Sonntag, 17. Dezember 1972

Am Vorabend der Emanzipation - Konzessionsdamen in der Politik: Eine Frau zum Vorzeigen




















Besondere Eigenschaften: MdB und weiblich. Hauptsache eine Frau. Das Ungehagen zwischen "Traditionsdamen" und Feministinnen in der Sozialdemokratie. Im Vorabend der Frauen-Emanzipation in den siebziger Jahren gelang es einer ehemaligen Sekretärin und Lebensgefährtin des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumachers (*1895+1952 ) der stille Aufstieg ins zweithöchste Staatsamt - zur Präsidentin des Deutschen Bundestages - Annemarie Renger (*1919+2008)
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stern, Hamburg
17. Dezember 1972
von Reimar Oltmanns
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"Ich kam, sah und siegte", beschrieb Annemarie Renger ihren Eintritt in die Politik; als sie, die Kriegerwitwe, 1945 mit ihrem damals siebenjährigen Sohn auf der Suche nach einem Job im Zentralbüro der SPD in Hannover vorsprach - und ganz plötzlich Assistentin des Parteivorsitzenden Kurt Schumacher (*1895+1952) wurde. Ein Foto aus dieser Schutt-und-Asche-Ära zeigt, wie Annemarie Renger den wegen seiner Bein- und Armamputation behinderten Kurt Schuhmacher stützt - ein Bild der Zeitgeschichte.
KÜCHENMAGD IM LAZARETT
Damals in den entsagungsreichen Nachkriegs-Wirren lebte die 26jährige junge Frau in der Lüneburger Heide. Hier arbeitete sie als Küchen-Magd in einem Lazarett. Ihren Ehemann und drei Brüder, ja praktisch die ganze Familie, hatten im Krieg ihr Leben lassen müssen. Annemarie Renger, von Beruf kaufmännische Gehilfin, wurde zunächst die Schreibkraft des von jahrelanger KZ-Haft gezeichneten Kurt Schumacher; später noch viel mehr: Lebensgefährtin, Privatsekretärin, Reisebegleiterin, Haushälterin, engste Vertraute in den Aufbau-Jahren. - Blitz-Karriere.
STEILER AUFSTIEG AUS DEM NICHTS
27 Jahre später siegte Annemarie Renger, 53, nicht, sondern wurde zur Siegerin erklärt. Schon in der Wahlnacht hatten sich die SPD-Führungsmänner darauf verständigt, dass Annemarie Renger am 13. Dezember 1972 als erste Frau und als erste Sozialdemokratin zur Bundestagspräsidentin gewählt sollte. Zwar hatte keiner einen so großen SPD-Sieg erwartet (SPD wurde erstmalig mit 45.8 Prozent und 230 Mandaten) und damit gerechnet, dass die Sozialdemokraten als jetzt stärkste Parlamentsfraktion Anspruch auf das zweithöchste Amt im Staat haben würden, Doch dann schlugen Kanzler Willy Brandt (1969-1974) und Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) mit der Beförderung der dreifachen Großmutter auf den Präsidentenstuhl "gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe" (SPD-MdB Günter Wichert 1969-1974).
ETIKETTEN-HANDEL
Sie konnten endlich einer Frau ein hohes Staatsamt geben - und damit wenigstens als Etikette ein wenig verkleistern, dass im neuen Bundestag noch weniger Frauen sitzen als im vorigen. Und Willy Brandt blieb es erspart, die seit langem auf einen Posten hoffende Genossin Renger als Nachfolgerin von Käte Strobel (*1907+1996) ins Kabinett aufrücken zu lassen. Denn mit der Ernennung der überaus ehrgeizigen und prestigebedachten Dame Renger zur Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit hätte Kanzler Brandt viele Genossen verärgert: die Jusos, von denen die SPD-Rechte Renger nichts wissen will; die Frauen, die in ihr nicht mehr die Anwältin ihrer Interessen sahen; und manche alte Genossen, die Annemarie Renger seit Jahren als Nachlassverwalterin des Nachkriegschefs Schumacher und als wandelndes Gewissen, Herrschaftswissen der Partei erleben mussten.
MÄDCHEN DER MÄNNER
Mit dem Namen Renger verbindet sich durch Amt und Würden schon Frauen-Aufbruch, Frauen-Mitbestimmung, Frauen-Partizipation in diesen Jahren. Nebelkerzen. Bei näherer Betrachtung richten sich die Röntgenblicke auf eine wohldosierte Schönwetter-Rhetorik. Denn seit Bestehen der Bundesrepublik hält Annemarie Renger für das feminine Selbstbewusstsein vor Frauenverbänden "nur schöne Reden ", (SPD-MdB Lenelotte von Bothmer 1969-1980; *1915+1997) "ohne jemals ernsthaft auch nur für die kleinste Konzeption zur Emanzipation der Frauen einzutreten, Konflikte gegen die Männer durchzustehen." Schon zu jener Zeit beginnen SPD-Frauen erst zaghaft, dann zusehends vehementer ein neues Gruppenbewusstsein zu entwickeln, heißen sie nun von Bothmer, Anke Brunn (NRW-Ministerin für Wissenschaft und Forschung 1985-1988)oder Dorothee Vorbeck (hessische Staatssekretärin im Kultusministerium 1982-1984).
WEG VOM ERLEBNIS-KLUB
Sie wollen weg von der Annemarie-Renger-AsF (Arbeitsgemeinschaft Sozialdemkratischer Frauen) - dort, wo in "Geselligkeits- und Erlebnis-Klubs" beim "Kochen und Schminken" sozialdemokratisch gedacht, gefühlt, gehofft und gestrickt wird.Sie sagen: "Wir wollen über die Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft die volle Emanzipation erstreiten." Annemarie Renger entgegnet: "Ich wundere mich darüber, dass Frauen eine Sonderrolle spielen müssen."
"LEICHEN IM KELLER"
Annemarie Renger, die 1953, ein Jahr nach Schumachers Tod, ins Parlament eintrat (und damals sich artig "Miss Bundestag" nennen lassen durfte), sieht sich selbst so: "Das, was ich bin, bin ich durch Kurt Schumacher. Aus dieser Zeit schöpfe ich meine Kraft." Manche Genossen zum Willy Brandt beobachteten Annemarie Rengers politischen Ehrgeiz vor allem deshalb mit Unbehagen, weil die Schumacher-Vertraute Vieles über viele Sozialdemokraten weiß - vor allem wo so manche "Leichen im Keller versteckt worden sind", sagte sie einmal und führte an anderer Stelle fort, "ich habe da sieben Jahre an der Quelle gesessen." - Renger-Jahre.
ZU VIEL GEQUATSCHE
Und Helmut Schmidt (Kanzler 1974-1982) sagte einem Ministerkollegen schon vor der Wahl in seiner direkten Art, warum er die Sportwagenfahrerin und Tennisspielerin lieber nicht im Kabinett haben möchte: "Die quatscht mir zu viel." Herbert Wehner indes hatte andere, machtpolitische Gründe, Annemarie Renger zur Nachfolgerin der Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers (1950-1954; *1904+1954), Eugen Gerstenmaier (1954-1969; *1906+1986), Kai-Uwe von Hassel (1969-1972; *1913+1997) aufsteigen zu lassen. Im internen Wehner-Zirkel war auch von Frauen-Aufbruch, Gleichberechtigung, Signalwirkung keine Rede. Machtpolitik war angesagt - Politik auf den Schachbrettern der Männer, auf denen Frauen als Läuferinnen ihre Rochaden zu pararieren haben. Freilich nur durch eine Frau, so Wehners Kalkül, konnte er seinem Intim-Feind, dem schwergewichtigen Hermann Schmitt-Vockenhausen, HSV genannt (SPD-MdB 1953-1979; *1923+1979) den Weg zum Präsidentenstuhl verbauen, auf den dieser, Vizepräsident seit 1969, schon ein Anspruch zu haben glaubte.
SCHACHERN UM STAATSÄMTER
Aus gutem Grund hatte Herbert Wehner in der Wahlnacht zuerst - vor der Einigung mit Parteichef Willy Brandt - dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick (1978-1982; *1921+2002) gegenüber bereit erklärt, der SPD-Fraktion die Freidemokratin Lieselotte Funcke (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (1969-1979) für dieses Amt schmackhaft zu machen. Sie hatte sich als Vizepräsident bewährt, und eine Frau sollte es auf jeden Fall sein. Denn jeder männliche SPD-Kandidat - wie zum Beispiel Ex-Finanzminister Alex Möller (*1903+1985) - hätte gegen "HSV" einen schweren Stand gehabt. Nachdem Wehners Schachzug geglückt war, konnte der körperlich schwer-gewichtige Hermann-Schmidt-Vockenhausen seinen Verdruss, seine Enttäuschung nicht verbergen: "Ich bin maßlos enttäuscht über die Ämter-Schacherei."
PREMIERE EINES HOSENANZUGES
Enttäuscht über die Hintergründe dieser Wahl sind auch Mitglieder des Bundesfrauenausschusses der SPD, deren Vorsitzende Annemarie Renger seit 1967 ist. So die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer, die warnte davor, dass sich Frauen in der Politik wieder und abermals als "Mode-Puppen" vermarkten lassen. Sie hatte damit hinreichende, leidvolle Erfahrungen machen können. Damals an jenen Vorabenden der Emanzipation, als sie im Jahre 1970 wagte, mit einem Hosenanzug ans Rednerpult zu treten. Vizepräsident Richard Jäger polterte, er werde es keiner Frau erlauben, in Hosen im Plenum zu erscheinen, geschweige sogar eine Rede zu halten. - Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung. Im Saal johlten unisono Männer, fröhliche Zurufe, Gelächter wie am Schießstand - Ziel: Frau mit Hosenanzug als Politik-Ereignis. Immerhin war diese Mode-Schau zu Bonn der 20-Uhr-Tageschau in Hamburg eine übergeordneter Film-Bericht wert. Dabei war es gerade Lenelotte von Bothmer, die in ihren Empfindungen, Wahrnehmungen " frauen-feindliche Gesinnungen aufzuspüren trachtete. Sie sagte: "Diese Art, das weibliche Geschlecht der Lächerlichkeit preiszugeben, durch die Manege zu jagen und dann eine andere, eine Männer-Freundin, brav auf einen Posten zu hieven, ist anti-emanzipatorisch. Eine Frau muss auf Grund ihrer Qualifikation vorgeschlagen werden und nicht, weil sie gut aussieht."
MIT FRAUEN WENIG AM HUT
So manche SPD-Genossinnen finden ohnehin, dass sich Annemarie Renger zu wenig für Frauen - dafür aber viel für ihre Mode verausgabt. Ganz plötzlich, verändert sie mal ihr Aussehen, Haarfrisur mit Föhnaufsatz samt Schminke und letztlich ihren Boutiquen- Fummel derart häufig, dass sie selbst von langjährigen Zeitungskorrespondenten in Bonn nicht mehr ohne weiteres erkannt wird. - Eine Neue in Bonn? "Nein, nein - das ist doch Frau Renger. Wirklich?" Frauen als Schönheitssymbol. - Nur beim Streit um die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 machte sich Annemarie Renger erst für die Fristenlösung stark, als sie erkannte, dass die Mehrheit dafür war. Noch 1970 predigte sie auf dem Bundesfrauenausschuss der SPD in Nürnberg "Zurückhaltung in der Öffentlichkeit." Kurz danach attackierte sie Lenelotte von Bothmer, weil sich die Mutter von sechs Kindern statt der Frauen-Vorsitzenden Renger in einem Fernsehinterview über die Fristenregelung profiliert hatte. - Ein Image-Profil, das offenkundig nur ihr zuzustehen scheint. Frauen-Soldarität.
DRUCK DES ELLENBOGENS
Dass es der selbstbewussten Parlamentarierin, die seit 1966 mit dem jugoslawischen Kaufmann Alexander Loncarevic (+1973) verheiratet ist, an der nötigen Energie für ihr Amt fehlen könnte, ist nicht zu befürchten. Als auf dem gleichen Frauenkongress eine Jungsozialistin gegen die Beschränkung der Redezeit protestierte, sprang die SPD-Lady auf und entriss ihr einfach das Mikrofon. Eine Energie, für die die "Süddeutsche Zeitung" die Formulierung fand, dass Frau Renger "oft mangelnde Schärfe des Arguments mit dem Druck der Ellenbogen kompensierte".
PARLAMENTS-REFORM
Die Sozialdemokratin von Bothmer hält die Freidemokratin Lieselotte Funcke deshalb auch für die geeignetere Kandidatin, weil "Annemarie sich zum Beispiel über die Parlamentsreform noch keine Gedanken gemacht hat". Den Unterschied zwischen Qualifikation und Karriere sieht Annemarie Renger selber: "Die FDP zieht eben intellektuelle Frauen an, bei der SPD kann man nur durch Partei die Position erwerben." Das ist die Karriere der "Konzessionsfrauen", gegen die sich viele engagierte Sozialdemokratinnen energisch wehren - wie die hessische Landtagsabgeordnete Dorothee Vorbeck: "Wir wollen doch keine Politik auf der Spielwiese betreiben, die uns die Männer zuweisen."
POLITIK AUF SPIELWIESEN
An diese "Spielwiese" war die bisherige Parlamentarische Staatssekretärin Katharina Focke (SPD-MdB 1969-1989) , die eine Zeitlang als Kandidatin für das Parlamentspräsidenten-Amt im Gespräch war, nicht interessiert. Sie will auch in der neuen Regierung für Europa-Fragen zuständig bleiben. Und die Berliner Schulrätin Marie Schlei (*1919+1983), die ebenfalls als Anwärterin genannt worden war, hatte schon vor der Bundestagswahl erklärt: "Ich habe Annemarie versprochen, dass sie zuerst was wird, und ich halte mich daran."
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POSTSCRIPTUM. - Auch wenn ihr die 68er Generation fremd geblieben und der Frauen-Aufbruch suspekt war, wurde Annemarie Renger nach einhelliger Auffassung zahlreicher Beobachter mit viel Geschick, Würde und Durchsetzungskraft zu einer bemerkenswert beachteten Präsidentin des Deutschen Bundestages. Bereits 1973 war sie laut Meinungsforschungsinstitute die bekannteste Politikerin in der Bundesrepublik. Am Ende ihrer Amtszeit 1976 sagte sie: "Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann." Wenig später fügte Annemarie Renger noch hinzu: "Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte."