; den Realschülern und den guten Hauptschülern nehmen sie die Plätze weg. Eberhard Mann, Pressesprecher der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg: "Dieser Trend läßt sich nicht aufhalten. Jeder Betrieb sucht sich natürlich die qualifiziertesten Leute aus." Damit wollte der einstige, lang vergessene Bundeswissenschaftsminister Helmut Rohde Schluß machen mit der Bevorzugung der Universitäten und die Stiefkinder der Bildungspolitik aus dem Keller holen. Seinerzeit verkündete Helmut Rohde lauthalsig: "Für mich hat die berufliche Bildung absoluten Vorrang."
PFLICHTABGABEN
Zukunftsvisionen wurden diskutiert. Sie blieben papierene Skizzen, die nicht einmal den Hauch einer Chance auf Verwirklichung hatten. Bis 1978 wollte der Sozialdemokrat für die berufliche Bildung seiner Lehrling 400 Millionen Mark mobilisieren. Weil aber weder die Länder noch der Bund diese Mittel aufbringen können, sollen die Betriebe zur Kasse gebeten werden und Pflichtbeiträge in einen gemeinsamen Fonds für überbetriebliche Ausbildungsplätze einzahlen. Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung will bis 1978 angeblich mindestens 50.000 überbetrieblich Ausbildungsplätze schaffen. - Absichtserklärungen.
SCHON ZU BEGINN GESCHEITERT
Doch schon nach sieben Monaten Amtszeit droht Helmut Rohde (1974-1978) wie sein Vorgänger Klaus von Dohnanyi (1972-1974) als Wissenschaftsminister zu scheitern, Die Spitzenorganisationen der Deutschen Wirtschaft, allen voran der Deutsche Industrie- und Handelstag und FDP-Wirtschaftsminister Hans Friderichs (1972-1977) kündigten harten Widerstand gegen Rohdes Projekt an. Die Unternehmer wollen keine "Ausbildungssteuer" zahlen, und der wirtschaftsliberale Friderichs möchte vor den nächsten Wahlen keinen Streit mit der Industrie riskieren. Zudem hält Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982), Reformen, die die Industrie belasten, ohnehin für nicht mehr realisierbar.
JUGEND OHNE JOB - EIN DAUERZUSTAND
Bildungsplaner in Bonn und in den Länderministerien fürchten aus gutem Grund, dass die Jugendarbeitslosigkeit eher zu- als abnimmt. In den nächsten Jahren drängen die geburtenstärksten Jahrgänge seit 1945 in den Beruf. Dann müssen bis zu 70.000 Jugendliche jährlich mehr als heute untergebracht werden. Nur - die Bundesanstalt für Arbeit, die sich nunmehr mit dem Beinamen einer Agentur schmückt, will diesen über Jahrzehnte pochenden Notstand nicht wahrhaben. Ihr Pressesprecher Eberhard Mann beschwichtigend: "Jugendarbeitslosigkeit gibt es in der Bundesrepublik nicht."

Nach den APO-Jahren - Nun büffeln sie wieder - Der einzelne kann hier kaputt gehen

















































































































Kampf um Ref
ormen, Kampf für eine neue Gesellschaft, für Gerechtigkeit und Chancengleichheit - das war gestern. Studieren in den siebziger Jahren an den deutschen Universitäten, das heißt: Kampf um den Platz im Hörsaal, Geldverdienen, weil die Studienbeihilfe - BaföG genannt - nicht reicht, Zittern um Zensuren, Angst vor Examen, vor den schlechten Berufsaussichten vielerorts. Denn es gibt zu viele Studenten
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stern, Hamburg
05. Dezember 1974
von Reimar Oltmanns
und Cornelius Meffert (Fotos)
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Seit drei Jahren lebt der Psychologiestudent Jochen Hahne in Zimmer 2223 des Gustav-Radbruch-Hauses, dem Hamburger Studentenheim der Arbeiterwohlfahrt. Wenn der 26jährige Beamtensohn aus Dortmund sich mitten in seine Bude hockt, kann er mit den Armen Bett, Schreibtisch und Bücherbord erreichen. Will Jochen Hahne vom Flur aus telefonieren, meldet er sich bei der Zentrale nicht mit Namen. Er sagt seine Nummer 2223. Jeder im Gustav-Radbruch-Haus hat seine Identifikationszahl. Er ist eine Nummer. Wenn ein Kommilitone Hahne besuchen will und beim Empfang nach Hahne fragt, zuckt der Pförtner nur die Achsel. Erst wer nach Nummer 2223 fragt, erhält die Antwort: "Dritter Stock, vierte Tür links."
EINE NUMMER MIT HEIMKOLLER
Fast jede Woche bekommt Jochen Hahne in Zimmer 2223 dem berüchtigten "Heimkoller". Dann will er seine Bücher in die Ecke knallen, das Studium abbrechen und sich einen Job suchen. Doch immer fügt er sich: Als Examenskandidat im 14. Semester muss er noch ein Jahr für die Diplomarbeit pauken. Er bleibt an seine 10 Quadratmeter kleine Bude gekettet, in die er keine Ordnung bringt. Dicke Schwarten liegen kreuz und quer herum, Zigarettenkippen quellen aus dem Aschenbechern, klebrige Teetassen stehen auf dem Tisch. Wenn Nummer 2223 über die Türschwelle tritt, steht er auf einem 40 Meter langen und 1,20 Meter breiten Flur. Die Wände sind blau oder weiß getüncht. 36 Buden sind auf jedem Flur aneinandergereiht. Das Haus ist zwölf Etagen hoch. - Lernfabrik.
EINZELN KAPUTTGEHEN - KEINER MERKT'S
"Der einzelne", sagt Hahne, "kann hier kaputtgehen, ohne dass irgend jemand es registriert. Hier kümmert sich keiner um den anderen." In solch einem Klima dieser Jahre entstand der studentische Sponti-Spruch: "Ich gehe kaputt, gehst du mit?" Die 23jährige Politikstudentin Christiane Berndt vom selben Stockwerk berichtet: "Diese Isolation ist unerträglich. Es ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit. Viele fangen an zu saufen oder nehmen Tabletten. Immer wieder gibt's nachts Schlägereien. Manchmal sind die Leute so aggressiv, dass sie mit Flaschen aufeinander einschlagen."
KRAWALLE IM SILO
In der Uni heißt das Gustav-Radbruch-Haus "Studenten-Silo". Wie viele Hochschüler in der größten Studentenherberge der Bundesrepublik wohnen, weiß niemand genau. "Für 503 ist ein Zimmer da. Aber es können 700 oder 800 Leute hier leben. Niemand kann das kontrollieren", sagt Hausverwalter Söhnke Hansen. Krawalle im Heim steht Hansen ratlos gegenüber. "Was soll ich machen? Ich habe bisher kaum die Polizei geholt. Sie kann die Konflikte auch nicht lösen. Das Problem ist die Vermassung der Uni. Kaum jemand kennt den anderen. Das schafft Aggressionen."
IMMER MEHR STUDENTEN
Im Wintersemester 1974/75 sind an Hochschulen der Bundesrepublik 780.000 Studenten immatrikuliert - 50 Prozent mehr als 1970 und 170 Prozent mehr als 1960. "Der Andrang und die Zulassungsbeschränkungen", berichtet die Hamburger Studenten-Beraterin Ursula Lindig, "haben die Einstellung der 18jährigen zum Studium und das Klima an den Hochschulen total verändert."
RADIKALER KLIMAWANDEL
Die einst rebellierende akademische Jugend, die sich noch Ende der sechziger Jahre in Berlin, Frankfurt, München, Hannover, Heidelberg mit der Polizei Straßenschlachten lieferte - mal wegen Nulltarif, mal wegen Vietnam, mal wegen Springer - , hat heute keine Nachfolger. Aus den früheren Hochburgen der "Gesellschaftserneuerung" sind Lernfabriken geworden. Statt revolutionärer Theorien wird Mathematik gepaukt. Doch auch der romantische Studententyp mit Wichs, Paukboden und Saufgelagen stirbt aus. Die Traditionsstädte Heidelberg oder Tübingen unterscheiden sich kaum noch von den in Beton gegossenen Neugründungen in Bochum oder Bremen.
SELBSTBEWUSSTSEIN VERLOREN
Ursula Lindig nennt den Grund dieser Entwicklung: "Die Jugendlichen sind nicht mehr so selbstbewusst wie vor acht Jahren. Der Numerus clausus hat sie mit einem Schlag diszipliniert und zu Strebern gemacht." Konnte noch Ende der sechziger Jahre jeder Abiturient studieren, was und wo er wollte, so entscheidet heute allein die Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses, ob der Jugendliche zur Hochschule zugelassen wird. Im Wintersemester 1975/75 reicht der Grenzwert von 1,6 (Medizin) über 2,3 (Architektur) bis zu 3,4 Punkten für das Studienfach Lebensmittelkunde. Stärker als früher sind heute die Gymnasiasten von den Zensuren ihrer Lehrer abhängig. Schon eine Notendifferenz von 0,1 kann darüber entscheiden, ob der Pennäler zum Beispiel Elektronik studieren darf oder zum Arbeitsamt laufen muss. Dann muss er drei, manchmal fünf Jahre warten, bis ihm ein Studienplatz zugewiesen wird.
SOZIALER AUFSTIEG
Da der soziale Aufstieg in Deutschland fast nur über ein Universitätsstudium möglich ist, wird schon jeder Abiturient zum Einzelkämpfer, der sich von den Klassenkameraden isoliert. Die Konsequenz: Unter den Primanern ist Gruppenarbeit, wie sie die Oberstufenreform anstrebt, nicht gefragt; es zählen Einzelleistungen, die für den Lehrer ersichtlich sind. In den Wahlpflichtfächern suchen sich die Schüler nicht die Sachgebiete aus, die sie interessieren, sondern wegen der alles entscheidenden Durchschnittsnote die einfachsten oder jene, in denen sie sich der Sympathie des Pädagogen gewiss sind.
TOTALE ANPASSUNG
Die totale Anpassung der Jugendlichen an ihrer Lehrer wertet die FDP-Bildungsexpertin Hildegard Hamm-Brücher (Staatssekretärin in Wiesbaden und im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1967-1972) als einen kapitalen Rückschlag in der Schulpolitik: "Innerhalb weniger Jahre können damit auch die bescheidensten Ansätze für ein chancengerechtes Bildungssystem zunichte gemacht werden." Zum Windersemester 1974/75 wurden 43.300 Abiturienten von der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund abgewiesen. Lediglich 21.700 schaffen den direkt Sprung zur Uni.
GEDRILLTER, SCHULISCHER EHRGEIZ
Nach dem Motto: "Ich muss hier durch, ich muss meine Scheine machen", übertragen die meisten ihren gedrillten schulischen Ehrgeiz auf die Universität. Wahllos belegen die künftigen Akademiker Fächer-Kombinationen. Kaum einer weiß genau, ob das ausgesuchte Sachgebiet für den späteren Beruf wichtig ist. Eine Umfrage zeigt: 66 Prozent erklärten, in der Schule nicht ausreichend über Studienmöglichkeiten und -bedingungen informiert worden zu sein. Und 33 Prozent der Erstsemestler hatten sich erst nach dem Abitur für ein Studienfach entschieden. So irren die 18jährigen Uni-Neulinge "wie aufgescheuchte Kaninchen zwischen Studentenheim und Hörsaal hin und her", beobachtete der Hamburger Romanistik-Student im 10. Semester Kurt Edler.
PSYCHOLOGEN: VÖLLIG ÜBERFORDERT
Die Psychologen an der Hochschule, die in solchen Fällen Hilfestellung leisten sollen, sind völlig überfordert. Für 30.000 Hamburger Studenten stehen beispielsweise nur acht Psychologen zur Verfügung. Ursula Lindig : "Die meisten Abiturienten haben im fremden sozialen Umfeld Hochschule die Orientierung verloren. Wie sollen sich die Leute auch in diesen Massen zurechtfinden, wenn sie in der Schule nicht einmal gelernt haben, in Gruppen zu arbeiten?" Der Hamburger Universitätspräsident Peter Fischer-Appelt (1970-1991) klagt darüber, dass die Studenten aus ihrer Unsicherheit heraus zu viele Vorlesungen belegen: "Die Krise für den einzelnen ist dann unvermeidlich. Er überanstrengt sich und bricht zusammen. Danach finden die Jugendlichen nur schwer den roten Faden des Studiums."
SELBSTMORD-RATE - PSYCHISCH GESTÖRT
Für manche gibt es kein Danach mehr. In Hamburg ist die Selbstmordquote unter Studenten ein Drittel höher als bei berufstätigen Jugendlichen. Der Göttinger Psychologie-Professor Eckard Sperling (*1925+2007) - (an seiner Universität kommt es "nur" 1,8 mal häufiger zum Freitod als bei anderen Gleichaltrigen in Niedersachsen) ermittelte als Familientherapeut außerdem: 30 Prozent der Studenten in Göttingen sind psychisch gestört.
KONTAKT-BLOCKADEN
Kontakt-Schwierigkeiten lagen mit 24 Prozent an der Spitze der Krankheitsskala. 17,5 Prozent klagten über Leistungsabfall oder Versagen, 14,8 Prozent über depressive Verstimmungen, 13,1 Prozent über Sexualstörungen und 12, 8 Prozent über mangelndes Selbstwertgefühl. Jeder fünfte Studienanfänger gibt auf oder verlässt die Universität ohne Examen. Sie sind dem Leistungsdruck nicht gewachsen. Wie stark inzwischen Vorlesungen, Übungen und Klausuren verschult sind, zeigen Beispiele an der Universität Hamburg:
0 Bei den Betriebs- und Volkswirten gibt es kein Seminar mehr, in dem das zuvor eingetrichterte Wissen zum Schluss nicht abgehört wird.
0 In der Steuerlehre bei Professor Lutz Fischer müssen die Studenten zu Semesterbeginn eine Eingangsklausur schreiben. Diejenigen, deren Ergebnisse unter dem Durchschnitt liegen, werden von dem Hochschullehrer von den Vorlesungen ausgeschlossen.
0 Im romanischen Seminar lesen Studenten wie in der Schule den Dozenten Sprachtexte vor, Vokabeln werden gebüffelt und abgefragt.
ZENSIERT WIE AUF DER PENNE
Nach vier Semestern gibt es Zwischenprüfungen. Studenten, die vom Staat Gelder über das Bundesausbildungsförderungsgesetz BaföG) bekommen, erhalten keine Mark mehr, wenn sie ihr Klassenziel nicht vorschriftsmäßig erreicht haben. Der Romanistik-Student Kurt Edler: "Eine eigenständige Fächerauswahl ist fast nicht mehr möglich, weil wir mit Lernarbeiten eingedeckt sind." Sein Kommilitone Peter Villrock stöhnt: "Zensiert wird hier wie auf der Penne und gesiebt ohne Rücksicht auf Verluste.
... ... UND DIE STUDIENZEIT STEIGT
Trotzdem steigt die Studienzeit ständig, von durchschnittlich 5,7 Jahre (1970) auf 6,3 Jahre (1972). Der Grund: Gut die Hälfte der 780.000 Hochschüler muss nebenher arbeiten, um das nötige Geld zum Lebensunterhalt zu verdienen. Nach einer Berechnung des Deutschen Studentenwerks betragen die effektiven Studienkosten monatlich 660 Mark. Ein Hochschüler verbraucht heute: für Verpflegung 250 Mark, für Miete 150 Mark, für Kleidung 50 und für Bücher, Fahrgeld sowie Utensilien 150 Mark. Die Bundesregierung aber erhöhte die Stipendien nur von 420 auf 500 Mark. Die Folge: 312.000 Studenten arbeiten während der Vorlesungszeit. Jede Stunde, die gejobbt wird, muss hinten ans Studium drangehängt werden. Dazu Psychologiestudent Jochen Hahne: "Wenn sich unsere soziale Lage nicht erheblich verbessert, werden wir bald noch länger studieren.
DOPPELTER STRESS
Der doppelte Stress - Leistungsdruck im Hörsaal und Finanznot auf der Bude - entwickelte bei der Mehrheit der Studenten eine "Arbeitnehmermentalität", so das Münchner Sozialforschungsinstitut Infratest. Beispiele: In Marburg, Köln und Hamburg übernahmen Studenten typisch gewerkschaftliche Kampfformen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie streikten, als in ihren Wohnheimen die Mieten bis zu 37 Prozent herausgesetzt wurden. In Köln und Marburg hatten sie Erfolg. Im Hamburger Gustav-Radbruch-Haus weigern sich die Heimbewohner seit einem Jahr, die von 95 auf 130 Mark erhöhte Miete zu bezahlen. Die Arbeiterwohlfahrt erwägt eine Klage auf Nachzahlung.
"SPARTAKUS" SORGT FÜR RUHE
Infratest widerlegt auch die landläufige Meinung, Studenten seien mehrheitlich radikal, extremistisch und kommunistisch gesteuert. Zwar billigen 57 Prozent der Studenten der DKP-nahen Hochschulgruppe Spartakus zu, sie trete "am entschiedensten für grundlegende Reformen der bestehenden Verhältnisse an den Universitäten " ein. Doch der Grund für die DKP-Sympathien rührt aus dem Versagen der Hochschulverwaltung. Im Wirrwarr extremistischer Gruppierungen übernahm der Spartakus eine Ordnungsfunktion. Für die Neulinge organisierte er an den Hochschulen eine Studienberatung, bekämpfte die Chaoten und forderte praktische Verbesserungen, die auch von bürgerlichen Parteien stammen könnten, so die Abschaffung des Numerus clausus oder den Ausbau von Laborplätzen.
WAHL-PROGNOSEN
Auf die Infratest-Frage "Welche Partei steht politisch Ihren Vorstellungen am nächsten?" entschied sich der akademische Nachwuchs dieser Jahre mit noch 45 Prozent für die SPD, 18 Prozent für die FDP, 14 Prozent für die CDU/CSU, 5 Prozent für die DKP. Nahezu 18 Prozent würden keine dieser Parteien wählen. Radikale Aktionen, wie die Störung von Lehrveranstaltungen, werden von der Mehrheit der Studenten strikt abgelehnt.
ERST BERUF, DANN STUDIUM
Vielmehr beschäftigen sich die Studenten mit ihrer beruflichen Zukunft, seit sie befürchten, nach ihrem Examen beim Arbeitsamt vorsprechen zu müssen. In diesem Jahr (1974) fanden 14.000 Absolventen keine Arbeit. Das sind 40 Prozent mehr als 1973. Vielleicht muss die Bundesrepublik bald das schwedische Modell nachahmen: Dort wurde 10.000 Neuexaminierten eine Umschulung auf Handwerksarbeiten nahegelegt.
AKADEMISCHES PROLETARIAT
Der Westberliner Bildungsökonom Professor Hajo Riese sagt für die Bundesrepublik schon in den nächsten fünf Jahren ein akademisches Proletariat voraus, wenn die Universitäten in ihren Ausbildungsgängen nicht vielseitiger würden und den Absolventen damit eine größere Berufswahl ermöglichten. Riese: "Wir wissen seit Ende der sechziger Jahre, dass zu viele Akademiker traditioneller Art ausgebildet werden. Man hat die Hochschule frei nach Schnauze ausgebaut und Kapazitäten geschaffen, ohne zu fragen, welche Berufe die Absolventen später ergreifen sollen."
MASSENANDRANG
Schon längst hält der Universitätsausbau mit dem Massenandrang nicht Schritt. In den nächsten fünf Jahren werden sich 130.000 Gymnasiasten vergebens um einen Studienplatz bemühen. Nach einem Geheimpapier der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze in Dortmund soll sogar 266.300 Pennälern der Weg zur Hochschule verbaut werden. Dabei werden die vorhandenen Studienkapazitäten nicht einmal voll genutzt. Landesrechungshöfe deckten auf, dass die Hochschulbürokratien der Dortmunder Vergabestelle falsche Platzberechnungen angegeben haben. Beispiele: In Hamburg sind die Nummer-clausus-Fächer Medizin, Mathematik, Biologie und Chemie zu rund 20 Prozent sowie Physik zu 36 Prozent unterbelegt. Die Universitätskliniken Nürnberg und Erlangen reduzieren ihre Ausbildungsplätze für Mediziner sogar innerhalb von vier Jahren um 50 Prozent. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Mediziner ihren Berufsstand bewusst gegen zu zahlreichen Nachwuchs abschirmen.
BILDUNG IST BÜRGERRECHT
Wurden die Eltern in den sechziger Jahren noch ermuntertm ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken ("Bildung ist Bürgerrecht"), so fürchtet sich der Staat heute von einem Akademikerboom. Selbst die Sozialdemokraten befinden sich jetzt auf dem Rückzug, Der Numerus clauses wird von ihnen jetzt nicht mehr bekämpft, sondern ins politische Kalkül eingeplant. Wissenschaftsminister Helmut Rohde (1974-1978) will die Akademikerzahl dem Arbeitsmarkt anpassen. "Der Tankwart mit Hochschulabschluss wird vom Betroffenen nicht als vernünftiges bildungspolitisches Ziel, sondern als eine schlichte Katastrophe im Berufsleben empfunden."
ABITUR BALD PASSÉ
Bildungsökionumen wie der Berliner Friedrich Edding (*1909+2002) und der Heidelberger Georg Picht (*1913+1982) wollen das Abitur als Zulassungsvoraussetzung für das Hochschulstudium abschaffen. Ihre These: Studieren soll nur noch, wer einen Beruf erlernt hat. Friedrich Edding: "Der Arbeitnehmer sieht dann viel eher, ob die Qualifikation, die er erwerben will, gerade gefragt ist."