Mittwoch, 23. Februar 1972

Allah und Armee in Algerien - Zerreißproben nach Befreiungskampf

Seit 2005 rüstet Algerien seine Streitkräfte mit 300 russischen Kampfpanzer T-90, drei Fregatten der Koni-Klasse und zwei U-Boote auf. Allein in Jahren 2006/2007 beanspruchte das Miltitär in Algerien 14,5 Milliarden Dollar für neue Waffensysteme. Tatsächlich stehen in diesem nordafrikanischen Staat in verschiedensten Armee-Gliederungen permanent 350.000 Männer und Frauen in Kriegsbereitschaft.













Isabelle Eberhardt: Weltenbummlerin, Reiseschriftstellerin - *17. November 1877 in Genf; +21.Oktober 1904 in Ain Sefra (Algerien). Sie war als Feministin in ihrem Unabhängigkeitsstreben in Nordafrika den Zeitläuften der Geschlechter um Jahrzehnte voraus.
-----------------------------------------------------------------------













Frantz Fanon: Politiker, Psychiater, Vordenker der Entkolonialisierung *20. Juli 1925 in Fort-de-France (Martinique); +6. Dezember 1961 in Washington D.C. Im Dezember 1961 erschien Fanons Hauptwerk: "Die verdammten dieser Erde".
-----------------------------------------------------------------------















Albert Camus: französischer Philosoph und Schriftsteller, *7. November 1913 in Mondovi (Algerien); + 4. Januar 1960 nahe Villeblevin, Yonne ( Frankreich). Er verbrachte Kind- und Studienzeit in Algier, engagierte sich für die Gleichberechtigung der Araber und schrieb für Algeriens Unabhängigkeit von Frankreich; bekam 1957 den Literaturnobelpreis.
-----------------------------------------------------------------------
















Luftaufnahme von Sidi bel Abbès, einer algerischen Stadt im Nordwesten. Sie wurde 1843 von Franzosen gegründet und diente als Zentrum der Legion mit dem 1. Fremdenregiment im Quartier Viénot mit seinen Folterzentren. Als nach siebenjährigen Befreiungskampf am 5. Juli 1962 die Unabhängigkeit Algeriens Realität wurde, verlegte Frankreich das Hauptquartier seiner Fremdenlegion nach Aubagne ins Mutterland.
--------------------------------------------------------------------------------------
















Terroranschäge um Terroranschläge - und kein Ende in Sicht. Zwei fast zeitgleiche Explosionen haben die Hauptstadt Algier erschüttert. 53 Menschen starben, 45 weitere wurden schwer verletzt. Vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten riss ein Selbstmord-Attentäter elf Passanten in den Tod. Die islamistische Terror-Organsisation Al Kaida übernahm telefonischen die Verantwortung.
-------------------------------------------------------------------------------------
















Mehr als ein Jahrzehnt wurde in diesem Land eines der "dreckigsten Krieg" der Welt ausgetragen. Mit dem vom Militär getragenen Regime versucht die algerische Regierung ihren Kampf gegen die islamische Unterwanderung zu gewinnen. Wieder Bürgerkrieg in Algerien: "Islamisten" gegen "Sicherheits- kräfte". Über 200.000 Menschen - die meisten Zivilisten - fanden bereits den Tod. "Erfolgsrezept":
Folter. Neuer Verbündeter: die USA . Neue Waffen: made in USA
-----------------------------------------------------------------------
Ein Trauma zerfrisst Seelen: Befreiuungskrieg, Bürgerkrieg - Kleinkrieg - Clankrieg in Wüsten und Steppen. In einem geschundenen Land Nordafrikas unterwegs ... ...


--------------------------------
Cuxhavener Zeitung
von Reimar Oltmanns
31. Dezember 1970/ 18. Dezember 2008
---------------------------------

Es dämmerte schon ein wenig, als wir in Algier die Kasbah betraten. Ein bisschen Exotik sollte es noch sein an diesem November Abend; damals waren wir noch jung an Jahren. Und es hatte etwas mit unserem Fernweh zu tun. Raus aus diesem vom Nebel eingehüllten Deutschland in solch depressiv anmutenden November-Tagen. Hinein in enge, schmutzige Gassen des Alltstadt-Lebens, wo Hunderte von Kindern im größten Dreck herumwühlen, Männer sich beim Dominospielchen beweisen - und Frauen sich scheu hinter dicken Gemäuern zu verstecken haben. Armut pur, alle lächeln - und das fürs Video daheim auch noch umsonst. In vergangenen Jahren sind in der Kasbah an die 350 Häuser verfallen. Insbesondere in den Herbst-Monaten, wenn heftige Regengüsse auf Algier prasseln, spülen diese Wassermassen immer wieder alte Lehmziegelmauern der übereinander gewürfelten Häuser fort. Momentaufnahmen. Der Abend gehört den Kronleuchter und Stuckdecken aus dem 19. Jahrhundert in der Edelherberge "El Minza"; französische Kolonial-Noblesse samt Mittelmeer- Weitbinkelblick inbegriffen.
KOLONIALE VERGANGENHEIT
Spuren kolonialer Vergangenheiten Frankreichs (1830-1962) werden ganz allmählich beseitigt - Stein um Stein. An einem Mietshaus ist gerade noch auf einer Steinplatte lesbar, dass dort einmal ein Gericht seine Urteile sprach. Das Gemäuer der kolonialen "Nationalbibliothek" ist frisch hergerichtet, doch unter der Sperrholzplatte bleibt die alte Gravur verborgen. Hier in der Kasbah spüre ich einen Hauch vom seelischen Innenleben Algeriens, wird für mich nachvollziehbar, dass dieser brutale, mörderische Unabhängigkeitskrieg der 50er und 60er Jahre das Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich bis in die Gegenwart hinein belastet. - Knoten im Kopf, Atemnot.
ABSCHLACHTEN, AUSROTTEN
Ich laufe durch die Kasbah und frage mich - auch zufällige Passanten, mit denen wir ins Gespräch kommen, ich frage mich immer wieder 'musste das wirklich sein' - dieses Abschlachten, Foltern, Ausmerzen, Ausrotten ? - Achselzucken vielerorts, Stille überall. Irgendwie und irgendwo sollte mich ein Psychiater, der auch ein Politiker war, in meinen Gedanken begleiten. Als Reisevorbereitung hatte ich das Buch Frantz Fanon (*1925+1961) "Die verdammten dieser Erde" (1961) gelesen - ein Standardwerk jener Jahre . Frantz Fanon wusste nur zu genau, wovon er sprach. Er war der Vordenker der Entkolinialisierung.
FRANTZ FANON
Als Dunkelhäutiger wurde Fanon auf der Karibik-Insel Martinique geboren, das bis im Jahr 1946 als französische Kolonie , nunmehr als Département d'outre-mer als einen Teil der Pariser Republik begreift. Sicherlich, formal galten sie als Franzosen, aber im Innenleben der Gefühle - da wurden sie von den weißen Siedlern als "Schwarze" gebrandmarkt, Bürger der zweiten Kategorie. Wer die Seele Algeriens berühren, verstehen will, der sollte auch halbes Jahrhundert später abermals Frantz Fanon entdecken. Er hatte als Chefarzt im Jahr 1953 im Psychiatrischen Krankenhaus im algerischen Blida gearbeitet, das 45 Kilometer von Algier entfernt liegt. Hier wurden verwundete Widerstandskämpfer behandelt, versteckt, Schmerzen vieler Folteropfer gelindert, thearapiert. Fanon schrieb: "Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines 'angeblichen geistigen Abenteuers' fast die gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie es heute zwischen der atomaren und der geistigen Auflösung hin und her schwankt ... ... ".
CHEFARZT WIRD FREIHEITSKÄMPFER
Keine Frage , dass im Krankenhaus der Franzosen Kolonial-Herren durchgreifen - Trennung der Patienten nach Herkunft, eigene Pavillons für Europäer und Moslems. Konsequenz: Franz Fanon schließt sich dem algerischen Freiheitskämpfer an. Sein Krankenhaus hatte die französische Armee zuvor hinreichend demoliert, ein Streik des Pflegepersonals wurde blutig niedergeschlagen. Verängstigt ging Chefarzt Fanon des Weges, wurde des Landes verwiesen, als Aktivist der Front de Libération Nationale (FLN) - der militanten Unabhängigkeitsbewegung Algeriens kam Fanon zurück.
NEUE HAUT, NEUER MENSCH
Er markierte: "Verlassen wir uns nicht auf dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken der Welt ... ... Die Vereinigten Staaten sind ein Monstrum geworden, bei dem der Geburtsfehler, die Krankheiten und die Unmenschlichkeiten Europas grauenhafte Dimensionen angenommen haben ... ... Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa, nicht hat lösen können ... Für Europa für uns selbst und für die Menschheit müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen."
ALS MANN VERKLEIDET ... ...
Apropos "neue Haut" oder auch "neue Menschen" - meine Gedanken gingen in Algerien nahezu ein Jahrhundert zurück. Eine Rückbesinnung auf Isabelle Eberhardt, um durch sie und vielleicht mit ihr die Zukunft zu entdecken - eine feminine, autonome Zukunft auch mit all ihren Abgründen und Widersprüchen. Isabelle Eberhardt (*17. November 1877 in Genf; + 21. Oktober 1904 in Ain Sefra - Algerien) war eine russischstämmige schweizerische Weltenbummlerin und Reiseschriftstellerin. Viele Jahre hatte sie als Mann verkleidet die arabische Welt erkundet. Am 21. Oktober 1904 war Isabelle in der Sahara zwischen Dattelpalmen und Sanddünen ertrunken.
AUTONOMIE - ISABELLE EBERHARDT
Erst wenige Stunden vor ihrem Tod hatte Isabelle Eberhardt entgegen des Rates ihres Arztes das vor Stürmen geschützte Krankenhaus von Ain Sefra verlassen. Sie hatte sich in ein Lehmhaus einquartiert, das zwischen Kneipen und Bordellen in einem ausgetrockneten Flussbett lag. Dort wollte sie schreiben, weiter texten an ihren Reiseberichten, über die Einsamkeit in der Sahara und die Wüsten-Welt der Männer. Si Mahmoud nannte sich die verkleidete Isabelle . Ein Unwetter tobte plötzlich auf den gelben Dünen, ein Unwetter, wie es diese Region seit Menschengedenken noch nicht erlebt hatte, brach herein - es nahm Isabelle gleich mit - in den Tod mit ihren 26 Jahren. (Eglal Errera: Isabelle Eberhardt - Eine Biografie; Lenos Verlag, Basel, 1987)
KLEINBÜRGERLICHE SCHWEIZ
Im Mai 1897 zog es Isabelle mit ihrer Mutter aus der kleinbürgerlich gestrickten Schweiz hinaus nach Algerien. Sie gelangte in eine Kleinstadt namens Bône, die sich damals nach nahezu 60 Jahren Kolonisation wie eine typische französischer Kleinstadt ausnahm - breite Boulevards, elegantes Hotel, einen plantagenumsäumten Platz vor dem Rathaus, Banken, Boulangerien. Charcuterien, Epicerien, Quinquallierien - eben Aussenausstattungen, die das französische Bürgertum nun einmal für sein savoir vivre oder auch Wohlbefinden benötigt. Isabelle hingegen suchte das arabische Algerien. Sie lernte rasch Arabisch und fand Freunde unter einheimischen Studenten. Um sich frei bewegen zu können, vertauschte Isabelle ihre westeuropäischen Mädchen-Kleider mir denen eines arabischen Mannes; in einem langen weißen Burnus, schnitt sich ihre Haare ab und setzte sich einen Turban auf; fortan nannte sich Isabelle männlich Si Mahmoud Saadi.
MIT PFERD DURCH DIE SAHARA
Immerhin konnte sich Isabelle von ihren Honoraren ihre Reiseberichte ein Pferd leisten. Mit ihm zog sie allein durch die Sahara. Im Jahre 1901 heiratete sie Slimène Ehni, einen Leutnant der algerischen Hilfstruppen des französischen Kolonialregimes. Beide führte aber keine Ehe im herkömmlichen Sinne, lebten nie zusammen. War es Isabelle, die es immer wieder in die Wüste - in die Einsamkeit zog. Sie rauchte Kif, trank viel, leidenschaftlich viel Alkohol und trat unablässig als Mann auf; in der Kleidung männlicher Beduinen, Burnus und Reitstiefel. Konflikte mit der Kolonial-Administration waren vorprogrammiert, brachen auch immer wieder auf.
GLORIE DER FREMDENLEGION
Frankreichs Männer der Fremdenlegion missbilligten Lebensstil wie Lebensverständnis dieser Frau, die sie eher einem ihrer Wüsten-Bordelle übergeben hätten als in ihr eine feministische Vorkämpferin autonomer Frauenrechte zu sehen. Männer, die nach romantisch unterlegten Legenden von Legionären auf Kamelen im Jahre 1843 südlich von Oran eine Stadt namens Sidi Bel Abbes gründeten. - Ein Wüstenort von einer Stadtmauer mit vier Toren umschlossen wurde das Hauptquartier kolonialistischer Allgegenwart, Zentrum der Fremdenlegion; einer gefürchteten Sondertruppe mit Freiwilligen aus vielen Ländern. Ihre Brutalität galt als Beleg für "berufliche Kompetenz". Von hier aus "putschten" die OAS (Organisation Armée Secrète) gegen die eigene Regierung, in die Unabhängigkeit zu entlassen - wollten vom Landadel gekaufte Söldner mit Waffengewalt gegen Pariser Beschlüsse Anfang der sechziger Jahre vorgehen. Folter, Menschenrechtsverletzungen, Massaker zählten zur routinegeübten Tagesordnung (Christian Reder, Elfie Semontan: Sahara, Verlag Springer , Wien , New York, 2004)
FOLTER - NICHTS ALS FOLTER
Es waren die gefürchteten Jahre, die Befehls- und Kommandojahre über Leben und Tod, des französischen Generals Jacques Massu (*1908+2002) - einer der bedeutendsten Soldaten Frankreichs im 20. Jahrhundert. Im Januar 1957 übernahm Massu den Oberbefehl über die Region Algier. Er ließ in der Kasbah algerische Freiheitskämpfern der FLN niedermetzeln oder auch "säubern", wie es damals noch bezeichnenderweise hieß. Schmauchspuren. Friedhofsruhe. Im Mutterland Frankreich vornehmlich schmückten ihn seine Landleute mit Pauken wie Fanfaren; Ehrentitel wie der "Held von Algier" inbegriffen. Gefoltert haben seine Soldaten aus dem Land der Menschenrechte - rund um die Uhr, Haus um Haus, Vergewaltigungen inbegriffen. Verständlich, dass ein solcher General der Kolonialherren bei den Algerien-Franzosen (pieds noir) beliebt war, gar Quälereien, bastialische Schmerzen als "erträglich" befand. Von den Tätern dieser blutrünstigen Epoche ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Im späten Alter, zwei Jahre vor seinem Tod, gestand er "systematisch Folterungen während des Algerien-Krieges" ein. Jacques Massu: "Ich bereue".
SPÄTE EINSICHTEN
Erst 1999 mochte Frankreichs Parlament, die Nationalversammlung, den Begriff "Algerienkrieg" offiziell zulassen. Bis dahin war nach französischer Lesart lediglich von "Ereignissen" gesprochen worden. "Ereignisse", die 1,7 Millionen französische Soldaten in Nordafrika kämpfen liessen, von den 25.000 getötet und 60.000 verwundet wurden. "Ereignisse", die auf algerischer Seite 1,7 Millionen Menschen in den Tod schickten.
"STRIPTEASE UNSERES HUMANISMUS"
Der Philosoph Jean-Paul Sartre (*1905+1980) nannte Fanons-Buch "Verdammte dieser Erde" einen "Striptease unseres Humanismus". Darin versuchte Frantz Fanon nachzuweisen, dass die Deklassierte und Kolonialisierten der Dritten und Vierten Welt gegen Gewalt der Unterdrückung nur ein Mittel haben: mit Gewalt zu antworten, weil sie allein die psychischen "Verstümmelungen" (Fanon) der Unterdrückung zu heilen vermag. Jahrzehnte später - im neuen Jahrtausend angekommen - werden Fanon und noch viele Weggefährten seiner Epoche als Vordenker, Vorläufer des mittlerweile international agierenden Terrorismus eingestuft. - Verquere Jahre, verqueres neues Denken .
FREIHEITSKÄMPFER - TERRORISTEN ?
Wo und mit wem haben in der Geschichte jemals Freiheitskämpfe ohne Gewalt ohne Waffen stattgefunden? Seit wann aber werden politisch legitimierte Unabhängigkeits-Konflikte von Ländern, Regionen mit Anarcho-Terroristen ohne Sinn und Verstand oder gewöhnliche Banden in einem Atemzug genannt, abgestempelt. Waren etwa die französische Résistance gegen die deutschen Besatzer auch Terroristen, Graf von Stauffenberg (*1907+1944) oder Georg Elser (*1903+1945) auch gewöhnliche , kriminelle Gewalttäter, die Hitler zu liquidiereren gedachten? - Waren auch sie Terroristen? Oder etwa die unterdrückten, gejagten, gefolterten Kurden in der Türkei und im Norden Iraks - Freiheitskämpfer oder auch sie Terroristen? Grobschlächtig , unachtsam - gedankenverloren dümpeln vorherrschende Definitionen im neuen Jahrtausend vor sich hin. Klärungsbedarf.
SLUMS, HUNGER, ANALPHABETEN
Jedenfalls sah Algeriens erster Präsident Ahmed Ben Bella (1962-1965) in Frantz Fanon nicht nur einen "Kampfgefährten", sondern einen Führer, der durch sein "geistiges und politisches Testament" die algerische Revolution sicherte. Seinerzeit wurde in der Dritte Welt auch vom Fanontismus geredet; in Entwicklungsländern , in denen mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung lebt, die doppelt so schnell wächst wie beispielsweise Europa. Diese als Buch gebündelte Druckerschwärze gilt als Weltanschauung in jenen Nationen, in denen 30 bis 40 Prozent der Stadtbewohner in Slums hausen, zwanzig Prozent der Arbeitswilligen keinen Job finden - mitunter 85 Prozent der Menschen Analphabeten sind - sage und schreibe über 25 Millionen Kinder, Männer und Frauen an direkten wie indirekten Folgen des Hungers sterben.
MENSCH IN DER REVOLTE
Es waren die frühen Jahre des Algier-Franzosen Albert Camus (*1913+1960). Er hatte bereits seine erste Essay-Sammlung "L'Homme révolté" (Der Mensch in der Revolte) (1947-1951) veröffentlicht. Nur Albert Camus wollte sich mit seiner schwer erkämpften Rolle als Romancier in Literaten-Salons bürgerlicher Zaunengäste kaum begnügen. Ein sozusagen "linker Pazifist", das war er, ein Schreiber, der sich einmischte. So versuchte Camus als Journalist gleichsam aktuell Einfluss zu nehmen, geißelte Härte wie Unnachgiebigkeit der Kolonialherren unter der Trikolore. Nur seine Vermittlungsversuche verhallten in dieser fanatisch aufgeladenen Vorkriegsperiode. Das Camus- Plädoyer einer bürgerrechtlichen Gleichstellung der arabes war den meisten Franzosen verpönt, zu radikal. - Berührungsängste. Von Tuberkulose gezeichnet schrieb Albert Camus 1957 einen Sammelband von meist in Nordafrika spielenden Erzählungen - Resignation und wohlbedachte Reminiszensen an Algerien - "L'Exil et le Royaume" (Das Exil und das Reich). - Algerien ein Land, das er liebte. Im Januar 1960 kam Albert Camus bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben. - Unterdessen musste Algerien noch zwei Jahre für seine Unabhängigkeit kämpfen.
CHE GUEVARA IN ALGIER
Der revolutionäre Marxist und südamerikanische Guerillaführer Ernesto Che Guevara (*1928+1967) wies der algerischen Politik ihre Richtung, als er auf der 2. afro-asiatischen Wirtschaftskonferenz im Februar 1965 in Algier erklärte: "Möge das großartige algerische Volk, das wie kaum ein anderes ausgebildet ist in den Leiden für die Unabhängigkeit, unter der entschlossenen Führung seiner Partei mit unserem lieben Genossen Ahmed Ben Bella an der Spitze, uns zur Inspiration dienen in diesem erbarmungslosen Kampf geenden weltweiten Imperialismus."
GENERATION DES "TOTSCHLAGS"
Ob Befreiungskämpfe politisch wie moralisch legitim sind, ist nicht Gegenstand dieses Berichts. Bekanntlich waren es lateinamerikanische Priester und Freiheitskämpfer wie in Bolivien der katholische Theologe Camilo Torres (*1929+1966) oder in Brasilien Hunderte von Priestern bis hin zu dem legendären Che Guevara - allesamt waren dereinst zutiefst davon überzeugt, nur mit Waffengewalt eine sozial gerechtere Gesellschaft - einen Sozialismus mit menschlichen Antlitz - aufbauen zu können. Ihr Parole: "Auch Jesus hätte zur Kalaschnikow gegriffen." Zumindest schien in jenen Jahren der algerische Befreiungskampf den südamerikanischen Guerillos Mut zu machen, auf ihrem Kontinent sich mit Granaten an die Macht zu bomben. Es war Che Guevara, der den Begreifungskampf Algeriens als "vorbildlich" hinstellte. In dem Buch "L'an V de la Révolution Algerienne" (Das fünfte Jahr der algerischen Revolution) weist Frantz Fanon daraufhin, "dass die menschliche Hinterlassenschaft Frankreichs in Algerien eine ganze Generation von Algerien sein wird, die vom willkürlichen und kollektiven Totschlag mit allein seinen psychoaffektiven Nachwirkungen geprägt ist."
SCHLACHTFELD GERÄUMT
Nach 132 Jahren Herrschaft und acht Jahren Krieg räumten die Kolonialherren im Jahr 1962 ihr verwüstetes Schlachtfeld - eine Millionen Europäer , vor allem Franzosen, Spanier und Italiener, hatten über Jahrzehnte Rohstoffe wie Bodenschätze des Landes ausgebeutet - zurück blieb ein malträtiertes Volk. - Ein Volk, das 1.695.000 Menschen verloren hatte. Ein Volk der Algerier, das zu 85 Prozent aus Analphabeten bestand - bitter verarmt in primitiven Hütten lebend. Für diese "Verdammten dieser Erde" gab es weder Industrie noch eine auf Produktivität ausgerichtete Landwirtschaft; einfach nichts - zum Leben zu wenig und doch zum Sterben zu viel. Bezeichnend dafür war, dass beispielsweise im Jahre 1962 an der Universität Algier 890 Franzosen, aber nur 60 Algerier studieren durften.
ROHSTOFFE RAUSHOLEN
Das einzige, was Algerien besaß, das waren für die westliche Welt nahezu unerschöpfliche Rohstoff-Vorkommen. Die Ölreserven werden auf 11,8 Milliarden Barrel und die Gasreserven auf 4,5 Billionen Kubikmeter geschätzt. In Algerien liegen die drittgrößten Erdölverkommen Afrikas. Trotz dieser üppigen Wohlstands-Reserven will es dem Land nicht gelingen, die enorme Auswanderungsquote zu stoppen. Etwa 2,3 Millionen Algerier leben auf der Suche nach einem Job im Ausland; vornehmlich in Frankreich - 1,5 Millionen. Immerhin waren im Jahre 2003 26 Prozent der Jugendlichen des 32 Millionen Volkes in Algerien Beschäftigung. - Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht.
POSTULAT UND WIRKLICHKEIT
Die 1996 in Kraft gesetzte Verfassung ist ein überarbeiteter Aufguss aus dem Jahre 1963. Aus einer volksdemokratischen Republik (1963) wurde eine Präsidialrepbublik. Dreh und Angelpunkt der algerischen Macht ist danach der Staatspräsident (Abd al-Asis Bouteflika seit 1999 ) in diesem Präsidialregime, das sich auf eine Ein-Parteienherrschaft stützt. Dem Präsidenten der Republik ist als Staatschef die vollziehende Gewalt im vollen Umfang übertragen. Er bestimmt und leitet die Innen- und Außenpolitik, ist Oberfehlshaber der Streitkräfte, ernennt Minister wie Beamter nach seinem Gutdünken - verkündet Gesetze. Offiziell zumindest. Nach Ansicht des Algieren-Experten Werner Ruf, emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität Marburg, regiert in Algerien "noch das Militär". Der Parlamentarismus sei Fassade. "Dahinter herrscht eine undurchsichtige Clique an der Spitze des Militärs. Das sind Leute, die sich bereichern. Die Korruption ist gewaltig", urteilt Werner Ruf.
REICH UND HOCH VERSCHULDET
Seit seiner Unabhängigkeit begleiten Algerien enorme Schulden - Auslandskredite. Paradoxien des Landes: Obwohl erstmals im Jahre 1963 die Einkommens- und Körperschaftssteuern erhöht wurden, decken diese Staatseinahmen nur rund 30 Prozent der notwendigen Ausgaben ab. Neue Abhängigkeiten: Die Kolonialherren gingen, internationnale Bank-Konsortien zogen ein - sie finanzierten zu Beginn der "Souveränität" zwei Drittel des Staatshaushaltes (2008: 27 Milliarden Dollar Auslandsschulden.
NICHTS OHNE WAFFEN
Als Algerien von Frankreich unabhängig wurde, bestand seine Armee etwa aus 60.000 Soldaten; vornehmlich rekrutiert aus der Befreiungsfront. Die Gesamtstärke der Streitkräfte, die als best funktionierende Organisation des Landes gilt, betrug laut BICC-Informationsdienst aus den Jahre 2007:
0 137.500 Aktive, einschließlich ca. 75.000 Wehrpflichtige;zusätzlich 150.000 Reservisten;
0 Paramilitärische Einheiten: ca. 181.200
0 Davon Gendarmie (dem Verteidigungsministerium zugeordnet): 20.000
0 Nationale Sicherheitskräfte (Direktorat für Nationale Sicherheit): 16.000
ZEHN JAHRE BÜRGERKRIEG
Mehr als zehn Jahre neuerlichen Bürgerkriegs mit der offiziell verbotenen, extremistischen "Islamischen Heilsfront" (1992-2002) haben zu einer durchgängigen Militarisierung der gesamten Gesellschaft beigetragen. Weit über 100.000 Menschen fanden abermals den Tod. Gegen die so genannten Radikal-Islamisten agierten vielerorts die modern bewaffneten "Patrioten" überall abrufbar, überall einsetzbar - von niemanden zu stoppen, auf eigene Faust unterwegs. Guerilla-Kampf. Straßenkampf. Das waren etwa 500.000 Milizen, die landesweit mit ihren automatischen Schnellfeuerwaffen auf Islamisten zielten. Aufrüstung nach innen - Aufrüstung nach außen. Überdies wird Algerien seit Bestehen des Staates mit sowjetischen Waffen aufgemöbelt, Luftwaffe und Marine fortwährend modernisiert. Seit 2005 liefert Russland unter anderem 300 Kampfpanzer T-90, an die 40 Luftüberlegenheitsjäger, 28 Mehrzweckjäger, drei Fregatten der Koni-Klasse, zwei U-Boote der Kilo-Klasse und noch vieles, vieles mehr an Kriegswaffen. Kriegstechnologie, Kriegsmaschinerie führen ein von der Öffentlichkeit abgeschirmtes Eigenleben - ein Staat im Staate Algerien. Immerhin gab dieses nordafrikanische Land allein im Jahre 2006 für Waffen aus Russland 7,5 Milliarden Dollar aus. Verständlich, dass 15 Prozent der algerische Staatsetat für derlei Hochrüstungsprojekte verschlingt. Laut Weltbank betrugen die gesamten algerischen Rüstungsimporte im Jahre 2004 insgsamt 282 Millionen US-Dollar.
ANALPHABETEN UND KEIN DURCHBRUCH
Unter den Franzosen litt Algerien darunter, dass sein Schulsystem einseitig auf die Belange der Kolonial-Bevölkerung ausgerichtet war; kamen 40 Prozent der Volksschulkinder und 80 Prozent der Gymnasiasten aus ihren Reihen. Nach der Unabhängigkeit fehlte es an Lehrern, Schulen und vor allem an Geld. Erst 17 Jahre nach dem Befreiungskrieg wurde die allgemeine Schulpflicht (1976) über neun Schuljahre eingeführt. Und das zu einer Zeit, in der die Analphabetenquote noch um die 80 Prozent betrug. Sie macht mittlerweile bei Männer "nur noch" 22 Prozent und bei Frauen immerhin ganze 40 Prozent aus. Fortschritte. Aber gleichfalls zu einer Zeit, in der Kinderarbeit als kalkulierter Wirtschaftsfaktor das Bruttosozialprodukt erhöht.
MIT KINDERARBEIT AUF WELTMÄRKTEN
In der berühmtem Teppich-Industrie arbeiten Kinder im Alter zwischen 1o und 14 Jahren für zwei bis drei Mark pro Stunde. Im Bildungsministerium erklären mir Beamte als Rechtfertigung: Man wüsste sonst nichts mit ihnen anzufangen. Es seien junge Menschen, die "nicht in der Lage sind, eine Schule zu besuchen", verlautbart ihre Ausrede beschwichtigend. Fest steht hingegen zweifelsfrei, dass die algerischen Fabriken der harten Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht annähernd gewachsen wären, wenn sie nicht ihre jungen Arbeitskolonnen mit "Apfel und Ei" abspeisten, sondern menschenwürdige Löhne zahlten. Nach UNICEF-Erhebungen aus dem Jahre 2008 sind Algeriens Kinder in Fabriken, in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in Autowerkstätten, als Straßenverkäufer - und im Kinderhandel im Einsatz - 600.000 zwischen 7-17 Jahren alt. Kinder, die für ihr Überleben und das ihrer Familien malochen müssen - Tag für Tag, wo Schulen fern sind und der Arbeitstag keine acht Stunden zählt. - Kinderarbeit im Jahr Zweitausend.
ALTLINKE KRITIK - WIEDER HOCH AKTUELL
Kritiker westlicher Entwickungshilfe in den sechziger Jahren führten Armut und Analphabeten-Dasein auf eine neue Form des Kolonialismus zurück. Ursache wie Auslöser für diese Dritte-Welt-Misere waren immer wieder mangelnde Effektivität von Wirtschaftsabläufen der Dritten Welt auf den internationalen Märkten. Und hinter dem Terminus "mangelnde Effektivität" verbarg sich ein altes Manko unter neuem Namen - nunmehr keine Ausbeutung für eine fremde Nation, sondern Abschöpfung der Werte im Namen des weltweit gewebten Kapitals. Ursache für den Kapitalexport war schon den sechziger Jahren ein Absinken der durchschnittlichen Profitraten in den hochindustrialisierten Mutterländern. Koloniale Extraprofite waren gefragter denn je.
IM TIEFEN FRIEDEN DER WÜSTE
Wochen um Wochen war ich als mit jungen Leuten in Algerien unterwegs - von Algier nach Oran, von Sidi bel Abbès nach Constantine, durch Wüsten, Steppen, Stein- und Felssteppen vorbei an Oasen, hinein in entlegene winzige , scheinbar ganz vergessenen Orten bis hin nach Tindouf in der östlich gelegenen Sahara, wo annähernd 45.000 Menschen ihr Dasein eingerichtet haben. Eigenartig gerade hier in Tindouf, wo auch die Exilregierung der nach Unabhängigkeit strebenden Demokratischen Arabischen Republik Sahara ihren Sitz hat, diesem Gott verlassenen Tindouf fühlte ich mich an Isabelle Eberhardt Testpassage erinnert. Sie schrieb: "Der Tag brach im unendlich zarten, über die Dünen gleitenden Licht der Morgenröte an. Die Luft ist noch rein und klar, in den Oasen flüstert eine frische Brise sanft im dichten, störrischen Blätterwerk der Palmen. Der einzigartige Zauber dieser unvergesslichen Augenblicke inmitten des tiefen Friedens der Wüste lässt sich nicht in Worte fassen. Wer nie in der Wüste erwacht ist, hat keine Ahnung davon vn der unvergleichlichen irdischen Schönheit der frühen Morgenstunden ...".
REVOLUTIONÄRE - PRIVILIGIERTE SCHICHT
"Wir müssen einen neuen Menschen auf die Beine stellen", schrieb der Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon als Hinterlassenschaft für seine algerischen Weggefährten, ehe er ein Jahr vor der Befreiung Algeriens in Washington an Krebs starb. Nur wie und mit wem? Ich traf auf einst junge Revolutionäre, die im Nu ihre Panzerspähwagen mit blankgewienerten Staatskarossen inklusive Fahrer vertauschten. Genugtuung vieler Orten. Junge Menschen, die vom Umbruch träumten, redeten - sich aber zugleich in feudalen Villen, mit Stuck verkleideten Decken, Kamin, Parkett, drei Meter hohen Fensterfassaden als "neue Herren" einrichteten; mit einem untertänigen Dienstpersonal, für das ein Fingerschnipsen als Kommando einer Bestellung ausreichte. Beinahe so, als sei der Wiederholungszwang eine ausweglose Gesetzmäßigkeit. Eine Jugend, die nach außen hin kein eigenes Erleben, keine eigene Wahrnehmung, keine Generationskonflikte benennen durfte - nur jene Litaneien, stereotypen Floskeln ihrer scheinbar übergroßen Väter von sich zu geben verstand.
VILLENLEBEN IN BITTERER ARMUT
Hamid, ein sympathisch-offener Typ von mal gerade 22 Jahren, hat in Algier seine Eltern verloren, die Parteijugend wurde zu seiner Heimstatt - Ersatz-Heimat. Er hatte gerade in der Villa seiner FLN-Garde ein Glas Rouge in den Konferenzsaal serviert bekommen, da verkündet er maßstabsgetreu: "Die Erfahrung der Revolution hat gezeigt, dass es nur eine Partei geben darf, um eine geschlossene Masse herzustellen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten kann es gar nicht geben, weil es das oberste Ziel ist, die Revolution auf wirtschaftlicher und bildungspolitischer Ebene zu verwirklichen", sagte er, hat Hamid verkündet. Punktum. Die Revolution hat Algeriens Kinder in Villen und Supermärkten entlassen. Der Weg in den Pfründestaat als Selbstbedienungsladen politischer Klassen war vorgezeichnet. Die Chance, die Frantz Fanon in diesem neuen Algerien sah, aus den Fehlern Europas zu lernen, verhallten im Wüstensand.
FEINDBILD BESIEGT - WAS NUN?
Was gilt es aber zu tun, wenn ein jahrelang verinnerlichtes Feindbild - das der Franzosen - plötzlich nicht mehr existiert. Löcher entstehen, Argumentationsdefizite, die über Jahre lieb gewonnene intakte Sozialpsychologie ganzer Gruppen geraten ins Rutschen. Böte sich da nicht der verhasste Staat Israel an; das Land der Juden als Passepartout jedwedder Unzulänglichkeiten. Keiner konnte damals ahnen, dass dieses von Unterdrückung, Kriege, Folter und Armut durchtränkte Algerien ein noch weitaus größeres brutalerer Schlacht bevorstünde - eben eines der dreckigsten Kriege zwischen "Islamisten" und "Sicherheitskräften", in dem über 200.000 Menschen verreckten. Die britische Zeitung "The Independent" berichtete: "Aber in den letzten fünf Jahren sind zunehmend mehr Beweise aufgetaucht, dass Teile dieser selben (staatlichen) Sicherheitskräfte in einige der blutigsten Massaker involviert waren, mit eingeschlossen dem Halsaufschneiden von Babis. 'The Independent' hat sehr detaillierte Berichte über die algerische Polizeifolter und die außergerichtliche Exukution von Frauen und von Männern veröffentlicht. Und doch hat die USA, als Teil dieses obszönen 'Krieg gegen den Terrorismus', sich mit dem algerischen Regime angefreundet ...". Längst war unter dem Oberbegriff Terrorismus Folter weltweit gesellschaftfähig geworden. - Absurde Jahre.
WIRTSCHAFTLICHER NIEDERGANG
Es war aber erst der wirtschaftliche Niedergang Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, der das Machtmonopol der Einheitspartei FLN dezemierte. Schwere Unruhen überzogen Staat und Machtapparat. Ursachen waren in alltäglicher Korruption herrschender Schichten, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot , Verelendung, und einer Hoffnungslosigkeit im Hier und Jetzt junger Generationen zu suchen. Zögerlich wurde halbherzig eine Demokratisierung eingeleitet. Mit einer neuen Verfassung galt es die Trennung von Partei und Staat zu verankern, politische Freiheiten wie Garantien der Menschenrechte mit Pathos zu verkünden; Jahre zu spät, verschenkte, vertane Jahre. Es waren längst die Stunden der Extremisten angebrochen - allen voran die der Extremisten - der islamischen Heilsfront (Front islamique du salut/FIS). Sie rief zum bewaffneten Kampf und wurde 1992 verboten. In Algier herrrscht seit dem Jahre 2001 ein allgemeines Demonstrationsverbot.
GUERILLAKRIEG UND VERSÖHNUNG
Bombenanschläge, Bombenexplosionen hatten eine Eigendynamik entwickelt - Jahr für Jahr. Sprengsätze um 1988, Sprengsätze um 2007 am 11. Dezember auf das Gebäude der Flüchtlingsorganisation UNHCR im Stadtteil Hydra und in der Nähe des Obersten Gerichtshofs im benachbarten Stadtteil Ben Akoun. Wieder starben 26 Menschen, wieder bekannte sich die "al-Qaida des Islamischen Maghreb" zum Terror dieser Ära.
PATHOS UND MAKULATUR
Bei den Präsidentschaftswahlen am 8. April 2004 wurde Staatspräsident Abd al-Aziz Bouteflika (seit 1999 im Amt) mit 83 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Er wollte und will immer noch mit seiner Vorlage einer "Charta für Frieden und nationale Versöhnung" ein Land befrieden. Offenbar aussichtslos. amnesty international in London analysierte, kritisierte: "Sie (die Versöhnungspolitik ) verneint jede Verantwortung der Sicherheitkräfte und der Milizen für schwere Menschenrechtsverletzungen. Kritik an den Sicherheitsorganen stellt sie unter Strafe. Die Verordnung, mit der sie umgesetzt wird, verhindert eine gerichtliche Untersuchung und Aufklärung des Schicksals Tausender im Verlauf des Bürgerkriegs "verschwundener Personen". Klagen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte müssen von den Gerichten abgewiesen werden." - Makulatur. Vertane Chancen in einem Land voller zerhackter Seele.
PRINZIP HOFFNUNG
Als ich Algerien im Jahr 1970 verlies, las ich auf meinem Rückflug nach Paris im Buch "Prinzip Hoffnung" des Philosophen Ernst Bloch (*1885+1977). Darin sagt Bloch "radikal zu sein, bedeutet das Übel an der Wurzel zu packen. Er fährt fort: "Es gibt keinen Sozialismus ohne Demokratie und keine Demokratie ohne Sozialismus." - Das gilt für Algerien, diese geschundene Nation, allemal.
















Keine Kommentare: