Donnerstag, 30. Mai 1974

Aus deutschen Landen - Sturmfest und erdverwachsen, so sind die Niedersachsen








































































Was ist los zwischen Harz und Nordsee, wo lange Jahre die Sozialdemokraten regierten, die Bauern herrschen, wo die meisten Eier gelegt und die meisten Rüben gepflanzt werden, wo die Pinkelwurst zum Grünkohl gegessen wird und die größte Autofabrik Europas immer wieder in rote Zahlen gerät? - Sittengemälde eines deutschen Landstrichs aus den vergilbten siebziger Jahren.
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stern, Hamburg
30. Mai 1974 / 8. Januar 1976
von Reimar Oltmanns
und Cornelius Meffert (Fotos)
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Der Niedersachse isst gern fette Pinkelwurst mit Grünkohl oder Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Ein Bier und einen doppelten Korn ("Ein Stein, ein Bock") kippt er schon früh morgens herunter. Der Niedersachse - den es in so reiner Form natürlich nicht einmal in der Statistik gibt - hält sich für trinkfester als den Bayern und singt bei Schützenfesten wie eh und je die "Welfenhymne": "Wir sind die Niedersachsen, Sturmfest und erdverwachsen."
GRÖSSER ALS DÄNEMARK
Im Land zwischen Nordsee und Harz, zwischen Elbe und Weser wachsen nicht nur die meisten Zuckerrüben von ganz Europa, sondern werden auch die meisten Eier von ganz Deutschland gelegt. Dort leben fast fünf Mal so viele Hühner wie Menschen. Und das Land zählt so viele Wähler, wie es Schweine hat: rund fünf Millionen. - Niedersachsen ist größer als Dänemark und hat mit sieben Millionen Menschen mehr Einwohner als die Schweiz. Nach Bayern, hat es die zweitgrößte landwirtschaftliche Nutzungsfläche des Bundesgebietes, mit seiner Industrie rangiert es erst an vierter Stelle.
MACHTFAKTOR: SCHWEINE UND KÜHE
Dieses Land wurde drei Jahrzehnte ununterbrochen sozialdemokratisch regiert ( von Hinrich Wilhelm Kopf *1893 +1961 zu Beginn der Nachkriegszeit bis ins Jahr 1976 von Alfred Kubel* 1909+1999). Aber nur wer über Schweine und Kühe herrschte, hatte Jahrzehnte alle Macht in den Händen", sagte einst stolz Edmund Rehwinkel (*1899+1977 ) bis 1969 Präsident des Deutschen Bauernverbandes auf seinem "Waffenhof" im hannoverschen Westercelle.
LANZEN EINGELEGT
"Mit meiner einen Million Bauern im Rücken, aufgesessen und Lanzen eingelegt, haben wir hier die Politik bestimmt. Da hatte ich mehr zu sagen als die Minister der Landesregierungen", brüstet sich der heute 75jährige Bauernführer. "Wir waren die militanteste Bauernorganisation in Deutschland." Da wurden Kampffonds gebildet, für Preiserhöhungen Bauernmassen mit Treckern in Marsch gesetzt, ein Milchpreiskrieg gegen Bremen und Hamburg geführt.
ZUR ZEIT HEINRICH DES LÖWEN
Wenn Edmund Rehwinkel nicht wollte, kamen sogar Gesetzespläne des ersten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf (1946-1955, 1959 bis 1961) gar nicht ins Parlament. Als Anfang der 50er Jahre die Bauern durch ein Forstgesetz zur Arbeit in den von der Besatzungsmacht abgeholzten Wäldern verpflichtet werden sollten, widersprach Rehwinkel: "Wilhelm, was brauchen wir ein Forstgesetz. Die Wälder forsten wir Bauern schon allein wieder auf." Der Entwurf fiel unter den Tisch. Edmund Rehwinkel ist noch heute stolz darauf, dass er, erst in Niedersachsen, später auf Bundesebene, die Befreiung der Landwirte von der Umsatzsteuer und die Dieselkraftverbilligung durchsetzte. Damals schlug Hinrich Wilhelm Kopf dem Bauernführer vor, so erinnert sich Rehwinkel: "Edmund, mach doch aus deinem Landvolkverband eine Landvolkpartei. Dann können wir Sozialdemokraten mit euch zusammen allein regieren. Dann wäre Niedersachsen wieder, wie einst zur Zeit Heinrichs des Löwen, der mächtigste Staat im Staate."
PREUSSEN-SCHOCK
Stark und mächtig möchten die Niedersachsen schon sein. Bis heute haben sie sich von ihren Preußenschock nicht erholt: Dass sich der blinde Welfenkönig Georg V. von Hannover 1866 gegen die Preußen bei Langensalza kampflos geschlagen gab und sein Land von Preußen einkassieren ließ. Erst als die Alliierten im Jahre 1946 Niedersachsen zu einem Bundesland machten, "kamen wir wieder an den Drücker" (Rehwinkel ).
DOPPELKOPF IN ALTSTADT-KNEIPEN
Wer in Niedersachsen nach dem Krieg auch das Sagen hatte, ob der Bauernführer, der konservative Sozialdemokrat Kopf, die ehemaligen Bundesminister Hans-Christoph Seebohm (1949-1966; *1903+1967) und Heinrich Hellwege (1949-1955; *1908+1991), erst in der stramm nationalen "Deutschen Partei", dann in der CDU, ob in Hannover eine Große Koalition herrschte oder die Christdemokraten in der Opposition standen: Alle fühlten sich zuerst als Welfen, dann als Parteipolitiker, Nach harten Redeschlachten im Provinz-Parlament hockten die "Kopf und Hellweges" einträchtig in hannoverschen Altstadt-Kneipen zusammen, spielen Skat oder Doppelkopf und machten sich lustig über den Spektakel, den sie gerade im Landtag für die Öffentlichkeit veranstaltet hatten.
UR-GESTEIN
Es waren auch die Zeitläufte, Jahrzehnte eines noch erkennbaren niedersächsischen Ur-Gesteins im deutschen Journalismus. Unverwechselbar hat er seine Nachrichten-Geschichten und Reportagen oft mit hintergründiger Ironie und Beobachtungsgabe formuliert. Der Spiegel-Korrespondent zu Hannover, Wolfgang Becker (*1922+2008), wurde schon zu Beginn der sechziger Jahre zur Legende. Mit Vorliebe traf er meist seine Informanten an Bier-Tresen oder Eckzimmern stadtbekannter Pinten. Zwischendurch verschwand Spiegel-Becker immer wieder mal aufs Klo, um Zitate seiner Gesprächspartner auf Bierdeckel oder Quittungen zu notieren.
SCHNÜFFEL-HONORARE
Wolfgang Becker wurde in seinen journalistischen Jahrzehnten zu einer unbestechlichen Instanz - kritisch und frei - im Niedersachsen-Land. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit gewinnt erst bei näherer Betrachtungsweise an Tiefenschärfe, an Gewicht - gemeint ist die allseits um sich greifenden, unauffällige journalistischer Käuflichkeit; Gefälligkeitsberichte genannt. Es blieb dem Verfassungsschutz-Chef Joachim Bautsch in Hannover vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass zwölf Korrespondenten namhafter Zeitungen auf der Gehaltsliste seiner Schnüffel-Behörde stehen; jedenfalls als "besonders gute Gelegenheitsinformanten". ihr Handwerk versehen. Deshalb wünsche er sich, dass noch mehr spürsinnige Redakteure mit dem Inlands-Geheimdienst zusammenarbeiteten.
WELFEN-KUMPANEI
Zumindest in der Politik fand die ehrbare Welfen-Kumpanei erst ein jähes Ende, als die Große Koalition im niedersächsischen Landtag 1970 zerbrach. Mit dubiosen FDP- und rechtsradikalen NPD-Überläufern wollten die Christdemokraten den SPD-Ministerpräsidenten Georg Diederichs (*1900+1983) stürzen und ihren Vorsitzenden Wilfried Hasselmann (*1924+2003) auf den Stuhl Landesvater-Stuhl hieven. Sie wähnten sich zu besagter Zeit schon als gestählte Sieger des Machtwechsels. Im Fraktionssaal stimmten die CDU-Männer bereits ihr "Niedersachsen-Lied" an. "Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen ... Heil, Herzog, Widukinds Stamm." Doch der CDU- Coup scheiterte. In den Landeswahlen 1970 bekam die FDP mit ihren 4,4 Prozent nicht einen einzigen Abgeordneten ins Parlament, und SPD-Ministerpräsident Alfred Kubel (1970-1976; *1909+1999) musste seitdem mit einer Stimme Mehrheit (SPD: 75, CDU: 74) im hannoverschen Leineschloss regieren.
"LUMPENPACK"
Jetzt schimpfen beide Seiten nur noch übereinander: "Mit diesem Lumpenpack diskutiere ich nicht mehr" (Kultusminister Peter von Oertzen, SPD (*1924+2008) zur CDU. - "Sie sind ein Menschenverächter" (CDU-MdL Edzard Blanke zu Ministerpräsident Alfred Kubel) - "Hier wird Sozialismus auf dem kalten Wege eingeführt" (Niedersachsen CDU-Generalsekretär Dieter Haaßengier zur SPD. Wenn die CDU am 9. Juni 1974 die absolute Mehrheit gewinnen sollte, will Oppositionsführer Wilfried Hasselmann, ein Neffe Rehwinkels, deshalb auch gleich alle "linken Sozialdemokraten" aus den Ministerien feuern.
FRAUEN-FEINDLICHE WITZCHEN
Er ist der Motor einer wie auch immer lancierten "geistig-moralischen Wende", die es von langer Hand vorzubereiten gilt. Hemdsärmelig zieht der gelernte Bauer durch Rathäuser und über Schützenplätze; schulterklopfend bei Bier und Korn mit frauenfeindlichen Witzchen im Repertoire. ("Ach, gnädige Frau, wie fühlen wir uns denn, wenn wir unsere Tage haben") . Die SPD schaut bei derlei Volkstümelei hilflos drein. Artig wirft sie den Konservativen lediglich vor, sie hätten keine politischen Alternativen anzubieten und schürten nur Angst und Verdrossenheit im Lande. Und der 1970 geschlagene FDP-Chef Rötger Groß (Innenminister 1974-1978, *1933+2004), passionierter Nicht-Reiter, setzt sich für den Wahlkampf sogar auf ein Pferd, um das "Niedersachsen-Roß wieder auf Trab zu bringen". Groß: "Das ist doch ein müder Gaul geworden."
DORFSCHWOF, "BULLENSCHLUCK"
Doch die Menschen auf dem Lande lassen sich nicht durch Reiterkunststücke und auch nicht durch die CDU-Parole "Ran mit Hasselmann" oder den SPD-Slogan "Niedersachsen in fester Hand" aus der Ruhe bringen. Hier zählen das Schützenfest und der Dorfschwof am Sonnabend, der Ammerländer Schinken und der hochprozentige "Bullenschluck" mehr als schwarz-rote Konfrontationspolitik. Und bei der Lokalpolitik machen heimatliche Matadoren das Rennen. Ein Beispiel: Obwohl SPD und FDP bei den letzten Gemeinde-Wahlen in Bad Zwischenahn die absolute Mehrheit im Gemeinderat gewannen, blieb CDU-Landtagsabgeordneter Diedrich Osmers Bürgermeister.
MEINUNGS-DRUCK
Osmers erzählt, wie er es wieder hingekriegt hat: Eine CDU-gesteuerte "Bürgerinitiative" sammelte am Sonntag nach der Wahl 4.800 Unterschriften für ihn, und die Siegerparteien mussten sich dem "öffentlichen Meinungsdruck" beugen. Seine Freunde sind von Kneipe zu Kneipe gezogen. "Als die Leute besoffen waren, wurden die Listen eingesammelt und wieder woanders hingelegt" (Osmers).
HÜTER VON ANSTAND UND TRADITION
Als Hüter von Anstand und Tradition treten überall im Lande die Herren vom Kleinkaliber auf. Mit 250.000 Mitgliedern ("Üb' Aug' und Hand fürs Vaterland") hat Niedersachsen die stärksten Schützenverbände in der Bundesrepublik. Die Schützen fühlen sich aufgerufen, die "bedrohte Gesellschaftsordnung" zu verteidigen. Ehrenpräsident Gerd Müller im April 1974 auf dem nordwestdeutschen Schützentag: "Wenn wir keinen Durchbruch schaffen, hat die Menschheit keine Existenzberechtigung mehr. Der Schützenverein ist die einzige unpolitische Organisation, die wieder auf Menschen Menschen machen will."
MONOPOL DER KATHOLIKEN
Im südoldenburgischen Vechta, wo es kaum Industrie gibt, haben CDU und katholische Kirche das Monopol. Jeder zweite geht regelmäßig zum Gottesdienst und zur Beichte. Etwa 70 Prozent wählen christdemokratisch. Hier verdient die Bevölkerung am wenigsten, ist die Arbeitslosigkeit am höchsten, sind die kinderreichsten Familien der Bundesrepublik zu Hause. Weniger verdient wird auch im Emsland: Der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Aschendorf-Hümmling ist 930 Mark im Monat (Bundesdurchschnitt 1170 Mark). Der Geburtenüberschuss beträgt in Vechta dafür 8.8 Prozent (Bund: minus vier).
"LASS JUCKEN KUMPEL"
In dem 25.000-Einwohner-Städtchen, wo Weihbischof Freiherr Max Georg von Twickel über Gut und Böse befindet, sind Sex-Filme ("Lass jucken, Kumpel") zwar Kassenmagnete in den Kinos. Aber Antibabypillen müssen sich Studentinnen der Pädagogischen Hochschule im schwarzen Vechta für 9.50 Mark auf dem grauen Markt beschaffen (Ladenpreis: 7,25 Mark). Apotheker und bekennender Katholik Hermann Bockstiegel prüft mit Argwohn, ob die Kundinnen, die ein Pillenrezept vorlegen, auch verheiratet sind. Frauenarzt Holger Wirmer will Studentinnen sowieso kein Rezept ausstellen: "Gerade die Intelligenz muss sich vermehren."
KLEINBÜRGERLICHE RADIKALITÄT
Im Südosten Niedersachsens, in Braunschweig und seinem Umland, tritt "kleinbürgerliche Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", erklärt Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Braunschweiger ließen sich schon oft von extremen Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-Herzog Ernst August (*1897+1953) zum Thronverzicht. Und dort, wo dann der sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde, marschierten 1931 riesige SA-Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. 1932 wurde Adolf Hitler vom Braunschweiger Innenminister zum Regierungsrat ernannt, damit er deutscher Staatsbürger wurde und für die Reichstagswahl kandidieren konnte.
BRAUNE "KLEINSTADT-ELITE"
Zu jener Zeit versammelte sich die "Kleinstadt-Elite", etwa des Städtchens Schöningen am Elm, all abendlich zum Fanfaren-Stoß vor dem stattlichen SA-Uniformgeschäft auf dem Markt; ein Fanfaren-Stoß als Genugtuung, ein Fanfaren-Stoß auf das "Tausendjährige Reich" - "Nun laßt die Fahnen fliegen", schallte es in diesen düsteren Jahren in die Gassen hinein. Und zum Tanzen gingen Hitlers Deutsche natürlich in den legendenumwobenen "Schwarzen Adler" mit seinem prächtig ausstaffierten Parkettsaal - abends. Denn tagsüber schlugen, folterten SA-Schergen in seinen Kellerräumen jüdische Mitbürger zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich.
RESTAURATIVER NEUBEGINN
Hier agierten Hitler-Jungen der letzten Tage und Männer nach dem Zusammenbruch der ersten Stunden; enge, mitunter unbelehrbare Geister des restaurativen "Neubeginns." Einer von ihnen - noch vielen in markanter Erinnerung - war der unscheinbar dreinschauende Elektriker Lothar Liehr* . Ein junger Mann, ein Energie-Bolzen, ein Selbst-Darsteller, der mit dem Knüppel aufgewachsen, durch und mit dem Knüppel sozialisiert worden ist - mir nichts dir nichts ging er auf die Leute los. "Privat-Unterricht" oder auch "Erklärungsmuster" für Braunröcke hatte Liehr als eingeschriebener HJ-Pimpf beim Polizeihauptmann Karl Stockhofe, dem KZ-Kommandanten zu Moringen (Juni 1933), in den angrenzenden Wäldern um Braunschweig bekommen. Damals ging es in seinem Örtchen jedenfalls zentral darum, wie er als führender Hitler-Junge "zur Sache" gehen soll. Schöningen sollte in jenen Jahren schnellstens "judenfrei" werden. Schließlich war er , Liehr, bereit, "für Deutschland zu sterben". Das wiederholte er gern und immer wieder - ungefragt versteht sich. Da wurden halt überall jüdische Lädchen kurzerhand ausgeräumt, Scheiben zerdeppert, Kassen geplündert, Frauen mit zerrissenen Kleidern auf den Marktplatz gezerrt.
WENDEHALS
Zweifelfrei war Hitler-Junge Liehr , selbst in seiner Familie zuweilen als Knüppel-Liehr gescholten, auch nach dem Kriege ein Mann der ersten Stunde; zunächst als nächtlicher Kohlen-Dieb auf den Abstellgleisen des Bahnhofs, wo er mit Briketts beladenen Waggons seine Säcke füllte. Sodann ganz nach dem Roman-Motto des Gottfried Keller (*1819+1890) "Kleider machen Leute", in der frischen eingepassten Ausgeh-Uniform der neu sortierten Ordnungshüter : mit Koppel, Knüppel, Helm, und Stiefel, Motorrad-Montur. Wendehälse mit Kalendersprüchen.
HITLER-JUNGE MIT BAUSPAR-VERTRÄGEN
Meist waren es Freunde und Bekannte aus unrühmlichen Tagen, aber sie freuten sich, waren richtig stolz auf ihren alten Kumpanen, als ihr Lothar in der frischen Ausgeh-Uniform eines Bereitschafts-Polizisten die Niedernstraße, dem Geschäftsboulevard der Kleinstadt, hoch und runter marschierte. "Siehe ,da läuft doch unser Lothar, tönte es vom Butzenscheibensims des Fahrrad-Händlers Kröckel. Endgültig vergangen, vergessen, schienen auch jene unliebsamen Momente, in denen sich "uns Lothar Liehr " im verwaschenen "Blaumann" eines Elektriker-Lehrlings zu zeigen hatte. "Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre und Schöningen bleibt doch Schöningen, wir waren wer, wir sind wieder wer", weissagte er da. - Ehedem in der Uniform eines Hitler-Jungen, nunmehr mit Bauspar-Verträgen des Beamten-Heimstätten-Werkes aus Hameln. Marktplatz-Idylle. Deutsche Verhältnisse. Atemnot.
ZONENGRENZE
Barometer politischer Strömungen ist Braunschweig seit Kriegsende nicht mehr. Die nahe "Zonengrenze" hat die Stadt von ihrem wirtschaftlichen Hinterland abgeschnitten. Zwar fließen seit Jahren Steuergelder in Millionenhöhe in den 560 Kilometer langen Grenzlandstreifen. "Jedoch ohne großen Erfolg", klagt Schöppenstedts SPD-Landrat Helmut Bosse. Von der Zonenrandförderung profitieren wenige Großunternehmen wie das VW-Werk in Wolfsburg. Doch in den Grenzkreisen Gifhorn, Helmstedt oder Wolfenbüttel investierte kein kapitalkräftiger Wirtschaftsbetrieb. Das Helmstedter Kohlenkraftwerk musste in den vergangenen Jahren sogar 4.000 Arbeiter entlassen. Braunkohle war nicht mehr gefragt. - Tote Hose vielerorts, fast überall.
VERGREIST - AUSGEBLUTET
Die Gegend, in der einst Till Eulenspiegel (*1300+1350) den Bürger seinen nackten Hintern präsentierte, ist ausgeblutet. Die Kleinstädte Schöningen oder Schöppenstedt sind vergreist. Zwei Drittel der Bevölkerung im Zonenrand ist älter als 60 Jahre. Nach dem Schulabschluss verläßt die Jugend fluchtartig ihre triste Heimat. Zurück bleiben Krämerläden, verfallene Häuser, Kleingärten, Braunkohlegeruch.
HOFFNUNG HEISST VW
Dagegen ist das Volkswagenwerk in Wolfsburg trotz mancherlei Absatzkrisen und Einbrüchen ein Lichtblick an der DDR-Grenze. Ohne das Wirtschaftswunder VW wäre die Industrialisierung des Agrarlandes noch langsamer vorangekommen. Dafür sind jetzt Hunderttausende Existenzen von dem größten europäischen Automobilproduzenten abhängig: 6.500 Zuliefererbetriebe in der Bundesrepublik und jeder vierte Arbeitsplatz in Niedersachsen. Kriselt es bei VW, dann schlittert das ganze Land in die Flaute. Arbeitslosigkeit und Steuerausfall sind die Folgen. 470.000 unverkaufte Autos auf der Halde und geschätzte Jahresverluste von 250 Millionen Mark lösten im hannoverschen Wirtschaftsministerium Unruhe, Panik aus. Doch Minister Helmut Greulich (*1923+1993) ist optimistisch: "Mit den drei neuen Kleinwagen, die VW im Herbst auf den Markt bringt, werden wir die Talsohle sicherlich überwinden."
KEKSE, SCHNAPS, GUMMI
Ohne VW geht, läuft nichts in diesem Land. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Und das trotz Continental-Reifen und Bahlsen-Kekse aus Hannover, Stahl aus Peine-Salzgitter, Olympia-Schreibmaschinen aus Wilhelmshaven, Nino-Textilien aus Nordhorn und Doornkaat aus Norden. Immerhin hat Niedersachsen seine Industrie-Produktion seit 1950 auf rund 30 Milliarden Mark jährlich verzehnfachen können.
ALLMACHT-FANTASIEN
Neuerdings wollen auch die Ostfriesen ins Milliardengeschäft einsteigen. Südlich des Fischerdorfes Greetsiel, wo noch Milchkühe hinter dem Deich grasen, der alte Krabbenfischer Jan Müller mit seinem Schlickrutscher durchs Watt zieht und Aale aus den Reusen holt und der Gesangsverein "Seeschwalbe" das Lied der österreichischen Schlagersängerin Lolita "Seemann, deine Heimat ist das Meer" schmettert, soll im Dollart der größte Schiffsanlegeplatz der Nordsee gebaut werden. - Fantasien von einem besseren Leben. "Ohne diesen ostfriesischen Hammer", so SPD-Landtagsabgeordneter Johann Bruns (MdL 1970-1994) "haben wir keine Zukunft. Denn die Tage des Emder Hafens als Umschlagplatz für Massengüter sind gezählt," Im Lauf der nächsten zehn Jahre wollen die Ostfriesen sogar den Welthäfen Hamburg und Rotterdam Konkurrenz machen.
HOCHBURG DER SOZIALDEMOKRATEN
Emden und sein Hinterland, die Krummhörn, ist eine traditionelle Hochburg der Sozialdemokratie. Hier engagierte sich im 16. Jahrhundert der rechtsgelehrte Bürgermeister Johannes Althusius schon 150 Jahre vor Jean Jacques Rousseau (*1712+1778) für die Volksdemokratie, hier organisierten Deicharbeiter im 18. Jahrhundert die ersten Streiks in Deutschland.
8.000 ARBEITER FÜR WILLY BRANDT
Beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt (1969-1974) im Sommer 1972 demonstrierten 8.000 Arbeiter der Nordsee-Werke und der VW-Niederlassung in Emdens Innenstadt. "Wäre Brandt abgewählt worden", sagt der Betriebsratsvorsitzende Walter Gehlfuß, "hätten wir eine Revolution gemacht. Verständlich, dass in einer solchen auf die SPD eingestimmten Atmosphäre an der Nordsee-Küste, auch nur kleinste Verrenkungen ihrer SPD-Prominenz wohlwollend registriert werden.
FRAU SCHRÖDER II.
Aufgeregt und üppig eingeschenkt wusste jedenfalls die Emder Zeitung im Jahre 2005 davon zu berichten, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005) sich gern und Presse wirksam seiner fünf Schwiegermütter erinnert. Im speziellen Anliegen der Anneliese Taschenmacher, Frau Schröder die Zweite ( 1972-1984). Dort im Vorort Larrelt einsilbiger Kinkerbauten in einem der kleinen Reihensiedlungen verbrachte Schröders zweite Schwiegermutter Alma mit 82 Jahren ihren Lebensabend. Naheliegend, dass Emdens Oberbürgermeister Alwin Bringmann Liebesgrüße mit Blumen aus Berlin aus dem Kanzleramt überbrachte. Schließlich habe Gerhard in den siebziger Jahren bei den Taschenmachers Nächte durch Ostfriesen-Skat gespielt und ist morgens gleich "mit unserer Anne" an den Deich gegangen. "Da sollen sie immer stur in Richtung Holland geglotzt haben. Ja, ja", schmunzelte Ex-Schwiegermutter Alma ein wenig Gedanken verloren, das sei aber nicht der erste Schröder-Gruß gewesen. Einmal, erzählte sie plötzlich, habe sie einen ganz langen Brief aus privatem Anlass (Scheidung?) auch schon mal von Schröder bekommen - der kam allerdings nicht aus Berlin, sondern noch aus Hannover. Denn da war "der Gerhard mal niedersächsischer Ministerpräsident" (1990-1998). Abgesang. Schnelles Ende.
MILIEUSPRÜNGE (I)
Ebenso schnell schießen die Genossen im Arbeiterviertel Hannover-Linden ihre Landesminister ab, wenn sie sich nicht an der Basis "bewähren". Der Maschinenschlosser Bruno Orzykowski (MdL 1970-1978), Betriebsratsvorsitzender der Vereinigten Aluminium-Werke siegte 1970 bei der Kandidatenaufstellung über seinen Konkurrenten, Innenminister Richard Lehners (*1918+2000), und erzielte das zweitbeste Wahlergebnis der SPD. 1974 schlug er bei der Kandidatenaufstellung Sozialminister Kurt Partzsch (*1910+1990). Dazu Orzykowski: "Die Genossen wollen keine Parteidenkmäler mit Heiligenschein, sondern Politiker, die in ihrem Wahlkreis arbeiten."
MILIEUSPRÜNGE (II)
Jahressprünge - "Tempora mutantur,nos et mutamur in illis" (Die Zeiten ändern sich , und wir ändern uns mit ihnen). Es ist Freitagabend 2o Uhr am 17. April 2004. Schröder-Zeit, Schröder-Fest der merklich Angekommenen - Ausnahmezustand am Aegi zu Hannover. Sicherheitsstufe eins, der Friedrichswall halbseitig gesperrt. Gerhard Schröder gedenkt mit 450 erlesenen Gästen im Theater am Aegi seines 60. Geburtstages. Schulterklopfen. Im Minutentakt kurven gepanzerter Limousinen vor: Staatsmänner von fern, Politiker von nebenan, Schauspieler, Literaten, Hofschreiberlinge Wirtschaftsbosse. Medienrummel gibt's nur draußen vor der Tür, drinnen wird's "gemütlich". Alles ist in warmen Rot gehalten.
MILIEUSPRÜNGE (III)
Rote Nelken, rote Sitzkissen, rote Bändchen um die Blumenbestecke. Wenigstens die Dekoration soll noch daran dezent erinnern, dass es früher in Sachen rot mit seiner roter Wut einmal ganz anders war. Nunmehr zeigt der Taktstock viel Brioni, viel Satin in einem erkalteten deutschen Interieur neureicher Auffälligkeiten. Schröder-Jahre, Zeit der Angekommenen. Aus den Lautsprechern scheppern die "Capri-Fischer" fürs Ohr und Gemüt, gegessen wird niedersächsisch: Fischhäppchen und natürlich Nienburger Spargel. Viel hat sich getan, Aufstieg, Klamotten, Nippes, Kosmetik, prendre goût - Frauen-Geschmack.
KUMPEL DES DURCHBRUCHS
Ganz am Rande des Par-Venu-Geschehens lauert ein untersetztes Männchen, dessen Pausbäckchen sich vor Lachen gar nicht beruhigen mögen. Genugtuung ist angesagt. Ganz still und unauffällig gewiss auch für ihn. Denn Reinhard Scheibe, einst linker Rebell, ärmlicher Flüchtling, Lehrer über den zweiten Bildungsweg , - und vor allem Gerhard Schröders Freund; eine Art Lebensversicherung. Er durfte sich zeitweilig gar sein Staatssekretär (1990-1991) nennen. Nunmehr fungiert Genosse Reinhard in seiner Eigenschaft als Toto-Lotto-Chef Niedersachsens, mausert sich zum Mäzen für Festivals, Ausstellungen, Konzerte. Millionen werden da in "linken" Händen hin und her geschoben. "Lotto-Spieler wollen immer etwas gewinnen", sagt Scheibe verschmitzt; eine Art Regierungserklärung dieser Jahre - Schröder-Jahre. Das war es dann auch schon. Wenn man einmal von "Super-Modell" des Jubilars absieht. Er trägt immerhin ein Anzug für 3.000 bis 5.000 Mark. Da darf es an der Seidenkrawatte (150 Mark) natürlich nicht fehlen. - Herren-Leben.
UNTERRICHT SCHICHTWEISE
Nur in Hannover-Linden mit seinen 32.000 Einwohnern ist in den vergangenen 20 Jahren für die Lebensqualität wenig getan worden. Armut wird zusehends größer. Alte Menschen vegetieren irgendwie vergessenen, kaum beachtet in abseits gelegenen Hinterhöfen. Gastarbeiter hausen zusammengepfercht in brüchigen Altbau-Wohnungen, die Krankenhäuser sind überfüllt. Die 720 Ganztagsschüler der integrierten Gesamtschule müssen schichtweise unterrichtet werden, in Schichten essen und manchmal sogar auf der Straße Schularbeiten machen. 87 Prozent der Wohnungen haben kein Bad und keine eigene Toilette. Noch immer gibt es das Plumpsklo auf dem Hinterhof und die Wasserstelle im Keller. Modell Deutschland? Soziale Wirklichkeit in Niedersachsen.
3.000 LUXUSWOHNUNGEN LEER
"Ich bin im Landtag der Buhmann, weil ich über den sozialen Wohnungsbau schimpfe", sagt Bruno Orzykowski. "In Hannover stehen immerhin 3.000 Komfort-Wohnungen leer, und warum werden für den Ausbau des Niedersachsen-Stadions 26 Millionen und für ein Sprengel-Museum 60 Millionen Mark verschleudert, wenn für die Altstadtsanierung nur fünf Millionen Mark übrigbleiben? Nur wenn hier in unserem Arbeiterviertel wirklich was besser wird, können wir die Wähler auf unsere Seite ziehen."
TOTALE MOBILMACHUNG AUS BONN
Nicht mit Landespolitik, sondern mit einer totalen Mobilmachung aller Bundespolitiker wollen die Parteien auf dem Nebenkriegsschauplatz Niedersachsen die Vorentscheidung über das Schicksal der Bonner SPD/FDP-Koalition (1969-1982) erzwingen. Gewinnt die CDU die absolute Mehrheit, könnten die Unionsparteien noch mehr als bisher die sozialliberale Regierungspolitik im Bundesrat blockieren. Sie hätten dann in der Länderkammer eine 26:15 Mehrheit (bisher 21:20). Und im entscheidenden Vermittlungsausschuss aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates wäre der Vorsprung der Regierungskoalition weggeschmolzen.
FRÜHLINGS-GEFÜHLE DER CDU
CDU-Chef Helmut Kohl (1973-1998) und sein Provinz-Fürst Wilfried Hasselmann (1968-1990) haben ihre Wahlkampfstrategie auch deshalb auf bundespolitische Themen abgestellt, weil es der Union schwerfällt, die Erfolge der sozialdemokratischen Regierung zu leugnen. So finster es in Hannover-Linden auch aussieht, in den vergangenen Jahren wurden in Niedersachsen immerhin:
0 120.000 Arbeitsplätze geschaffen,
0 30.000 Kindergartenplätze eingerichtet,
0 53.000 Wohnungen gebaut,
0 400 Industriebetriebe neu angesiedelt,
0 500 Kilometer Straßen gebaut,
0 zwei neue Universitäten gegründet (Osnabrück
und Oldenburg); die Zahl der Studenten stieg von
38.900 auf 57.000,
0 14.300 neue Lehrer eingestellt,
0 für 10.000 Kinder Vorschulunterricht eingeführt.
ANGSTMACHE VOR ROTEM GEGNER
Ein Leistungskatalog, den sogar die konservative "Hannoversche Allgemeine" als "solide Bilanz" bezeichnet. Der gegenüber hat es die CDU mit der Angstmache vor dem roten Gegner schwer. Der hannoversche CDU-Generalsekretär Dieter Haaßengier fordert die Niedersachsen auf, christdemokratisch zu wählen, damit "Deutschland nicht unabwendbar dem Sozialismus entgegenrutscht". Und der CDU-Abgeordnete Helmut Tietje warnte in Cuxhaven gar vor einem "roten 1933", der am 9. Juni 1974 Realität werden könnte.
BONNER REGIERUNGSKRISE
Am 9. Juni 1974 kann sich aber kein "roter" und noch nicht einmal ein sozialdemokratischer Alleinsieg verwirklichen.Auch den die SPD-Spitze mit Vorsitzer Willy Brandt, Kanzler Helmut Schmidt und Herbert Wehner in den letzten Wahlkampfwochen unwartete Einigkeit und Stärke demonstriert - die absolute Mehrheit in Niedersachsen ist nach den Niederlagen in Hamburg, Schleswig-Holstein und im Saarland und auch nach der fortwährenden Bonner Regierungskrise unrealistische denn je. Schon vor vier Jahren, als der Genosse Trend noch aufwärts marschierte, hatten die Sozialdemokraten in ihren einstigen Stammland nur 20.ooo Stimmen mehr errungen als die CDU.
RENAISSANCE DER LIBERALEN
Dafür sagen die Meinungsforscher der niedersächsischen FDP, die 1970 an der Fünf-Prozent-Klausel scheiterte, die Rückkehr in den Landtag voraus. Und FDP-Chef Rötger Groß hat sich bereits seit Monaten auf eine Koalition mit der SPD festgelegt, "wenn auch nur eine hauchdünne Mehrheit für eine sozialliberale Regierung für eine sozialliberale Regierung vorhanden ist."

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*) Name geändert